Die gute Nachricht ist: Es gibt immer mehr Frauen in der Wissenschaft. In Italien wurde zuletzt ein weiblicher Anteil von 44 Prozent Wissenschaftlerinnen verzeichnet. Das sind, wie die staatliche Nachrichtenagentur ANSA frohlockt, fast fünf von zehn. Damit liegt Italien über dem EU-Durchschnitt von 39 Prozent (ANSA 2021). Die schlechte Nachricht ist: Im hierarchiegeprägten Wissenschaftssystem lohnt es sich genauer hinzuschauen, auf welchen Stufen der Karriereleiter diese fünf unterwegs sind. Und hier ist das Fazit ernüchternd: Frauen bleiben vorwiegend im wissenschaftlichen Mittelbau hängen oder werfen in der PostDoc-Phase gleich ganz das Handtuch, nachdem sie Windeln gewechselt haben. Bei genauerer Betrachtung ist somit, was auf den ersten Blick eine gute Nachricht scheint, nur eine mittelprächtige. Selbst gut ausgebildete und qualifizierte Frauen schaffen es kaum in obere Spitzenpositionen.
Die Datenlage ist eindeutig – weiter oben wird’s eng für Frauen im Wissenschaftsbetrieb. In Italien waren im Januar 2019 in sämtlichen universitären Rollen (professore ordinario (PO), professore associato (PA), ricercatore a tempo indeterminato (RU), ricercatore a tempo determinato di tipo B (RTD-B), ricercatore a tempo determinato di tipo A (RTD-A)) insgesamt 53.995 Personen tätig. Davon waren 20.470 weiblich, also rund 38 Prozent (Nestola 2019). Während in den RTD-A Positionen noch 44 Prozent aller Stellen im wissenschaftlichen Bereich weiblich besetzt sind, sinkt der weibliche Prozentsatz im Professorenrang (PO) auf mickrige 24 Prozent (ebd.). Von Gleichstellung kann innerhalb der ehrwürdigen Mauern der italienischen Universitäten noch nicht annähernd die Rede sein. Damit steht Italien allerdings nicht alleine da. Ein ähnlich ernüchterndes Bild zeichnet sich in fast allen europäischen Staaten ab. In Deutschland kamen 2014 nur 10.062 Professorinnen auf 35.687 Professoren (Wilde 2014). Bemerkenswert dabei ist, dass „unten“ mehr Frauen starten, aber „oben“ mehr Männer ankommen: Es ist also obsolet, den Frauen die Kompetenz abzusprechen, um in der Folge die wenigen Spitzenpositionen, den Gender Pay Gap oder die schlechtere Altersrente zu erklären oder gar zu rechtfertigen; denn nach Bildungsabschlüssen müssten es zumindest in der jüngeren Generation die Männer sein, die weniger verdienen.
Inzwischen haben Frauen bildungstechnisch aufgeholt. In Italien schreiben sich mehr Frauen in universitäre Studiengänge ein und schließen diese auch ab. 2019 waren es beispielsweise 22,4 Prozent Frauen im Vergleich zu 16,8 Prozent Männer (ISTAT 2020). Es ist nicht die fehlende Expertise, sondern die diskontinuierlichen Erwerbsbiographien und die kulturellen Hintergründe, die den Frauen Chancen rauben. Allerdings sind die italienischen 24 Prozent insofern als Erfolg zu verbuchen, als im Jahr 2000 neben 13.026 männlichen PO nur 2.005 weibliche Kolleginnen (13 Prozent) in derselben Position anzutreffen waren (Nestola 2019). Das ist immerhin ein Plus von 11 Prozent in 19 Jahren und verrät eine steigende Tendenz, die zwar einerseits Grund zur Freude ist, andererseits aber bedeutet, dass wir die Gleichstellung der Geschlechter – sofern es in diesem Schneckentempo weitergeht – in den italienischen Unis erst im Jahre 2060 erreichen.
Aber nicht nur beim Betrachten der vertikalen Achse der Karriereleiter ist das Geschlecht eine maßgebliche Determinante und folgt kohärenter Weise traditionellen Geschlechterrollenbildern, sondern auch in der horizontalen Verteilung zwischen den unterschiedlichen Disziplinen. In zahlreichen Sparten der technisch-naturwissenschaftlichen MINT-Fächer (wie beispielsweise Ingenieurswissenschaften, Informatik und Physik) finden sich mehr Männer, während Frauen häufiger in den sozialwissenschaftlichen, humanistischen und pflegewissenschaftlichen Fächern anzutreffen sind (Wuhib & Dotger 2014). Warum das so ist, hat zahlreiche Gründe inklusive des weiterverbreiteten Stereotyps, dass Frauen in diesen Fächern weniger talentiert und selbstwirksam seien, und selbstredend auch der historischen Männerdomäne in diesem Bereich (ebd.). Es gibt diesbezüglich also noch Einiges zu diskutieren. Vor allem stellt sich auch die Frage: Wenn Frauen nicht in den MINT-Fächern tätig sein wollen, warum sollten sie dies unbedingt müssen?
Ebenso berechtigt ist die Frage nach der Entlohnung: Warum sind es ausgerechnet die frauendominierten Studienfächer beziehungsweise die entsprechenden Berufe, bei denen die Entlohnung deutlich schlechter ausfällt? Während MINT-Berufe häufig mit attraktiven Vergütungsmodellen, einem hohen Sozialkapital und gesellschaftlicher Wertschätzung einhergehen, schlagen sich Frauen in nicht weniger systemrelevanten Bereichen mit merklich geringerem Gehalt durch: Die „sektorielle Segregation“ – Frauen sind viel häufiger in schlechter entlohnten Care-Bereichen anzutreffen, Männer dagegen in den besser bezahlten technischen Sparten – erklärt rund 30 Prozent des Lohngefälles (European Commission 2019). Die in der Pandemie gerne beklatschten Verdienste der Sozial- und Erziehungswissenschaften, aber auch der Geisteswissenschaften finden sich nach wie vor am unteren Ende der Einkommenshierarchie (Leuze 2009). Frauentypische Fächer werden traditionell gesellschaftlich geringer geschätzt, weil sie häufiger mit der in der Privatsphäre unentgeltlich aus Zuneigung oder Verantwortung erbrachten Care- und Reproduktionsarbeit in Verbindung gebracht werden (ebd.) – und das scheint sie weniger entlohnenswert zu machen. Deswegen geht es nach Lorbeerkranz und Lode für Frauen nach wie vor abwärts: Auf dem Arbeitsmarkt sind Frauen gegenüber Männern bis dato finanziell und karrieretechnisch benachteiligt.
Neben der Fächerwahl hat das vor allem mit Mutterschaft und unbezahlter Care-Arbeit zu tun. Wie anderswo ist es in der Wissenschaft besonders die Familienarbeit, die Frauen aus dem neoliberalen Erwerbsmodell kickt. Weil zentrale Lebensentscheidungen und -ereignisse wie Familiengründung in der Regel in die Zeit der Post-Doc-Phase fallen, ist es auch genau diese Zeitspanne, in der Frauen regelmäßig aus der Wissenschaft herausfallen. Bis an diesen Punkt gelangen sie, vor eine Habilitation oder eine Professur, scheitern sie dann jedoch, weil die anhaltenden Befristungen in der Post-Doc-Phase und das damit verbundene „Wohlstandspräkariat“, die Mobilitätsanforderungen und das Vollzeitpensum kaum mit der Betreuung kleiner Kinder kompatibel sind. Das führt häufig dazu, dass Frauen selbst kündigen oder gekündigt werden, weil flexible und reduzierte Arbeitszeitmodelle kaum möglich sind und die Familienarbeit damit nicht bewältigbar ist.
Bringt es eine Frau trotzdem zu einer wissenschaftlichen Teilzeitstelle, hat sie neben einem geringeren Einkommen und einer geringeren Rente auch geringere Karrierechancen, denn Erfolg in der Wissenschaft setzt größtenteils noch immer Vollzeitpräsenz voraus. Sind die Kinder dann größer und Mama könnte wieder mehr arbeiten, ist sie inzwischen von den männlichen Kollegen locker links überholt worden. Und siehe da: Plötzlich hat sie tatsächlich weniger Qualifikationen und Kompetenzen im Vergleich zu den gleichaltrigen Konkurrenten, gemessen an Publikationen, Kongressbeiträgen und Lehraufträgen. Damit hat sie weniger Anrecht auf die besser bezahlte Spitzenposition, denn dass akademischer und privater Lebenslauf in Relation gesetzt werden, ist in der Wissenschaft noch keine gängige Praxis. Ganz im Gegenteil. Wer sich bewirbt, überlegt zweimal, ob sie die zwei Kinder angeben soll oder lieber nicht – aus Angst vor möglichen Interpretationen im Subtext durch die Arbeitgebenden. Das gilt übrigens nicht für Männer: Während Frauen potenziell die „motherhood penality“ zu spüren bekommen, fällt Männern gerne der „fatherhood bonus“ zu (Gonzáles et al. 2019). Wenngleich theoretisch gilt, dass niemand aus Gründen der Herkunft, des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung oder des Alters und selbstverständlich auch nicht wegen der familiären Situation benachteiligt werden dürfe, fehlt es innerhalb der akademischen Mauern an Anerkennung und Akzeptanz. Frauen ohne Kinder müssen sich hingegen häufig die arbeitsrechtlich unzulässige Frage anhören, ob sie denn bald eine Familie zu gründen gedenken. Der jungen Wissenschaftlerin mit Ambitionen und Kinderwunsch bleibt als einzig richtige Antwort darauf die glatte Lüge. Das klassische Dilemma Kind oder Karriere bleibt weiterhin eine unbeantwortete Frage. Freilich stellt sich die Wissenschaft auf diese Weise selbst ein Bein: Das breite Potenzial, die Expertise und Qualifikationen von zahlreichen Frauen und Müttern bleiben häufig ungenutzt.
Wie sehr das Familienleben in die Wissenschaftskarriere hineinspielt, dürfte spätestens seit der Pandemie mit den wiederholten Lockdowns von Kitas, Kindergärten und Schulen augenscheinlich geworden sein. Das Schließen von staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen sorgte im Nu dafür, dass Wissenschaftlerinnen weniger Papers einreichten. Wer im Homeoffice mit kleinem Kind sitzt, kann eben nur noch das Nötigste in den Abend- und Nachtstunden erledigen – und das betrifft vorrangig Frauen, ob Wissenschaftlerinnen oder nicht (Yildirim & Eslen-Ziya 2020). So kam es im März 2020 zu einem Rückgang von 12 Prozent, im April waren es schon 20 Prozent weniger Papers, die von Frauen eingereicht wurden (Vincent-Lamarre et al. 2020). Besonders frappant war der Drop in medRxiv, einem Dokumentenserver für Preprints aus dem Bereich Medizin und Gesundheitswissenschaften. Hier fiel die weibliche Erstautorinnenschaft von 35,9 Prozent im Dezember 2019 auf 20,2 Prozent im April 2020, die Letztautorinnenschaft von 26,1 Prozent auf 19,3 Prozent (ebd.).
Neben den sozial- und familienpolitischen Rahmenbedingungen werden auch geschlechtsassoziierte Verhaltensweisen als mögliche „unsichtbare“ Faktoren für die geringe Frauenquote in bestimmten wissenschaftlichen Positionen diskutiert. So wabert – ungeachtet aller Daten zu den eben aufgezählten strukturellen Rahmenbedingungen – auch weiterhin der Vorwurf durch die universitären Gänge, dass Frauen als Schmiedinnen des eigenen Glücks eben auch für das eigene Scheitern selbst verantwortlich seien. Wer nicht kann, will wohl einfach nicht. Dass das nicht stimmt, weil offensichtliche strukturelle Rahmenbedingungen maßgeblich mitbestimmen, ist zwar eindeutig, aber tatsächlich ist der hierarchische Wissenschaftsbetrieb mit seinen Vorurteilen und informellen Old-Boys-Netzwerken eher auf die Biographie und den Habitus von Männern – sofern man individuelle Maskulinität verallgemeinern will – zugeschnitten. Klüngeln für die Karriere ist mehr als nur eine Kleinigkeit, sondern ein zentraler Bestandteil beruflicher Erfolge. Auch wenn in academia Stellen regelhaft durch Wettbewerbe besetzt werden, haben jene einen Vertrauensvorschuss, welche über die besten Beziehungen und die stärksten Fürsprechenden verfügen. Zwar bilden und nutzen Frauen auch informelle Netzwerke, doch scheinen diese weniger effizient und mächtig zu sein als jene von Männern (Greguletz et al. 2019). Einerseits fehlen weiblichen Netzwerken oft die Alphaweibchen, die bereits in Machtpositionen sitzen und andere nach oben ziehen könnten, andererseits fördern Chefs gerne Nachwuchs, der ihnen ähnlich und sympathisch ist – also junge Männer. Neben informellen Netzwerken gibt es natürlich auch formale Netzwerke wie Fördervereine und Mentoringprogramme. Allein, häufig zielen sie auf bestimmte Frauengruppen wie Berufseinsteigerinnen ab oder bleiben im schlimmsten Fall als Pink-Washing-Strategien letztlich gehaltlos. Während Frauen in den Development- und Coachingprogrammen hängen, kriegt der männliche Konkurrent den Job. Was bleibt, ist die Gewissheit, dass informelle und formale Frauennetzwerke bislang an die Reichweite und Macht ihrer männlichen Pendants nicht heranreichen.
Es reicht also nicht aus, Frauen durch unterschiedliche Initiativen für die MINT-Bereiche zu begeistern, wenn es nicht gleichzeitig zu einer Aufwertung von weiblich dominierten Disziplinen und Berufsbildern kommt. Es reicht nicht aus, in den Stellenausschreibungen penibel zu gendern, aber die zweifache Mutter noch nicht mal zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Es reicht nicht aus, Förder- und Mentoringprogramme für Frauen in der Wissenschaft zu etablieren, ohne am Narrativ der stets verfügbaren, kinderlosen und in Vollzeit tätigen Wissenschaftlerin zu feilen und neue Role-Models zu etablieren. Es reicht nicht aus, Teilzeitstellen zu ermöglichen, ohne die soziale Rentenabsicherung für Frauen und die Vergütung unbezahlter Care-Arbeit als sozialpolitische Priorität einzufordern. Es reicht nicht aus, sich über mehr Frauen in der Wissenschaft zu freuen, wenn diese gleichzeitig irgendwo zwischen Post-Doc und Mutterschaft auf der Strecke bleiben. Bei genauerem Hinsehen wird nämlich deutlich, dass sich das Bildungsniveau der Frauen dem der Männer zwar erfreulicherweise angeglichen hat – nicht aber das weibliche Gehalts- oder Karriereniveau.
Die Gründe für geschlechtstypische Erwerbs- und Karriereverläufe in der Wissenschaft finden sich in zahlreichen Determinanten, den soziokulturellen Mechanismen der Stereotypisierung und des Gehaltsgefüges, der Rollenerwartung, der Unvereinbarkeit von Familie und Wissenschaftsberuf wie auch in der Entwertung frauentypischer Disziplinen. Dass wir das alles wissen, was hier beschrieben wird, dass wir die Gender-Schieflage in der Wissenschaft an Zahlen und Statistiken quantifizieren können, und diese mit Theorien und Hypothesen unterfüttert sind, ist übrigens Verdienst der Wissenschaft. Jetzt läge es also nur noch daran, sie vom Erkenntnisgewinn in den Umsetzungsmodus zu bringen.
Abstract
This contribution considers the gendered distribution of academic positions, especially regarding the top tiers of scientific or higher education institutions. Basing her hypothesis on secondary statistical data, the author argues that even though women make up almost 50 percent of scientists in Italy overall, the percentual decreases considerably for higher positions. Highlighting how there are currently more women than men starting their academic careers, the contribution defeats the common notion that income or career inequalities are rooted in professional qualification. Rather, the author relates such differences to the very structure of the professional and private sphere. Not only are stereotypically female professions less valued – financially and conceptually –, but women are also more likely to discontinue their careers or go part-time in order to be able to combine careers with unpaid care and reproductive labor. This condition is incompatible with the current academic climate, privileging stereotypically male career formations for opportunities. The author concludes the contribution with suggestions to remedy structural inequality, such as the creation of new role models, revaluation of female dominated professions, promotion of mothers and care givers and finally the implementation of existent and relevant scientific findings.
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