„Wir Mütter haben stark verinnerlicht, dass wir nicht an der ganzen Last scheitern dürfen“

Die Humanbiologin Barbara Plagg ist Wissenschaftlerin am Institut für Allgemeinmedizin an der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana in Bozen und Lehrbeauftragte an der Freien Universität Bozen. Besondere Bekanntheit erlangte Plagg für ihre Kolumnen über Feminismus, Femizide und Mutterschaft in den Magazinen „ff" und „barfuss". Im Interview spricht sie darüber, warum unbezahlte Care-Arbeit ein Eigentor für die Wirtschaft ist und warum auch Frauenmärsche die Situation der Südtiroler Frauen nicht verbessern.
Frau Dr. Plagg, Sie werden oft als Vorzeige-Feministin genannt. Doch mit dem Begriff schmücken Sie sich nicht gerne. Warum?
Barbara Plagg: Bei mir schreibt man gerne: „Wissenschaftlerin, Feministin und Autorin". Das finde ich falsch und symptomatisch für eine Gesellschaft, in der man das explizit hervorheben muss. Drehen wir den Spieß einmal um. Wir könnten genauso gut sagen: Alle Menschen, die für Menschenrechte sind und gegen Diskriminierung auf Basis der Religion, Hautfarbe, Sexualität oder des Geschlechts sind automatisch Feministinnen oder Feministen. Wenn das der Normalzustand wäre, müssten wir stattdessen die Leute mit einem Begriff herausheben, die sagen, Männer seien die bessere Spezies. Dann hieße es beispielsweise: „Marco Galateo, Landtagsabgeordneter und Sexist."
Warum sind Sie Feministin?
Plagg: Weil ich es sein muss. In einer patriarchalen Welt muss ich ständig darum kämpfen, nicht unterzugehen. Der große Zündfunke war meine Mutterschaft. Da merkte ich erst, dass die Gesellschaft nur Lohnarbeit als „richtige" Arbeit sieht. Mutterschaft und Care-Arbeit erfährt keine Anerkennung, obwohl sie viel anstrengender ist. Daraus ergibt sich für Mütter unterm Strich ein Minus an Macht, Zeit und Geld. So kommt der Gender Pay Gap zustande, und am Ende eines Arbeitslebens auch eine massive Pensionslücke.
Alle Menschen, die für Menschenrechte sind und gegen Diskriminierung auf Basis der Religion, Hautfarbe, Sexualität oder des Geschlechts sind automatisch Feministinnen oder Feministen.
Barbara Plagg
Gab es ein Schlüsselerlebnis, nach dem Sie sagten: So jetzt ist Schluss?
Plagg: Der größte Einschnitt war meine eigene Mutterschaft. Als Mutter dachte ich oft, es ist ja völlig normal, dass ich auf dem Zahnfleisch gehe. Diese Rollenerwartung haben wir Mütter sehr stark verinnerlicht, dass wir nicht an der ganzen Last scheitern dürfen. Es ist ein schwieriger Prozess, sich erst einmal zu sagen: Das kriege ich nicht mehr alles unter einen Hut. Kind, Karriere, Freizeit, Yoga, Hausarbeit und dann noch die Pflege der Schwiegermutter. Das alte Rollenbild muss man erst einmal wieder verlernen und eine neue Identität finden. Ich bin da selbst noch mittendrin.
Da muss man dann aber Widerstand erwarten, oder?
Plagg: Ja, und dieser Widerstand hängt zum Teil an alteingesessenen, Traditionen und der Identität des Patriarchats. Diese Dynamiken sind schwer zu durchbrechen. Nehmen wir den Fasching als Beispiel. Blackfacing und vor den Pflug gespannte Frauen, die erniedrigt und sexualisiert werden, sind noch immer geläufig. Übt man Kritik daran, kommt viel Widerstand der Organisatoren: „Das war schon immer so, und das gehört sich so." Weist man die Leute darauf hin, dass derlei Bräuche oft gar nicht so alt sind und dass wir auch auf andere Weise Spaß haben könnten, dann löst das kollektive und individuelle Identitätskrisen aus.
Wäre es nicht Aufgabe der Politik, diese Kritik zu üben und Veränderung in die Gänge zu bringen?
Plagg: Einerseits hätten wir die Mittel dazu, so wie den Landesbeirat und das Büro für Chancengleichheit - und auch das nötige Geld, um etwas zu bewegen. Doch es bringt nichts, wenn die bloß alljährlich Kalender drucken oder „Gender Pay Gap"-Taschen verteilen. Das ist nur politisches Pinkwashing, das dazu dient, dass man zeigen kann, was man Nettes für die Frauen gemacht hat. Dasselbe gilt für elitäre Konferenzen, zu denen zwar wichtige Leute erscheinen, die aber keinen Effekt im realen Leben haben. Einen Paradigmenwechsel erreichen wir so keinesfalls. Das muss schon eine Einrichtung sein, die ohne Hierarchien auskommt.
So wie die Plattform „Südtirols Sisters", oder SUSIs, die Sie ins Leben gerufen haben. Wie kam es zur Gründung?
Plagg: In Südtirol fehlte ein niederschwelliger Austausch. Hier gab es keine Gruppen wie „Sorority" in Österreich. Also haben wir auf Facebook eine Gruppe erstellt, die für Frauen ein digitaler Safe Space ist. Zu Beginn habe ich zehn Frauen eingeladen, eingeladen waren aber von Anfang an auch alle Menschen, die sich als Frau identifizieren. Die Zahlen gingen schnell nach oben. Schon daran merkten wir sofort, diesen Austausch braucht es. Uns SUSis ist es wichtig, dass die verschiedenen Aktionen nicht immer von den gleichen Frauen getragen wird. So können wir wesentlich mehr erreichen als eine hierarchische Organisation oder gar eine Partei.
Uns SUSis ist es wichtig, dass die verschiedenen Aktionen nicht immer von den gleichen Frauen getragen wird. So können wir wesentlich mehr erreichen als eine hierarchische Organisation oder gar eine Partei.
Barbara Plagg
Sie schreiben unter anderem offene Briefe gegen homophobes Gedankengut und rufen zum Frauenmarsch auf. Welche Aktion war Ihnen die wichtigste?
Plagg: Was mich sehr berührt hat und mir nach wie vor wichtig ist, ist die Reaktion auf Femizide in Südtirol, so wie nach dem Mord an der Restaurantbetreiberin Barbara Rauch im März 2020. Das Theaterstück über ihren Fall habe ich deshalb geschrieben, weil ich merkte, wir brauchen etwas Plastisches, um den Femizid auch mit Barbaras Schwester aufzuarbeiten. Ein Jahr später organisierten wir dann mitten in der Corona-Pandemie eine Mahnwache. Das war mir sehr wichtig, um unsere Mitmenschen zu sensibilisieren und der Familie zu zeigen: Wir haben euch nicht vergessen.
Das passiert aber nicht bei allen Femiziden.
Plagg: Auch darauf wollen wir hinweisen. Feminismus ist leider oft intersektionell. Soll heißen: Wenn eine Einheimische ermordet wird, ist der Aufschrei groß. Wenn aber eine Frau mit Migrationshintergrund umgebracht wird, gerät das schnell in Vergessenheit. Auch das müssen wir ändern.
Ändert der jährliche Frauenmarsch etwas daran?
Plagg: Nicht wirklich. Ich hatte ihn damals mit großen Hoffnungen angestoßen. Doch mittlerweile hat er sich verselbständigt. Es wirkt auf mich so, als sei er ein institutionalisierter Spaziergang mit festem Datum im Kalender geworden. Den macht man einmal im Jahr, und dann hat man wieder etwas getan. Schwierig daran ist, dass immer die üblichen Frauenhaus-Exponent*innen auftreten, mit teils eigenartigen Forderungen. Noch dazu fehlen anschließend einfach die Druckmittel, um die Forderungen durchzusetzen. Dazu kommt, die Frauen, die beim Frauenmarsch aktiv sind, sehe ich nicht bei den SUSIs, wenn eine Frau wirklich Hilfe bräuchte. So etwas ist nicht meine Form von Aktivisimus.
Was würden Sie anders machen?
Plagg: So wie er ist, macht der Frauenmarsch derzeit jedes Jahr genau dasselbe. Es geht die gleiche Strecke entlang und die Teilnehmer*innen halten die gleichen Schilder in die Höhe. Das erhöht den Druck auf die Politik kein bisschen. Aus der Aktion ist eine Selfie-Parade weißer Cis-Frauen geworden, die in der Politik aktiv sind und Frauenmarsch- und WomenRights-Hashtags wedeln. Effektiver wären beispielsweise Streiks, wenn man etwas verändern wollte. Statt der Märsche müssten wir uns jedes Jahr neue originelle Aktionen ausdenken. Wir brauchen Aktionen, die tiefer in die Gesellschaft eindringen, als das derzeit der Fall ist.
Mutterschaft und Care-Arbeit erfährt keine Anerkennung, obwohl sie viel anstrengender ist. Daraus ergibt sich für Mütter unterm Strich ein Minus an Macht, Zeit und Geld.
Barbara Plagg
Für die Kritik werden Sie womöglich Gegenwind aus den eigenen Reihen bekommen. Überhaupt, im Netz werden Ihre Kolumnen über Mutterschaft und Feminismus häufig mit Beleidigungen kommentiert. Geht Ihnen das nahe?
Plagg: Wenn jemand beleidigende Worte unter einen meiner Texte schreibt, dann ist das zunächst ein Zeichen dafür, dass ein Thema die Wahrnehmungsschwelle überschritten hat. Gerade bei Themen wie gleichgeschlechtlicher Elternschaft weiß ich dann, dass ich dazu besonders in Südtirol noch mehr Texte schreiben muss. In der ff gab es dazu einen Hassbrief als Reaktion auf meine Kolumne, in dem ich als „primitiv", „obszön" und „dumm" bezeichnet wurde. Ich dachte mir, das kann ich abfangen. Dann denke ich daran, die LGBTQIA+-Community muss solche Attacken auch ständig ertragen. Ich stelle mich also bereit, solche Angriffe stellvertretend abzufangen. Für mich ist es etwas abstrakter, weil in meinem Umfeld und meiner Familie niemand Opfer eines Femizids wurde oder homosexuell ist.
Das ist beim Thema Mutterschaft aber anders.
Plagg: Allerdings. Ich merke das bei meiner Kolumne „Motherhood UnPlagged". Da bin ich sehr viel verletzlicher. Es ist wichtig, darüber zu sprechen, dass man am Muttersein auch scheitern kann. Deshalb spreche ich in der Kolumne Herzensthemen wie Mutterschaft und Vereinbarkeit, aber eben auch Depressionen an. Das allein löst zwar nicht das Problem, aber wir müssen betroffene Frauen in ihrer Not erst einmal sehen und sie anerkennen. Das Thema muss in der breiten Gesellschaft ankommen. Dann erst können wir gute Strategien finden, um damit umzugehen.
Wie präsent ist Feminismus und Aktivismus unter Ihren Studierenden?
Plagg: Dazu muss man erst einmal sagen, die meisten davon studieren Sozialpädagogik, von denen die Mehrheit Frauen sind. Ich kann also nicht für alle Studierenden in Südtirol sprechen. Doch für meine ist Aktivismus ein Fremdwort, weil sie politische Teilhabe bisher nicht gelernt haben. Vielleicht hängt das mit dem schulartigen Wesen der Universität hier zusammen. Man geht hin, lässt sich sagen, was man zu tun hat und macht das dann, um eine gute Note zu bekommen. Für Aktivismus bleibt da nur wenig Raum.
Was läuft an anderen Universitäten anders?
Plagg: Vor allem das Campusleben. Ich konnte deutliche Unterschiede zu den Universitäten Padua, Wien, Zagreb, München und Innsbruck beobachten. Der aktivistische Austausch über gesellschaftliche Themen findet dort im Park beim Slacklinen oder am Kaffeeautomat in den Gängen statt. Diese Räume fehlen hier, weil die Studierenden mit dem Zug zur Uni pendeln und nach dem Unterricht gleich wieder nach Hause fahren. Auch die Uni selbst macht es einem nicht immer leicht. In Brixen machten wir eine Aktion über Depressionen bei Frauen und wollten dazu Plakate an die Betonwände hängen. Doch das wurde uns verboten. So etwas erstickt den aktivistischen Geist junger Leute schnell.
Der aktivistische Austausch über gesellschaftliche Themen findet dort im Park beim Slacklinen oder am Kaffeeautomat in den Gängen statt. Diese Räume fehlen hier, weil die Studierenden mit dem Zug zur Uni pendeln und nach dem Unterricht gleich wieder nach Hause fahren.
Barbara Plagg
Was würden Sie den jungen Leuten trotz dieser Schwierigkeiten raten?
Plagg: Macht im Privaten, so viel ihr könnt. Auch wenn es mühsam ist, den Onkel Thomas wieder und wieder davon zu überzeugen, dass Frauen sichtbar sein müssen, dass Care-Arbeit viel Arbeit ist und Frauen genauso gut bezahlt werden müssen wie Männer. Jeder einzelne Beitrag macht einen Unterschied, wenn er auch noch so klein scheint.
Das löst aber noch nicht das gesellschaftliche Problem, oder?
Plagg: Die Misere hat uns der Kapitalismus eingebrockt, weil er nur Lohnarbeit als „richtige" Arbeit anerkennt. Und jetzt ist es genau wieder der Kapitalismus, der uns rettet. Nicht aus Edelmut, sondern weil es ihm selbst zugute kommt. Denn wenn Frauen in der Wirtschaft fehlen, wenn ihre Kinder drei Monate Ferien haben, sie selbst aber nur zwei Wochen und dann aus dem letzten Loch pfeifen, dann leidet auch die Wirtschaft. Und der geht es nur darum, die Wertschöpfungskette nicht zu unterbrechen. Da übersieht man einfach den Kontext, in dem sich Frauen und besonders Mütter bewegen. Das bereitet mir Bauchschmerzen.
Sind Sie besorgt um den Feminismus in Südtirol?
Plagg: Das Potenzial ist hoch, auch wenn es noch viel zu tun gibt. Einiges hat sich schon getan. Im Mordfall Sigrid Gröber hat sich das Land Südtirol als Nebenkläger eingelassen. Das ist ein interessanter gesellschaftlicher Wandel. Natürlich bemerkt man auch immer wieder Rückschritte, wie beispielsweise wenn die Regionalregierung keine einzige Frau nominiert. Und in Krisenzeiten mit Krieg und hoher Inflation fallen viele zurück ins alte Rollenbild, heiraten häufiger und machen eher auf 50er-Jahre-Familie. Aber im Großen und Ganzen hat der Wandel begonnen - und er ist nicht mehr aufzuhalten.

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