Die Region als Gemeingut
Warum Transformation im Sinne der Nachhaltigkeit eine Notwendigkeit und eine Chance ist.
Wenn wir an nachhaltige Entwicklung denken, dann orientieren wir uns oft am institutionalisierten Diskurs, der im Rahmen der Vereinten Nationen geführt wird. Dieser Diskurs drückt sich in einer Reihe von Dokumenten aus. Relativ bekannt sind der Brundtland-Bericht von 1987, die Agenda 21, die 1992 in Rio de Janeiro verabschiedet wurde, sowie die 17 Ziele der nachhaltigen Entwicklung. Natürlich ist es zu begrüßen, wenn sich die Regierungen der Welt mit Umwelt, Klima und Gerechtigkeit auseinandersetzen. Trotzdem verdienen einige Aspekte eine kritische Betrachtung.
Erstens zeichnet sich das institutionelle Verständnis von Nachhaltigkeit durch eine soziale Blindheit aus. Natürlich wird das Problem der Armut erkannt. Natürlich ist das explizite Ziel eine Überwindung der Armut. Was verschleiert wird, ist der Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum. Denn wie kann man die Benachteiligung überwinden, wenn man nicht bereit ist, Privilegien infrage zu stellen? Nachhaltige Entwicklung ist einerseits ein von oben nach unten verlaufender Prozess, andererseits halten sich die unterzeichnenden Institutionen selbst nicht unbedingt an die festgelegten Ziele.
Zweitens wird das Thema Nachhaltigkeit oft an ein bestimmtes Ressort (etwa das Umweltministerium) angebunden, während alle anderen ihr „business as usual“ fortführen. Nachhaltigkeit findet sozusagen parallel zur dominanten nicht nachhaltigen Entwicklung statt, ohne das Alltagsgeschäft ganz grundsätzlich infrage zu stellen.
Warum meinen wir, immer weiterwachsen zu müssen, wenn wir auch gerecht umverteilen und mehr miteinander teilen könnten?
Davide Brocchi
Drittens werden in diesem Diskurs teilweise Modelle, Strategien und Instrumente neu legitimiert, die überhaupt erst zur globalen Krise geführt haben. Oft wird Nachhaltigkeit auf eine Frage der Innovation reduziert, doch der „Fortschritt“ ist auch Ursache dessen, womit wir heute kämpfen. So fokussiert sich die Debatte auch in Bezug auf den Klimaschutz meist auf ein „Mehr“: mehr Investitionen, mehr Windräder, mehr Elektroautos. Über die Reduktion des Stromverbrauchs, des Autoverkehrs oder des Massenkonsums wird hingegen wenig gesprochen. Warum meinen wir, immer weiterwachsen zu müssen, wenn wir auch gerecht umverteilen und mehr miteinander teilen könnten?
Diese Punkte mögen vielleicht erklären, warum seit fünf Jahrzehnten von Nachhaltigkeit die Rede ist, aber politische Versprechen und tatsächliche Entwicklung immer weiter auseinanderklaffen. Wie Albert Einstein schon sagte: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
In den 1980ern legitimierte Margaret Thatcher ihre neoliberale Politik lediglich mit dem Satz „There is no alternative“. Diesem Beispiel folgten später leider viele andere Politikerinnen und Politiker. Nachhaltigkeit sollte als Gegenentwurf zur Politik der künstlichen Alternativlosigkeit verstanden werden. Sie ist ein Dachbegriff für Visionen einer anderen Entwicklung jenseits von Fortschrittsmythos und Wachstumszwang.
Was eine Region resilienter macht
Nachhaltigkeit ist eine Notwendigkeit, wenn es um die Frage des Umgangs mit Krisen geht. Nachhaltigkeit steht dabei für Widerstandfähigkeit und Krisenresistenz, in einem Wort: für Resilienz. Resilienz ist ein Begriff, der zunächst in Medizin und Psychologie verwendet wurde. So stellte man etwa fest, dass Individuen ganz unterschiedlich auf die gleiche Krankheit reagieren. Was für die einen zu schweren Verläufen führt, kann bei anderen die Abwehrmechanismen stärken. So ähnlich funktioniert Resilienz in sozialen Systemen. Wie kann eine Region also resilienter werden?
In der Ökologie gelten Monokulturen als besonders anfällig für Krisen. Selbiges Phänomen zeigt sich auch bei ökonomischen und geistigen Monokulturen. Vielfalt hingegen ist das Fundament der Resilienz von Ökosystemen, genauso wie von sozialen Systemen. Insofern ist eine plurale Ökonomik resilienter als eine globalisierte Marktwirtschaft. Um weitere Faktoren zu benennen, die die Resilienz von Regionen und Gemeinden stärken, möchte ich mich auf zwei Beispiele konzentrieren, nämlich auf die unterschiedlichen Reaktionen Griechenlands und Islands auf die Finanzkrise 2008. Island wurde davon viel härter getroffen als Griechenland. Im Gegensatz zu Griechenland floss jedoch kein Steuerkapital in die Banken. Eine Bankenrettung hätte den sicheren Bankrott bedeutet. Nur wenige Jahre später stand der Inselstaat dennoch viel besser da als viele andere. Woran liegt das?
• Es ist leichter, Probleme in kleinen sozialräumlichen Einheiten zu lösen: Island hat 400.000 Einwohner, Griechenland 11 Millionen. Für die Nachhaltigkeit brauchen wir eine Orientierung am menschlichen Maß, zum Beispiel eine Dezentralisierung statt Zentralisierung in der Governance. In der Schweiz sind die Institutionen, die den Bürgerinnen und Bürgern näherstehen (die Ortsteile, die Kantonen) gleichzeitig die stärksten in der administrativen Hierarchie. Bürgerinnen und Bürger zahlen ihre Steuern den lokalen Institutionen, nicht dem Staat. Diese Autonomie macht die Gemeinden beweglicher in ihrer Reaktion auf Probleme. Das ist das Prinzip der Subsidiarität.
• Abhängigkeiten machen soziale Systeme verletzlicher – vor allem angesichts unserer hypervernetzten Märkte. So muss zum Beispiel die Autoindustrie in Deutschland die Produktion stoppen, wenn keine Chips geliefert werden. Das Gegenteil von Abhängigkeit ist Souveränität. Island etwa, hat sich der Troika und dem Willen der Finanzmärkte nicht untergeordnet, hat die Privatbanken, die sich selbst verspekuliert hatten, Bankrott gehen lassen und deren Management vor Gericht gestellt. So wurde verhindert, dass aus einer Finanzkrise eine Staatsverschuldungskrise werden konnte. Selbstentwicklung und Eigenständigkeit (self-reliance) sind unabdingbar für die nachhaltige Entwicklung von Regionen. Der Schwerpunkt der regionalen Wirtschaft sollte die Selbstversorgung sein, die durch eine Diversifizierung der Produktion ermöglicht wird. Fremdversorgung und Export sollten Ergänzung, kein Ersatz sein.
• In Griechenland gibt es stärkere soziale Ungleichheiten, was wiederum die Vulnerabilität fördert. Menschen, die Angst vor sozialer Marginalisierung haben, lassen sich nur schwer für bestimmte Belange bewegen. In Island hingegen gibt es eine starke soziale Kohäsion und damit auch mehr Resilienz. Dort, wo eine Atmosphäre des Vertrauens herrscht, fällt die Kooperation leichter. So bildete sich in Island eine breite Bewegung, um die Rettung der Privatbanken zu verhindern. Ein weiteres Beispiel einer Kultur des Miteinanderteilens ist etwa auch eine starke ÖPNV-Infrastruktur als Alternative zum privaten Autobesitz oder ein starker Sozialstaat als Gegenentwurf zu einer Privatisierung der Probleme. Wir brauchen nicht nur eine Umverteilung von oben nach unten, sondern auch eine Umverteilung vom Privatwesen zum Gemeinwesen.
• Wenn Menschen kooperieren und gemeinsame Lösungen erarbeiten, dann müssen sie in einer Demokratie auch die Möglichkeit haben, ihre Gemeinsamkeit politisch zu formalisieren. Deshalb macht eine starke Demokratie (direkte und gelebte Demokratie) soziale Systeme resilienter. Echte Bürgerbeteiligung setzt auch die Bereitschaft der Institutionen voraus, ein Stück Macht und Kontrolle abzugeben. Sie verhindert, dass Politik in einer „Wahrnehmungsblase“ stattfindet und zum Selbstzweck wird. So hat die isländische Bevölkerung ihre Regierung durch einen Volksentscheid gezwungen, die Banken nicht zu retten. Ganze 94 Prozent haben dafür gestimmt.
• In Island kam am Ende ein Pakt der Regierung mit den Bürgerinnen und Bürgern anstatt mit den Banken zum Tragen. Nachhaltigkeit braucht Public-Citizen-Partnerships (PCP) statt Public-Private-Partnerships (PPP). Auch sie gehören zu jenen neuen Allianzen, die eine Transformation zur Nachhaltigkeit benötigt.
• Schließlich sind auch kulturelle Faktoren von Bedeutung. In vielen skandinavischen Ländern gibt es eine höhere Toleranz und Offenheit für neue Lösungen, während vielerorts an bestehenden Ordnungen festgehalten wird, selbst wenn diese nicht nachhaltig sind.
Kein gutes Leben kann fremdbestimmt sein: Nachhaltigkeit bedeutet Emanzipation, weniger Verzicht.
Davide Brocchi
Was ein gutes Leben ausmacht
Bei Nachhaltigkeit geht es immer auch um die Frage nach einem guten Leben. Es gibt kein gutes Leben auf Kosten anderer - künftige Generationen inbegriffen. Wenn Massenkonsum im globalen Norden auf der Ausbeutung anderer Kontinente basiert, dann kann im Rückschluss eine Minderung unseres Überflusses die Möglichkeit auf Verbesserung der Lebensqualitäten der Menschen dort beinhalten. Kein gutes Leben kann fremdbestimmt sein: Nachhaltigkeit bedeutet deshalb eher Emanzipation als Verzicht. Eine Entwicklung kann nur dann dem Gemeinwohl dienen, wenn Bürgerinnen und Bürger politisch mitbestimmen. Es braucht starke Institutionen, welche die eigene Bevölkerung nicht Märkten und Spekulationen ausliefern, sondern zwischen den Interessen vermitteln und für einen sozialen Ausgleich sorgen, wo es Ungleichheiten gibt. Studien der Vereinten Nationen zeigen, dass für das Wohlbefinden der Bevölkerung eine soziale Grundsicherung viel wichtiger ist als die Freiheit, Privatkapital (auf Kosten anderer) zu akkumulieren.
Während im bisher dominanten Modell der Modernisierung Wohlstand mit Wirtschaftswachstum gleichgesetzt wird, steht Nachhaltigkeit für ein multidimensionales Verständnis von Wohlstand. Dabei werden Ökologie, Ökonomie, Soziales und Kultur zusammen anstatt getrennt voneinander gedacht.
Der Weg zur Transformation
Ein bisschen mehr Grün, Bio und Klimaschutz? Wer das Verhältnis zur Umwelt ändern möchte, muss die Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft ändern. Dabei sind die genannten Faktoren der Resilienz und des Wohlbefindens entscheidend. Auch Regionen wie Südtirol sollten sich mehr auf sich selbst besinnen, anstatt ständig nach außen oder nach oben zu schauen. Menschen identifizieren sich viel eher mit Prozessen, wenn sie selbst diese mitbestimmen dürfen, als mit Entscheidungen, die über ihre Köpfe hinweg getroffen werden. Da politische Institutionen in einer tiefen Legitimationskrise stecken (niedrige Wahlbeteiligung) braucht es eine Erweiterung des Demokratieverständnisses und des Demokratieraums. Wie wäre es, wenn es in jeder Nachbarschaft einen demokratischen und inklusiven, selbsteingerichteten und selbstverwalteten Raum (Agora) gäbe, in der die Anwohnerinnen und Anwohner selbst (mit)entscheiden, ob es vor Ort ein Einkaufszentrum oder mehr Einzelhandel geben soll oder ob Investorinnen und Investoren oder Baugenossenschaften Liegenschaften im Gebiet kaufen dürfen?
Institutionen müssen als Ermöglicherinnen fungieren. Sie sollen den Bürgerinnen und Bürgern dienen - nicht umgekehrt.
Davide Brocchi
Es gibt eine Alternative zwischen Staat und Markt, privat und öffentlich, nämlich Gemeingüter, die der Gemeinschaft ihrer Nutzerinnen und Nutzer gehören. Diese Form von Verwaltung ist unter bestimmten Bedingungen sogar am nachhaltigsten, wie schon die Politologin Elinor Ostrom unterstrich. Warum nicht die Region als Gemeingut betrachten bzw. zum Gemeingut machen? Dabei sind zwei Herausforderungen zentral: Zum einen die Kooperation in der Vielfalt, denn auch innerhalb einer Gemeinschaft gilt es unterschiedliche Interessen und Vorstellungen abzustimmen bzw. zu berücksichtigen. Zum anderen ist es zentral, dass Institutionen als Ermöglicherinnen fungieren. Sie sollen den Bürgerinnen und Bürgern dienen - nicht umgekehrt.
Bei beiden Herausforderungen spielen sowohl die Begegnung auf Augenhöhe als auch das Vertrauen eine zentrale Rolle: Beides kann nicht vorausgesetzt werden - man muss daran arbeiten. Moderatorinnen und Moderatoren, Brückenbauerinnen und Brückenbauer sind genauso wichtig wie Begegnungsräume, die eine persönliche Interaktion jenseits von Blasen und Komfortzonen ermöglichen. Man sollte die Transformation als individuellen und kollektiven Lernprozess verstehen und gestalten. Lokale Reallabore und Realexperimente könnten dabei einen wichtigen Beitrag leisten, um Regionen als Orte des guten Lebens zu gestalten und zu lernen, mehr miteinander zu teilen.
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