Schrockn
Schrockn ist eine dieser kleinen und feinen Perlen des lebendigen Kulturerbes, die weitgehend im Verborgenen glänzen. Außerhalb des Schnalstals, so mein Eindruck, ist das Schrockn weitgehend unbekannt. Tatsächlich ist es auf den kleinen Ort Karthaus beschränkt. Ich treffe Paul Schwienbacher, den mit 40 Jahren jüngsten der Karthauser Schrocker, um mehr über diese mystische Tradition herauszufinden.
„Es handelt sich um religiöses Brauchtum“, teilt mir Paul gleich zu Anfang des Gesprächs mit. Dieser Aspekt ist ihm sehr wichtig. „Es geht hier nicht um Folklore, oder darum, irgendwelche touristischen Erwartungen zu bedienen.“ Das Schrockn selbst ist im Grunde ganz einfach: „Wir Schrocker gehen in den Kirchturm, jeder nimmt sich eine der Kirchglocken, und dann versuchen wir, nach den Vorgaben des Taktgebers, des ‚Dirigenten‘, die Glocken gleichzeitig zu schlagen“, erklärt mir Paul.
Er selbst hat vor 20 Jahren das Amt des ‚Dirigenten‘ der Schrocker von seinem Vater übernommen, der Messner der Kirche war. „Ich habe meinen Vater schon als Kind in den Kirchturm begleitet und beim Schrockn zugehört. Seit 1980 war er Schrocker. Nach seinem Tod wollten die damaligen Schrocker eigentlich aufhören – aber dadurch, dass ich übernommen habe, wurde doch weitergemacht.“
Schon einmal hatte die Tradition des Schrockns auf des Messers Schneide gestanden: während des Faschismus. „Da war das Schrockn jahrelang ganz verboten. Dass die Leute nach dem Ende dieser dunklen Zeit wieder damit angefangen haben – das verrät doch viel über die Bedeutung des Schrockns für unsere Identität“, findet Paul. „Inzwischen haben wir sogar einen kleinen Kreis an Patinnen gefunden, die unsere Schürzen und demnächst auch Hüte sponsern, lustigerweise alles Frauen.“ Dabei ist das Schrockn bislang immer rein männlich gewesen. Meist ging es nach dem Tod eines Schrockers auf einen seiner Söhne über, so wie bei Paul auch. „Natürlich sind Frauen nicht vom Schrockn ausgenommen, bloß hatten wir bisher noch keine entsprechende Anfrage“, erklärt er mir. Im Moment sind sie zu sechst: ein Dirigent, fünf Schrocker. „Und drei Aushilfen“, so Paul. „Falls einer mal ausfällt.“
Kein Schrockn ohne Glocken
Inzwischen ist Paul selbst Messner der Pfarrkirche Sankt Anna, der ehemaligen Gesindekirche des Kartäuserklosters Allerengelberg. Sie hat den Brand des Jahres 1924 überlebt, und in ihrem Kirchtum wird geschrockt. Und zwar an hohen religiösen Feiertagen: zu Fronleichnam, Kirchweih und am Herz Jesu-Tag. Hauptfunktion des Schrockns ist es, die örtliche Bevölkerung auf das große Fest aufmerksam zu machen: „Am Tag vorher schrocken wir um 17 Uhr, und dann erneut am Festtag selbst.“ An Kirchweih, dem Annatag, ist das Schrockn untrennbar mit dem Böllern verbunden. „Allerdings sind wir Schrocker wetterunabhängig, während nur bei schönem Wetter geböllert wird“, erklärt mir Paul.
„Früher wurde öfter geschrockt“ Wann genau mit dem Schrockn begonnen wurde, verliert sich im Dunkel der Geschichte. Klar ist nur: Die Anzahl der Gelegenheiten, zu denen geschrockt wird, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verringert. Einige religiöse Feiertage sind inzwischen abgeschafft worden, wie beispielsweise Peter und Paul. „Immer, wenn es eine Prozession gab, haben wir geschrockt. Inzwischen schrocken wir nurmehr drei Mal pro Jahr“, bedauert Paul. Und diese Zahl könnte sich in nicht allzu ferner Zukunft sogar noch vermindern. „Schon jetzt werden die drei Pfarreien von Karthaus, Katharinaberg und Unser Frau in Schnals von einem Pfarrer betreut. Es wird in Zukunft aufgrund des kirchlichen Personalmangels wohl so sein, dass die Prozessionen zu den Festtagen nicht mehr in jedem Jahr in Karthaus stattfindet, sondern quasi in einem Rotationsverfahren zwischen den drei Orten aufgeteilt werden. Daran kann man nichts ändern, aber: Je seltener wir schrocken, umso größer ist das Highlight, wenn wir es dann tun.“
„Kann man denn theoretisch in jedem beliebigen Kirchturm schrocken?“, frage ich Paul. „Nein“, erklärt er mir. „Tatsächlich ist das Schrockn an die Glocken der Sankt Anna-Kirche gebunden. Denn sie verfügt noch über Glocken, bei denen der automatische Mechanismus, über den die Glocken normalerweise zum Klingen gebracht werden, deaktiviert werden kann. So etwas findet man kaum mehr.“
„Während des Faschismus war das Schrockn jahrelang ganz verboten. Dass die Leute nach dem Ende dieser dunklen Zeit wieder damit angefangen haben - das verrät doch viel über die Bedeutung des Schrockns für unsere Identität. Und diese identitätsstiftende Wirkung des Schrockns, die spüren wir auch heute noch.“
Paul Schwienbacher, Karthaus
Auf meine naive Frage, wie man das Schrockn proben kann und wie die örtliche Bevölkerung zwischen Probe und ‚Ernstfall‘ unterscheiden kann, klärt mich Paul auf: „Es gibt keine Proben. Immer wenn wir schrocken, ist das gleich live und zum jeweiligen Anlass. Je nach Tagesform schrocken wir kürzer oder länger. Wenn wir lange schrocken, wird das im Dorf so interpretiert, dass wir die hartnäckigen Wolken durchs Schrockn vertreiben wollen – ob es wolkig ist oder nicht“, verrät er mir mit einem Augenzwinkern.
Etwaige Fehler sind also weithin hörbar – und deshalb setzen die Schrocker alles daran, sie zu vermeiden. „Wir kriegen Kommentare von den Einwohnern – Lob, Tadel, natürlich alles auf einer humorvollen Basis“, erzählt mir Paul. „Aber nicht nur das: Derjenige, der einen Fehler macht, ist im Anschluss ‚eine Runde‘ schuldig.“ Die kann er gleich im Anschluss ans Schrockn im ‚Gasthaus Grüner‘ oder in der ‚Goldenen Rose‘ begleichen, wo sich die Schrocker traditionell nach getaner Arbeit treffen. Dort erhalten sie zum Dank und zur Stärkung von den Wirten traditionell den Schrockerwein.
Hüter der Vielfalt: Paul Schwienbacher und die Schrocker von Karthaus
Einen lebendigen Eindruck vom Schrockn kann man sich unter dem folgenden Link verschaffen: Schrocken in Karthaus/Schnals - YouTube)
Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zur Ausstellung "Hüter der Vielfalt". Diese wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die vom 15. Juli bis 14. Oktober 2022 im Vinschgau und der Val Mustair stattfindet. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.
Die Wanderausstellung wird an folgenden Orten gezeigt:
- 15.–31. Juli 2022: Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
- 06.-07. August 2022: auf dem Festival „Marmor und Marillen" in Laas
- 03.–18. September 2022: auf den Palabiratagen in Glurns
- 02.–14. Oktober 2022: auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava
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