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Hirten als Künstler der Inklusion

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Hirten als Künstler der Inklusion
Schaf und Mensch erhalten hochalpine WeidenCredit: Privat | Elisabeth Tauber | All rights reserved

Weiden sind von Menschen in Zusammenarbeit mit Tieren gestaltete Kulturlandschaften. Ihre Beschaffenheit hängt von dem Zusammenwirken zwischen Tieren, Pflanzen und Menschen ab. Am Zustand von Weidelandschaften lässt sich ablesen, wie dieses Zusammenwirken aussieht. Daher lohnt es sich, der Aufforderung von Anne Tsing nachzukommen, die in Bezug auf Pilzgeflechte schreibt:

Next time you walk through a forest, look down!

Anne Tsing

So beginnt sie ihren programmatischen Beitrag „Arts of Inclusion or How to Love a Mushroom“ (2010). Die chinesisch-amerikanische Sozialanthropologin hat durch die Erneuerung der Perspektive auf komplexe Beziehungsgeflechte von Menschen und Fungi ein völlig neues Forschungsverständnis etabliert. Sie schreibt: „Eine Stadt liegt unter Ihren Füßen. Wenn Sie irgendwie in die Erde hinabsteigen würden, wären Sie von einer Stadtarchitektur aus Gespinst und Fäden umgeben. Diese Geflechte werden von Pilzen geschaffen, wenn sie mit den Wurzeln von Bäumen interagieren und gemeinsame Strukturen aus Pilzen und Wurzeln bilden.“ . In ihrem Beitrag zeigt sie Menschen, die voller Leidenschaft und Liebe mit Pilzen verbunden sind. Sie zitiert Künstler, Biologen, Musiker und Umweltschutzgruppen, die in ihrer Verbundenheit mit Pilzen gegenseitige Fürsorge praktizieren, aber auch mögliche Zerstörung aufzeigen. Sie fragt sich, wie in Zeiten des Aussterbens die Kunst der Inklusion von nicht-menschlichen Lebewesen aussehen kann, denn „schon die kleinste Bekanntschaft macht den Unterschied zwischen Bewahrung und gefühlloser Missachtung aus.

Und wie sieht diese Kunst der Inklusion in alpinen Weidekulturen aus? Als Wanderer und Bergsteiger lassen wir unseren Blick meist weit über die Landschaft oberhalb der Weiden schweifen. Es ist uns selbstverständlich, dass uns Weiden einen ausgedehnten Blick erlauben. Weidetieren begegnen wir mit einer Streicheleinheit über die sanfte Kuhschnauze, einem wohligen Griff in dichtes Schaffell. Wissen wir, was sie hier wirklich tun? Auf hochalpinen Weiden müssen wir nicht notwendigerweise durch die Bodenoberfläche dringen, um feingewebte Landschaften aus Pilzsporen vorzufinden, so wie in Tsing‘s Beispiel. Wir können auch an der Oberfläche bleiben und uns bei den Gräsern, Blumen, Kräutern, Sträuchern und Bäumen, aber auch giftigen Pflanzen aufhalten.

Mensch und Tier erhalten Vielfalt hochalpiner Weiden

Erfahrene Ökologen erkennen an den Pflanzengemeinschaften, die sich auf Weiden ausbreiten, der Vielfalt von Gräsern, wilden Bienen und Insektengmeinschaften, welche Weidetiere den Boden wie abgegrast haben. So sind Weiden von domestizierten Tieren gestaltete Landschaften. Menschen alleine könnten diese hochalpinen Flächen nie bearbeiten. Rinder, Schafe, Ziegen aber auch Pferde tun diese Arbeit gemeinsam mit Hirten, nachdem Weiden durch den Menschen entstraucht und entwaldet wurden. Die große Kunst der optimalen Weideführung besteht darin, die Tiere nicht zu kurz und nicht zu lange auf einer bestimmten Weidefläche zu belassen. Diese Kunst beherrschen die Hirten. Schafe zum Beispiel halten schwer zu bewirtschaftende Flächen offen, da sie mit ihrem sicheren Tritt und ihrem Biss auch in die schwierigsten Gelände vordringen. Schafe werden auch auf mageren Flächen satt; sie selektieren das Gras, giftige Pflanzen wie etwa der blaue Eisenhut bleiben stehen. Werden Schafe ohne Behirtung auf hochalpine Weiden gelassen, ziehen sie sich sehr schnell in die höheren Gebiete zurück, dort wo das karge aber frische Gras kurz nach der Schneeschmelze hervorsprießt. Sie überlassen das Gelände mit älterem Gras gerne Anderen. Bleiben Schafe über den Sommer weitgehend unbehirtet, verlieren sie den Menschen als Bezugspunkt; die herbstliche Rückkehr in den Stall ist für diese Schafe nicht leicht.

Das führt uns zu den Beziehungsgeflechten, die wir mit wachsamen Blick für subtile, feingesponnene Netzwerke auf Weiden erkennen können. Die vielen verschiedenen Gräser, die aromatischen Kräuter, die wilden Bienen und bunten Insekten sind dem achtsamen Zusammenwirken von Mensch und Tier zu danken. Im Frühjahr, bevor die Tiere auf die hochalpinen Weiden geschickt werden, werden die Weiden von Bauern und Förstern für die Tiere vorbereitet: Grasnarben werden ‚geheilt‘, einzelne Stellen gewalzt, Erdhügel eingeebnet. Wenn hochalpine Weiden stark verletzt sind, weil die richtige Weidepflege vernachlässigt wurde und sich die Rückkehr der Sträucher und das Sterben der Vielfalt bemerkbar macht, dauert der Wiederaufbau der Weide mehrere Jahre.

Die Künstler der Inklusion sind die Hirten, die sich mit ihren Tieren über gesunde Weiden bewegen. Zu ihrer Kunst gehört ihr feines Gespür für die Tiere, ihre genaue Beobachtung der Weideflächen, ihr Abschätzen über die Länge des Aufenthaltes auf einer bestimmten Fläche. Diese Hirten, die in den Europäischen Alpen Tiere meistens alleine oder in kleinen Gruppen führen, leben in symbiotischer Beziehung mit ihren Tieren und der Landschaft. Ihre Fürsorge und Pflege der Tiere, ihr genaues Beobachten der Weidequalität, der Wetterbedingungen und des Geländes insgesamt macht sie zu Meistern der Wahrnehmung. Ihre genaue Beobachtung und sensible Einbettung in die alpine Umwelt macht den großen Unterschied aus zwischen Bewahrung und gefühlloser Missachtung von nicht-menschlichen Lebewesen, wie Tsing es formuliert.

Das nächste Mal, wenn Sie über Weiden wandern, blicken Sie nach unten, blicken Sie um sich und beobachten Sie, ob hier gefühllose Missachtung und Aussterben oder behutsame Bewahrung menschlicher und nicht-menschlicher Beziehungsgeflechte miteinander verwoben sind.

Elisabeth Tauber

Elisabeth Tauber

Elisabeth Tauber lehrt soziokulturelle Anthropologie an der Freien Universität Bozen, beschäftigt sich in ihrem aktuellen Forschungsprojekt mit menschlichen und nicht-menschlichen Beziehungssystemen im hochalpinen Raum und Fragen zur Konstruktion von Zeit, Raum und Landschaft.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b9896050
Tauber, E. Hirten als Künstler der Inklusion. https://doi.org/10.57708/B9896050

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