Der harte Weg nach oben: Kann Südtirol Vorreiterin in Sachen Geschlechtergerechtigkeit sein?
Die Gleichstellung der Geschlechter ist eine Frage der Vernunft, nicht der Ideologie. Gleichstellung von Bezahlung am Schnittpunkt zwischen Familie und Arbeit schafft größere Gerechtigkeit, fördert soziales Vertrauen und erhöht die Produktivität. Das zeigen auch die Bestrebungen in der europäischen Modellregion Südtirol.
Südtirol ist eine autonome Provinz innerhalb Italiens, die sich als Brückenmodell zwischen dem mittel- und südeuropäischen Raum versteht und vielen als fortgeschrittenstes und erfolgreichstes Beispiel ethnischer Konfliktschlichtung in Europa gilt. Seit Anfang der 2000er Jahre ist das Land bestrebt, auch in der Frage der Geschlechtergleichstellung Fortschritte zu machen und dabei zumindest für vergleichbare Regionen Standards zu setzen.
Wie auch der Rest Italiens weist Südtirol trotz vieler Bemühungen noch immer eine relativ hohe Ungleichbezahlung und wenig Frauen in Führungspositionen auf. Frauen verdienen im Schnitt 17,2 Prozent weniger als Männer und sind drei Mal seltener in leitender Position tätig. Die Umstände sind meist schwerer für Frauen als für Männer, Beruf und Familie zu vereinen. Viele müssen in Teilzeit arbeiten, weil nicht ausreichend Kinderbetreuung (nicht nur für Kleinkinder) zur Verfügung steht und weil eine finanzielle Rentenlücke im Alter droht. Auch ist es in Teilen der Gesellschaft immer noch das vorherrschende Rollenbild, wonach eine Mutter, die Vollzeit arbeitet, wohl unteren Schichten zugehören muss, weil sie es sich nicht „leisten“ kann, zu Hause zu bleiben. Auf der anderen Seite gibt es genauso Vollzeit arbeitende Frauen, die sich eine Ganztagsbetreuung „leisten“. Diesen Frauen wird dann jedoch wiederum vorgeworfen, sie würden die Karriere vor die Familie stellen. Es gibt also mannigfaltige Dynamiken zuungunsten beruflicher Gleichstellung. Zudem sind Frauen öfter befristet oder saisonal angestellt. Statistisch liegt Südtirol hinter dem EU-Schnitt und anderen Regionen und Nationen Europas zurück. In der EU beträgt der Gender Pay Gap 14,1 Prozent, in manchen Ländern liegt er nur knapp über 10 Prozent.
Deutliche Lohnunterschiede und Glasdeckeneffekt
In einer Antwort auf eine Anfrage im autonomen Südtiroler Parlament, dem Südtiroler Landtag, Landtagsanfrage Nr. 393/2019 der Abgeordneten Ulli Mair zu „Geschlechtern, Gerechtigkeit und Gender Mainstreaming“ vom September 2019 fasste der zuständige Landesrat Philipp Achammer die derzeitige Situation von Frauen in Südtirol kompakt und treffend zusammen. Dort betonte er unter anderem, dass Frauen vor allem in Sektoren und Berufen, in denen die Gehälter bezogen auf den Durchschnitt eher niedriger sind (z.B. Handel, Tourismus, Dienstleistungen) tätig seien. Auch Lebensentscheidungen wie Beziehungen und Heirat und die Zuordnung zu einer beruflichen Funktion mit wenig Aufstiegsmöglichkeiten beeinflussten den beruflichen Fortschritt — mit negativen Auswirkungen auf das Einkommen. Einflussparameter auf den geschlechtsspezifischen Lohnunterschied seien dabei insbesondere folgende:
- Alter: Der geschlechtsspezifische Lohnunterschied nimmt mit zunehmendem Alter allmählich zu. Das Lohngefälle nimmt vor allem in den Altersgruppen zu, in denen Frauen Kinder bekommen und daher abwesend sind.
- Wirtschaftssektor: Die Dienstleistungssektoren sind diejenigen, in denen die Unterschiede am größten sind. Hier finden wir [in Südtirol] Sektoren mit allgemein niedrigeren Löhnen für Frauen und großen Lohnunterschieden zwischen Männern und Frauen, zum Beispiel im Handel.
- Arbeitsverträge: Betrachtet man die Vollzeitbeschäftigten in Südtirol nach Vertragsart, lässt sich erkennen, dass der Anteil an Frauen mit einem befristeten oder Saisonvertrag — welche üblicherweise schlechter entlohnt werden — besonders hoch ist, nämlich 46,4 Prozent, wohingegen nur 27,8 Prozent der Männer solche Verträge haben.
- Berufliche Qualifikation: Frauen sind in den höchsten Einkommensklassen zudem unterrepräsentiert: Nur 1,4 Prozent der Frauen sind Führungskräfte oder leitende Mitarbeiterinnen, bei den Männern sind es 4 Prozent. Diese Daten bestätigen, dass sich das Phänomen der sogenannten „Gläsernen Decke“ auch in Südtirol deutlich zeigt. Frauen bieten sich weniger Chancen in Führungspositionen aufzusteigen als ihren männlichen Kollegen. Mit anderen Worten: Je höher die Einkommensstufe, desto weniger Frauen sind vertreten.
Der Großteil der Pflege wird in Südtirol von Frauen geleistet — eine Arbeit, die zu wenig oder gar nicht entlohnt wird und zu wenig Wertschätzung erfährt. Das Paradox dabei ist: Wohlhabende und gebildete Frauen gehen zur Arbeit, während wiederum andere Frauen die Arbeit in den Bereichen Pflege und Haushalt leisten – nicht Männer.
Roland Benedikter
Gender-Mainstreaming durch Gender-Budgeting
Soweit die Südtiroler Landesregierung. In diesem Gesamtbild darf, wie in anderen Regionen, aber auch die Pflege nicht vergessen werden. Von der Kinderbetreuung bis hin zur Betreuung älterer Menschen: der Großteil der Pflege wird in Südtirol von Frauen geleistet — eine Arbeit, die zu wenig oder gar nicht entlohnt wird und zu wenig Wertschätzung erfährt. Das Paradox dabei ist: Wohlhabende und gebildete Frauen gehen zur Arbeit, während wiederum andere Frauen die Arbeit in den Bereichen Pflege und Haushalt leisten – nicht Männer. Die US-Emanzipationsphilosophin Nancy Fraser hatte diese Entwicklung bereits in den 1990er Jahren in Bezug auf das neoliberale Pflegesystem vorausgesagt. Dieses mobilisiert Frauen in großer Zahl und in oft prekären Arbeitsverhältnissen, damit mehr Arbeitskraft zur Verfügung steht und die Löhne niedrig bleiben – wobei etwa in den USA seit langem diskutiert wird, dass diese Mobilisierung und die Erweiterung der Familieneinkommen von einem auf zwei Vollzeit Arbeitende dem Mittelstand in der realen Kaufkraft keine Fortschritte gebracht hat, wohl aber Eltern und Kinder voneinander fernhält. Das ist in Südtirol und Italien zwar so nur teilweise der Fall, aber das Grundproblem ist gegeben.
Folgen dieser Verhältnisse sind niedrige Geburtenraten, weil Frauen im Beruf verbleiben müssen, um sich eine Rente zu sichern, sowie die vielfach trotzdem ganz real drohende Altersarmut für Frauen. Abhängigkeiten gehen nicht selten mit geschlechterbezogener Gewalt einher, was die EU pro Jahr 366 Milliarden Euro für Folgenbearbeitung, Bekämpfung, Aufklärung und Prävention kostet.
Als Antwort darauf ist der europäische Trend in Richtung einer konsequenteren transsektoralen Gleichstellung der Geschlechter sowohl regional wie national und transnational klar zu erkennen. Ziel ist es, Gender-Mainstreaming durch Gender-Budgeting zu erreichen. Gender-Budgeting ist ein finanzpolitisches Instrumentarium, bei dem öffentliche Ausgaben gezielt für die Gleichstellung der Geschlechter zum Einsatz kommen, um beide Geschlechter nach und nach sowohl qualitativ wie quantitativ auf dieselbe Ebene zu bringen. Das hat weniger mit „positiver Diskriminierung“ als vielmehr mit Investition in die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger zu tun.
Maßnahmen in Südtirol
Das versucht seit Herbst 2021 auch in Südtirol ein beispielgebender Gesetzesverbesserungsantrag im Landtag auf Initiative der Abgeordneten Maria Elisabeth Rieder (Landesgesetzentwurf 82/2021). Südtirol kann dabei auf eine gute Grundlage bauen. Gender-Budgeting, also Ausgaben für Gleichstellung, wurde bereits 2008 in einer wegweisenden Pilotstudie (Hermann Atz und Institut für Sozialforschung und Demoskopie Apollis) zur „geschlechterbezogenen Haushaltspolitik“ im Detail für Südtirol entwickelt und daraufhin im „Gleichstellungs- und Frauenförderungsgesetz“ des Landes (Nr. 5 vom März 2010) verankert. Mit diesem Gesetz, das sich an Österreich orientiert, nahm Südtirol in Zentraleuropa eine regionale Vorreiter-Rolle ein.
Als Folge davon hat inzwischen eine breitere Sensibilisierung stattgefunden. Das hat zum Beispiel das Bewusstsein für den Bereich der „Geschlechtermedizin“ (gender medicine) gefördert, die sich mit den unterschiedlichen Symptomen und Krankheitsverläufen bei gleicher Pathologie bei Frauen und Männern beschäftigt. Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass Frauen und Männer unterschiedlich erkranken. Geschlechtermedizin soll ein wichtiger Teil der Offensive in Richtung individualisierte Medizin oder „Präzisionsmedizin“ werden. Ein vieldiskutiertes Anti-Gewalt-Gesetz der Landesrätin für Familie, Senioren, Soziales und Wohnbau Waltraud Deeg thematisiert seit 2021 die Gewalt gegen Frauen. Wissenschaftseinrichtungen wie das Forschungsinstitut Eurac Research in Bozen erstellen Instrumente wie den „Gender Equality Plan“, der ab 2022 ein Förderkriterium für Horizon Europe-Projekte sein wird, also für die wichtigsten Forschungsförderungsgelder, die das Land Südtirol aus Brüssel und Straßburg im Rahmen des zentralen Finanzierungsprogrammes der EU für Forschung und Innovation abruft. Hier soll die Geschlechtergerechtigkeit schon bei der leitenden Forschungsfrage beachtet werden. Es geht also um mehr als nur gemischtes Personal im Projekt; auch die Integration der Geschlechterdimension in Forschungs- und Lehrinhalt ist gefragt.
Ein Blick nach vorne
Zusammenfassend gilt, dass die nach Geschlechtern getrennte Datenerhebung und -analyse und das objektive, möglichst unabhängige Monitoring der Effekte von Gender-Investitionen samt wissenschaftsgestützter Evaluation entscheidende Aspekte für eine effiziente Umsetzung des Gleichstellungsanliegens sind. Beides wurde inzwischen in zahlreichen Verbesserungsvorschlägen zu den in Südtirol bestehenden gesetzlichen Regelungen betont. Das Südtiroler Parlament und die Landesregierung der Autonomen Provinz Südtirol können hier in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern in den kommenden Jahren noch präziser kontextualisierte Messinstrumente entwickeln, gegebenenfalls in Kooperation mit lokalen Forschungsinstituten wie Eurac Research und Wissenschaftseinrichtungen im deutschen und italienischen Sprachraum. Eine solche Offensive würde über den relativen gesetzgeberischen Stillstand hinausführen, der sich zwischenzeitlich durch die Ablehnung des oben erwähnten Verbesserungsvorschlags der Abgeordneten Rieder zum Gleichstellungsgesetz (Landesgesetzentwurf 82/2021) im Südtiroler Landtag im April 2022 ergeben hat. Dazu haben Teile des Landtags Alternativvorschläge vorgebracht.
Der Gesetz-Verbesserungsentwurf, gedacht als erster Schritt und als Aktualisierung des Gesetzes aus dem Jahre 2010, hätte unter anderem Gehalttransparenz vorgesehen. Neben Monitoring und Evaluation waren spezifische Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt ebenso vorgesehen wie die Einrichtung einer gezielten Anlaufstelle für Frauen in den Arbeitsvermittlungszentren. Obwohl bei der Anhörung im Südtiroler Parlament Expertinnen und Experten auf die Wichtigkeit und Dringlichkeit hingewiesen hatten, wurde der Gesetzentwurf abgelehnt – nicht wegen inhaltlicher Mängel, sondern wegen des „falschen Zeitpunkts“. Denn am 30. Oktober 2021 wurde von der Südtiroler Landesregierung feierlich die EU Charta für die Gleichstellung von Frauen und Männern auf lokaler Ebene unterzeichnet. Die Charta beruht auf der Verabschiedung der Europäischen Charta für die Gleichstellung von Frauen und Männern auf kommunaler und regionaler Ebene durch den Rat der Gemeinden und Regionen Europas im Jahr 2006, zu deren Umsetzung sich mittlerweile mehr als 1800 Gemeinden in 36 Ländern verpflichtet haben. Zudem wird in Südtirol an einem Gleichstellungs-Aktionsplan gearbeitet, der Mitte 2023 fertig sein soll. In der Folge soll ein neuer Gesetzentwurf vorbereitet werden. Dies war der Grund für die Ablehnung. Aufgrund der im Herbst 2023 anstehenden Wahlen des Südtiroler Parlaments wird dieser neue Gesetzentwurf vermutlich im Jahr 2024 beschlussfähig sein. Derzeit bestehen in Südtiroler Gemeinden wie etwa Meran lokale Aktionspläne, so wie der Meraner Aktionsplan zur Gleichstellung von Frauen und Männern 2020-24.
All das sind Schritte auf dem Weg in eine geschlechtsbezogen ausgewogenere Zukunft. Wenn Regionen wie Südtirol die Gleichstellungsfrage ernst nehmen, entspricht das den globalen Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals), vor allem den Nachhaltigkeitszielen 1, 5 und 10. Diese sind in der RIS3-Strategie (das ist die von der EU allen europäischen Regionen für den Erhalt von Geldern vorgeschriebene „Intelligente Spezialisierungs-Strategie“) und in der Nachhaltigkeitsstrategie, also den beiden Hauptentwicklungsstrategien Südtirols, verankert.
Zur Gleichstellung der Geschlechter gehören jedoch nicht nur Einkommensfragen, sondern auch die Sensibilisierung in Bezug auf geschlechtsspezifische Rollenbilder sowie die Sensibilisierung von Männern im Hinblick auf Dynamiken toxischer Männlichkeit. Südtirol ist auch hier auf einem guten Weg. Bei einem eintägigen Landtags-Hearing am 09. September 2021 wurden unter breiter und aktiver Beteiligung der Sozialpartnerinnen und Sozialpartner und der Zivilgesellschaft wertvolle Ansätze zur Weiterentwicklung des Südtiroler Gleichstellungsgesetzes entwickelt. Sie lieferten viele Möglichkeiten zur Verbesserung. So sollten Statistiken getrennt nach Geschlechtern erstellt (Vorbild Schweden), eine Kosten-Effizienz-Analyse der Genderausgaben und Gleichstellungsmaßnahmen vorgesehen (Vorbild Island), sowie eine sogenannte „Gender Impact Analysis“, das heißt eine geschlechterbezogene Wirkungsanalyse des gesamten Landesbudgets (Vorbilder Dänemark und Stadt Wien), vorgenommen werden. Eine Reihe von Best Practices im EU-weiten Vergleich sind verfügbar und können an die Bedürfnisse von Regionen wie Südtirol angepasst werden. Wichtig ist nicht zuletzt, die Rolle des Gender-Budgetings für die demographische Entwicklung (Reproduktionsrate) zu verstehen. Geschlechtergleichstellung heißt in diesem Zusammenhang, eine dauerhafte Bevölkerungsabnahme zu verhindern. Eine höhere Reproduktionsrate setzt die Investition in die eigene Bevölkerung (und Bevölkerungsentwicklung) voraus.
Zur Gleichstellung der Geschlechter gehören jedoch nicht nur Einkommensfragen, sondern auch die Sensibilisierung in Bezug auf geschlechtsspezifische Rollenbilder sowie die Sensibilisierung von Männern im Hinblick auf Dynamiken toxischer Männlichkeit.
Roland Benedikter
Insgesamt kann die Weiterentwicklung der europäischen Gesetzgebung im Gleichstellungsbereich vor allem mit Blick auf die Schnittstelle „glokaler“ Entwicklungen nur begrüßt werden. Südtirol kann dafür beispielgebend werden. Kleinere europäische Regionen können künftig sogar eine Vorreiterrolle „in nuce“ für Nationen und Europa spielen. Unter den internationalen Rahmenrichtwerken, die in diese Richtung zielen, ist zum Beispiel die UNESCO-Zukunftsstrategie 2022-29 zu nennen. Sie erhebt die Geschlechtergleichstellung zum zentralen Zukunftsfaktor für die Dekade. Aber auch das vergleichende Gender-Budgeting in den OECD-Ländern hat sich bewährt.
Gleichstellung steht also im Einklang mit einer allgemeinen Ausrichtung, die von allen internationalen Institutionen empfohlen wird. Sie ist ein richtiger Schritt in Richtung Modernisierung wie zugleich auch in Richtung Internationalisierung. Damit kann auch der europaweiten Stagnation durch die Covid-19-Pandemie entgegengewirkt werden, wie sie zuletzt im Oktober 2021 der Gender Equality Index 2021 aufgewiesen hat. Für nachhaltigen und selbstkritischen Fortschritt gilt es aber auch, Beispiele von Fehlentwicklungen zu diskutieren. Das ist vor kurzem etwa auch im Zuge der jährlichen Globalisierungstagung des Center for Advanced Studies von Eurac Research geschehen, welche im Mai 2022 unter dem Titel „Doing Global Gender. Perspektiven zu Gender und Re-Globalisierung“ die Frage der Geschlechtergerechtigkeit ins Zentrum rückte.
Hinweis: Veröffentlichung einer Erstfassung auf dem Nachrichtenportal Stol.it, am 16. Dezember 2021. Ein Wiederabdruck erfolgte in der Pustertaler Zeitung (PZ), Ausgabe 25/2021, S. 18-19.
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