Center for Advanced Studies - News & Events - „Ungewissheit ist der Motor unserer Intelligenz“
„Ungewissheit ist der Motor unserer Intelligenz“
Gerd Gigerenzer, Psychologe und Verhaltensforscher zu Gast bei vigilius sensus – Diskussionsrunde über Risiken und wie wir ihnen begegnen sollten
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Um Risikokompetenz für die Welt von morgen zu schaffen, werden zwei Faktoren entscheidend sein: nämlich, ob wir es schaffen, eine positive Fehlerkultur zu etablieren und weniger defensive Entscheidungen zu treffen. Mit Gerd Gigerenzer, Psychologe, Leiter des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam und Vize-Präsident des European Research Council, konnte der führende Experte auf dem Gebiet nach Südtirol geholt werden – genauer gesagt auf das Vigiljoch. Den Rahmen dazu bot vigilius sensus, eine Veranstaltungsreihe des vigilius mountain resorts in Zusammenarbeit mit dem Center for Advanced Studies von Eurac Research.
Gerd Gigerenzer ist ein begnadeter Erklärer. Seine Aussagen untermauerte der langjährige Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mit zahlreichen Beispielen. Etwa, dass sich ein Truthahn vor Thanksgiving besser nicht auf die Statistik verlassen sollte (Truthahn-Illusion), oder ein Hund das Stöckchen ja doch fange, auch wenn er die Flugbahn nicht berechnen könne (Blickheuristik). Durchaus gebe es berechenbare Risiken, doch in Zeiten der Ungewissheit sei weniger die Statistik als vielmehr die Heuristik erfolgreicher - also Methoden, die mit begrenztem Wissen und wenig Zeit dennoch zu funktionierenden Lösungen führen. Auch brauche es eine gute Intuition, um Risiken zu begegnen. „Intuitive Entscheidungen sind dabei klar von willkürlichen zu unterscheiden“, betonte Gigerenzer. „Intuition setzt ein hohes Maß an Erfahrung voraus. Man spürt, was man tun soll, man kann es aber selbst nicht erklären.“ Nun seien in großen Unternehmen aber immer weniger Führungskräfte bereit, Verantwortung zu übernehmen. Resultat sei die Flucht in defensive Entscheidungen. Anstatt der mutigen Variante A und aus Angst vor möglichen Fehlern werde die risikoärmere Variante B gewählt, um sich zu schützen. Das mag zwar sicherer für die jeweilige Person sein, sei aber schlecht für die Innovation im Unternehmen. „Ungewissheit ist der Motor unserer Intelligenz. Ohne sie gäbe es kein Vertrauen, keine Enttäuschungen, keine Hoffnungen.“
Es brauche eine positive Fehlerkultur. In diesem Zusammenhang teilte Gigerenzer eine erfreuliche Meldung für Menschen mit Flugangst: An kaum einem Ort herrsche eine so positive Fehlerkultur und damit auch Sicherheit, wie in der Luftfahrt. Dass das so ist, habe auch mit Hierarchien zu tun. „In einem Flugzeug hat jedes Crewmitglied den gleichen Wert, egal in welcher beruflichen Position sich die Personen befinden und wie viel Erfahrung sie bereits mitbringen. Hat auch nur ein Crewmitglied Sicherheitsbedenken, so hebt das Flugzeug nicht ab“, erklärte Gigerenzer und zog einen Vergleich zum Gesundheitsbereich. Dort stünden die Hierarchien einer positiven Fehlerkultur oft im Weg. Man müsse sich nur überlegen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass eine Oberärztin oder ein Oberarzt auf die Bedenken einer Pflegekraft eingehe. Auf den Punkt brachte es eine Anekdote eines Gesprächs zweier CEOs aus der Sanität und der Lufthansa. Hätte man in letzterem Bereich eine Fehlerkultur wie in der Medizin, würden täglich zwei Flugzeuge vom Himmel fallen. Auch träfen besonders viele Ärzte defensive Entscheidungen. „Sie schlagen nicht die beste Lösung für die Patienten vor, sondern jene Lösung, bei der auch sie selbst auf der sicheren Seite stehen.“ Um eine positive Fehlerkultur zu etablieren, müsse man ganz oben beginnen, diese vorzuleben. Gute Führungskräfte verstünden es außerdem, bewusst einen sogenannten Contrarian ins Team zu holen, eine Person, die den Mut hat, zu widersprechen und auf Fehler und Bedenken hinzuweisen. Frauen seien in diesem Bereich besonders stark.
Diskussionsrunde mit Persönlichkeiten unterschiedlichster Kompetenzbereiche
Besonders geglückt war die Zusammensetzung des Podiumsgesprächs im Anschluss an den Hauptvortrag. Neben Gerd Gigerenzer holte Moderator Harald Pechlaner, Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research, die Physikerin und Direktorin des Dienstes für medizinische Strahlenphysik des Südtiroler Sanitätsbetriebes Nadia Oberhofer, den Psychologen und Bergführer Pauli Trenkwalder, die Geschäftsführerin des Südtiroler Business Angel Netzwerks Eva Ogriseg sowie Dr. Schär-Präsident und Unternehmer Ulrich Ladurner auf die Bühne. Auch in dieser Runde war die Risikokompetenz im Gesundheitsbereich ein zentrales Thema.
Das gesellschaftliche Risikoempfinden unterscheide sich mitunter stark vom tatsächlichen Risiko, betonte Nadia Oberhofer. Dadurch stünden Politik und Entscheidungstragende oftmals unter starkem Druck, teure Sofortmaßnahmen zu veranlassen und damit Ressourcen für anderen wichtige Bereiche wie z. B. Prävention zu reduzieren. Schockereignisse mit z. T. auch nur wenigen Todesfällen (etwa die Rinderseuche BSE im Jahr 2000) erhielten weit mehr Aufmerksamkeit als langfristige Problematiken. Man denke etwa daran, dass in Italien jährlich über 93.000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen des Rauchens sterben. Die Todesrate durch Lungentumor könne mit einer erfolgreichen Raucherprävention erheblich gesenkt werden. „Was das Risikomanagement betrifft, so wird im öffentlichen Gesundheitssystem viel für die Entwicklung einer internen positiven Fehlerkultur investiert. Nach außen steht am Ende allerdings oft der Rechnungshof. Defensive Entscheidungen werden vermehrt getroffen, wenn Führungskräfte auch persönlich zur Rechenschaft gezogen werden können“, bedauerte die Medizinphysikerin.
Ein etwas verklärtes Risikoempfinden nimmt Pauli Trenkwalder bei seiner Arbeit wahr. „Viele haben heute vergessen, dass man in den Bergen umkommen kann“, stellte der Bergführer fest. „Was alle Menschen, die ich in die Berge begleite, gemeinsam haben, ist der Wunsch nach Sicherheit und Kontrolle. Als Bergführer bediene ich dieses Grundbedürfnis, kann aber keine Sicherheit verkaufen. Was ich geben kann, sind Antworten.“ Auch die Wahrnehmung, dass man in den Bergen besonders frei sei, sieht Trenkwalder kritisch. Die Berge sind kein rechtsfreier Raum. Wer dort unterwegs sei, trage Verantwortung und müsse sich dessen auch bewusst sein. Er ist außerdem überzeugt, dass man eher aus Fehlern anderer als aus eigenen lerne. Auch aus diesem Grund gibt er Kursteilnehmenden in der Bergführerausbildung gern seine eigenen Fehler als Fallbeispiele zur Diskussion. Wer in einem Start-up tätig ist oder in ein solches investiert, kommt ohne positive Fehlerkultur nicht weit. „Die USA sind ein Paradebeispiel für dieses positive Mindset, weshalb die Szene dort auch so groß werden konnte“, stellte Eva Ogriseg fest. Sich nur graduell zu verbessern, sei dort zu wenig. In den USA gehe es darum, die Welt zu verändern. Dieser Optimismus und die Ambitionen münden in eine hohe Risikofreude, die in Europa so noch nicht denkbar sei. Trotzdem müssten sich europäische Unternehmen nicht verstecken, unterstrich Ulrich Ladurner. „Was ich in den USA etwa vermisse, ist der Hausverstand, aber auch die Qualitätsstandards, die sich hierzulande auf einem ganz anderen Niveau bewegen. Harald Pechlaner fasste abschließend treffend zusammen: „Risikokompetenz ist Chancenkompetenz“.
Über vigilius sensus
vigilius sensus ist eine Veranstaltungsreihe des vigilius mountain resorts mit Ideator Ulrich Ladurner. Wissenschaftlich und inhaltlich unterstützt wird das Format von Harald Pechlaner, Leiter des Center for Advanced Studies und Michael de Rachewiltz, Philosoph am Center for Advanced Studies von Eurac Research. Die Veranstaltung versteht sich als Plattform, um zukunftsrelevante Fragestellungen zu diskutieren und diese in den regionalen und globalen Kontext zu stellen. Die besonderen Atmosphäre des vigilius mountain resorts auf 1500 Höhenmetern macht es möglich, wichtige gesellschaftliche Themen aus einer bestimmten Distanz zu betrachten.
Vergangene Veranstaltungen
vigilius sensus 2022
Sensibilität - Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren
Mit: Svenja Flaßpöhler, Harald Pechlaner, Magdalena Messner, Manuela Kerer, Hannes Obermair, Siglinde Doblander und Ulrich Ladurner
Nachbericht und Video