Feldforschung trifft auf Feldarbeit
Die Zukunft unserer Ernährung wird ambivalent. Hochtechnologische Intensivierung, mehrstöckige, überdachte Hightech-Farmen, Monokultur durch genmodifizierte und patentierte Samen, aber eben auch: Rückbesinnung auf naturnahe Anbaumethoden, nachhaltige und produktive Systeme, über enge Beziehungen gewachsenes Vertrauen zwischen Produzent*innen und Abnehmer*innen. Das Projekt zur nachhaltigen Ernährung in Südtirol, kurz „NEST“-Projekt des Instituts für Regionalentwicklung von Eurac Research erforscht explorativ diese unterschiedlichen Wege des Wandels. NEST will all diesen Szenarien offen gegenüberstehen und im Dialog mit den Betroffenen eine konstruktive Rolle in der Gestaltung eines zukunftsfreundlichen, sprich: nachhaltigen, Ernährungssystems beitragen.
Mitte des Jahres beende die Forschungsgruppe „Rural Resources“ um Christian Hoffmann des Instituts für Regionalentwicklung die erste Umfragerunde der explorativen Phase. 16 Gastbetriebe in Südtirol gaben uns Einblick in ihre Arbeitswelt und teilten ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Landwirtschaft und Logistik. Ihre Aussagen, zusammen mit quantitativen Daten, die aus Bestelllisten herausgefiltert wurden, bildeten das Fundament der ersten Datenanalyse. Dieser ging ein Jahr intensiver Recherche über Ernährungssysteme, Best-Practice Beispiele und rechtlicher Möglichkeiten voraus. Im September 2022 wurde ein erster Bericht über die Ergebnisse dieser Recherchearbeit verfasst. Dessen Inhalte und die Ergebnisse der Gastwirte gaben die Themen für unsere dritte offizielle Veranstaltung im Juni vor.
Nach der Sommerpause startete die zweite Umfragerunde. Diesmal mit dem Fokus auf die Landwirtschaft. Als Auftakt besuchten Clara und Lion, zwei Forschende am Institut für Regionalentwicklung Anfang September zwei Landwirte aus der Provinz Bozen – Südtirol. Diese und kommende Umfragen sollen Einblick in die Zusammenarbeit mit der Gastwirtschaft und zu den Problemen und Hürden, aber auch Erfolgen bei der Belieferung und Vermarktung von hofeigenen Produkten an Hotels und Gastronomie gewähren. Die ausgewählten Betriebe waren der Lukashof, ein Rindermastbetrieb aus Barbian, dessen Besitzer Thomas Zanon mit seinen Pinzgauer Hornochsen ein Exempel für lokale und transparente tiergerechte Rindermast statuiert, sowie der Marxenhof, dessen Äcker und Obstbaumplantagen uns von Bauer Matthias Klammer gezeigt wurden. Der Mischkultur- und Apfelbetrieb aus Brixen existiert nun schon seit vier Generationen und wurde Mitte der 90er Jahre aus Überzeugung von konventionell auf Bio umgestellt. Die Pinzgauer Rinder des Lukashof genießen den Sommer über die frischen Alpenweiden auf der Barbianer Alm mit Ausblick auf die Dolomiten. Sie überwintern im Laufstall. Geschlachtet werden die Tiere im 25 Minutenentfernten Schlachthof in Brixen, und deren Fleisch dann ab Hof oder fein zubereitet im nur 300 Meter weiter entfernten Rösslwirt erwerbbar sind. Beim Marxenhof können Kundinnen feldfrische Produkte direkt im erst kürzlich eingeweihten Hofladen kaufen, oder selbstzubereite Speisen und Kuchen vor Ort probieren. Die restlichen Erzeugnisse des Gemüseackers liefert Bauer Matthias an die Mensa der Fachschule für Land- und Hauswirtschaft Salern, oder an das Restaurant Fink in Brixen.
Schon in den ersten Interviews ließen sich einige Trends und Parallelen zu den Umfragen der Gastronomie ziehen. Sehr wichtig war den Befragten das Thema Vertrauen und die direkte Beziehung zum Gegenüber in der Gastwirtschaft. Durch einen Austausch auf Augenhöhe und Kommunikationsbereitschaft würden sich potenziell auftretende Hürden in der Kooperation von vornherein vermeiden lassen. Dies zeigt sich auch im unkomplizierten Bestellvorgang der Gastronomie. Ob beim Bier oder mit dem Privathandy über WhatsApp, die Kommunikationswege bleiben auf einer niedrigschwelligen Ebene. Sicherheit war ein weiteres Thema, das von beiden Landwirten betont wurde. Die Gewissheit einer stetigen Abnahme der am Hof produzierten und/oder veredelten Produkte spielte hier eine große Rolle. Gastwirtinnen können einen wichtigen Beitrag liefern, die Bestellmenge und Produktpalette konstant zu halten, indem beispielsweise Liefermengen und gewünschte Produkte frühzeitig und über mehrere Saisons angefragt werden. Der gesteigerte Arbeitsaufwand gerade bei der Vermarktung der eigenen Produkte und der Logistik am Hof wird von den Landwirten aus Überzeugung in Kauf genommen. Allerdings ließen sie auch durchblicken, dass ein Entgegenkommen der anderen Abnehmerinnen durchaus wünschenswert wäre. Der Fortgang, die Hoferzeugnisse zu waschen, wiegen, verpacken und liefern bedarf viel Arbeitszeit. Eine unterstützende Logistiklösung könnte die Bereitschaft der Landwirtinnen erhöhen, ihre Produkte an mehr Kundinnen zu liefern. Bemängelt wurde teilweise die unzureichende digitale Unterstützung zur Buchführung. Hier wäre eine benutzerinnenfreundliche intuitive Lösung wünschenswert. All diese Punkte geben erst einen kleinen Einblick in die vielschichtigen Herausforderungen, denen sich die Landwirtschaft stellt.
Die befragten Betriebe werden nicht zufällig ausgewählt, sondern sollten bereits in Zusammenarbeit oder zumindest in Kontakt mit der lokalen Gastronomie stehen. Durch gezielte Fragen und im Dialog mit den Forscherinnen werden die persönlichen Erfahrungen der Teilnehmerinnen vertieft. Diese Art der Erhebung gibt detaillierte Eindrücke in die Betriebe der einzelnen Befragten. Durch, hauptsächlich qualitative Befragungsmuster, geben uns die Expertinnen und Profis Einblick in ihre reelle Lebens- und Arbeitswelt. Vertreterinnen der Landwirtschaft werden mit den Aussagen der Gastronomie aus der ersten Befragungsrunde konfrontiert und zu persönlichen Stellungnahmen ermutigt. Die organische Befragungsweise erlaubt es den Forscherinnen flexibel auf die Antworten der Betriebe einzugehen und die Fragen dementsprechend anzupassen. Aus den Antworten der Befragten werden sich wiederholende als auch konträre Beiträge herausgefiltert. Dadurch werden bewährte Arbeitsmuster der Landwirtschaft in Zusammenarbeit mit der Gastronomie gesammelt. Aber auch die Schwächen der Zusammenarbeit in den Schnittstellen der Versorgungsketten sollen offengelegt und mit den Teilnehmerinnen besprochen werden. Mithilfe von Inhalts- und Themenanalysen werden wiederkehrende Muster, erkennbare Trends und einheitliche Motive aus den einzelnen Antworten herausgefiltert, um Hypothesen zur verbesserten Zusammenarbeit der vier Akteursgruppen zu erstellen. Die analysierten Ergebnisse der einzelnen Befragungen werden Anfang des nächsten Jahres in Fokusgruppen besprochen und mit ausgewählten Vertreterinnen, die von den Befragten vorgeschlagen werden, zu einer einheitlichen Strategie zusammengefasst.
Das Ziel von NEST ist es, langfristig einen kurzen Wertschöpfungskreislauf von der Südtiroler Landwirtschaft bis zur Gastronomie zu etablieren. Mithilfe der Hauptvertreterinnen aus wichtigen Sparten des Nahrungsversorgungssystems, kurz NVS, (Landwirtschaft, Logistik, Veredelung, Gastronomie) und in enger Zusammenarbeit mit der Provinz Bozen – Südtirol und der IDM Südtirol, hat sich NEST als Ziel gesetzt ein nachhaltiges, regionales und faires Ernährungssystem zu etablieren. Profitieren sollen am Ende alle: die Landwirtschaft, die diesen Wandel intrinsisch mittragen will, die Gastronomie, die ihren Gästen original lokale und authentische Gerichte anbieten kann, die Touristinnen und Verbraucherinnen, die ein Stück Südtirol in hoher Qualität auf ihrem Teller haben, die Natur, die durch eine abwechslungsreiche Bewirtschaftung ihrer Flächen gesunde Böden und artenreiche Landschaften hervorbringt. Die Philosophie des NEST-Projekts wird dabei durch die doppelten Nexus in Form der wirtschaftlichen Verkettung von Landwirtschaft zur Gastronomie, und der ökologisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge von der Biodiversität bis zum Tourismus vorgegeben.*
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