Streuobstanbau
Bittenfelder, Stuttgarter Geißhirtli, Kernechter vom Vorgebirge und viele weitere Obstsorten, von deren Existenz ich nie gehört habe: Ich treffe Lisi und Simon auf ihrem Stück Land südöstlich Tschenglser Gewerbegebiets. Es ist Mitte April und gemeinsam wollen wir zehn Jungbäume in die Streuobstwiese pflanzen, die die beiden hier verwirklichen.
Bis vor wenigen Jahren wuchsen hier noch ‚die üblichen Verdächtigen‘ des Südtiroler Erwerbsobstanbaus: Ein kleines Spektrum ertragsstarker Apfelsorten, auf Hochleistung gezüchtet und in Spindelform kultiviert. Die sind freilich inzwischen mit Stumpf und Stiel gerodet worden – und haben einer großen Vielfalt Platz gemacht. Gut die Hälfte der Fläche wird inzwischen von einem Acker eingenommen, der zunächst einmal zwei Jahre lang ruhen durfte. „Durch Gründüngung haben wir den Boden regeneriert und fit gemacht für eine veränderte Nutzung“, erklärt mir Lisi.
Der andere Teil der Fläche beherbergt eine Reihe Marillenbäume, diverse Heckenpflanzen an den Rändern – und eine große Vielzahl unterschiedlicher Obstbäume, kultiviert als Hoch- und Mittelstamm. „Auf dieser Fläche schwebt uns eine Mischnutzung vor: Milchschafe, die unter den Obstbäumen grasen“, erzählt Lisi. Routiniert schneidet sie Wurzelwerk und Seitentriebe von den Bäumchen ab, die wir gleich in die Pflanzlöcher setzen werden.
Von kreisrunden Zwetschgen, kugelförmigen Äpfeln und pyramidalen Birnen
Obwohl die Pflanzungen noch nicht abgeschlossen sind und die beiden bald weitere Bäume pflanzen werden, zähle ich jetzt schon 23 unterschiedliche Obstsorten. Fast wähnt man sich in einem Sortengarten! „Tatsächlich“, so verrät mir Lisi, „hat uns der Sortengarten Südtirol sehr tatkräftig in unserem Vorhaben unterstützt und unsere teils ausgefallenen Wünsche bedient.“ Darunter finden sich einige Raritäten und Liebhabersorten – sämtlich mit einer spannenden Biografie. Mindestens ins mittlere 17. Jahrhundert beispielsweise reicht die Geschichte des Gravensteiners zurück. Um seine genaue Herkunft ranken sich Mythen – ist er etwa ein Südtiroler, oder doch im Schlossgarten von Gravenstein, der Sommerresidenz der dänischen Könige, entstanden? Und war es wirklich ein Hirte, der die Birnensorte Stuttgarter Ziegenhirtli im mittleren 18. Jahrhundert ‚per Zufall‘ entdeckte? Besonders angetan hat es mir die Fellenberg-Zwetschge: Ein Kleinbaum, der im Erwachsenenalter nahezu kreisförmige Ausmaße besitzt und äußerst zuverlässig sehr geschmackvolle Früchte liefert – und für den Temperaturen bis minus 26 Grad Celsius kein Problem darstellen.
Eines steht jedenfalls fest: Das Obst, das hier geerntet werden wird, ist ein Obst mit Charakter, eines, das Geschichten erzählt. Nicht zuletzt die lange Geschichte der Kultivierung durch den Menschen, ohne die es diese Sorten ja gar nicht gäbe. Tatsächlich reicht die Tradition des Obstbaus viele Jahrtausende zurück. Von den Persern und Ägyptern erwarben die Römer das Wissen rund um die Kultivierung und Nutzung von Obst und brachten es nach Mitteleuropa. Über viele Jahrtausende ist durch das menschliche Tun weltweit ein riesiges Genreservoir an unterschiedlichen, standortangepassten Obstsorten entstanden: unser aller Kulturerbe, auf das wir stolz sein sollten.
Verlorenes Wissen – und die Bereitschaft, es wiederzuerlangen
Auch in Südtirol sind Streuobstwiesen traditionelle Elemente der Kulturlandschaft. Wie überall in Mitteleuropa sind sie allerdings auch hier inzwischen fast sämtlich intensiven Obstanlagen und Siedlungen gewichen, oder ihre Bewirtschaftung wurde aufgegeben.
Damit ist auch das reiche und vielschichtige Erfahrungswissen verloren gegangen: Wie lege ich überhaupt eine Streuobstwiese an, welche Sorten eignen sich für welches Klima, für welche Böden? Wie vermehre ich die Sorten, in welche Richtung züchte ich sie weiter? Auf welche Weise und mit welcher Regelmäßigkeit pflege und bewirtschafte ich meine Streuobstwiese, wie und wann schneide ich meine Bäume? Wie kann ich die Ernte bestmöglich organisieren – bei sehr unterschiedlichen, teils mehrfachen Ernteterminen? Und nicht zuletzt: Wie verarbeite ich die Ernte? Denn eines ist klar: Ein großer Sortenreichtum auf der Wiese führt auch zu einer großen Vielfalt an Möglichkeiten zur Verarbeitung des Obstes. Der Bittenfelder Apfel, den Lisi und Simon gepflanzt haben, eignet sich beispielsweise in erster Linie für Gär- und Süßmost, während der Jakobiapfel in Mus und Strudel eine Hauptrolle spielen möchte. Der James Grieve hingegen kann Basis eines edlen Apfelbrands sein. Das klingt nach einer enormen, für uns Kunden vielversprechenden, für Lisi und Simon als Produzenten sehr herausfordernden Vielfalt!
„Streuobstwiesen sind wunderschöne Kulturlandschaftselemente. Als Ästheten können wir also eigentlich gar nicht anders, als unser Obst in dieser Form zu kultivieren.“
Elisabeth Prugger & Simon Platter, Tschengls & Eyrs
Ganz offensichtlich ist die Bereitschaft, permanent dazuzulernen, die eigene Perspektive beständig zu erweitern und gegebenenfalls zu verändern, von essenzieller Wichtigkeit, wenn man sich in der heutigen Zeit auf das ‚Abenteuer‘ Streuobstanbau einlässt. Und eine ordentliche Portion Mut! „Wir wachsen an den Erfahrungen, die wir tagtäglich machen. Dabei sehen wir Fortbildungen ganz generell als eine wesentliche Aufgabe von Bäuerinnen und Bauern an. So schaffen wir es, unsere Wahrnehmungen auf den Feldern besser zu begreifen und auch in Worte zu fassen. Wir lernen Zusammenhänge zu erkennen und zu erklären. Deshalb hat die Bildungsarbeit einen so hohen Stellenwert für uns“, erläutern mir die beiden. Als Kunden werden wir mithin bei Lisi und Simon weit mehr erwerben als ‚nur‘ gesundes, frisches Obst von besonderen Bäumen: vielmehr ermöglichen die beiden es uns, zu verstehen, warum es in einem Jahr vielleicht keine Gravensteiner Äpfel geben wird, und zwar weil der Baum pausiert. Sie ermöglichen es uns, zu erkennen, dass es auch noch im späten September erntefrische Pfirsiche aus Tschengls geben kann. Und nicht zuletzt ermöglichen sie es uns, zu akzeptieren, dass Obst eine Saison hat – eine Saison freilich, auf die wir uns freuen dürfen. Beispielsweise auf Anfang August, wenn es die Stuttgarter Geißhirtli nur für wenige Wochen pflückfrisch vom Baum gibt.
So kann sich auch der Standpunkt, die Perspektive von uns persönlich, die wir täglich im vermeintlichen Paradies des Vollsortiments leben, verändern: Indem wir die Bäume nicht einfach nur als ‚Produzenten‘ ansehen, sondern als Lebewesen begreifen, die ihre spezifischen Eigenheiten und Bedürfnisse haben. Dies zu respektieren und zu akzeptieren, bedeutet den Grundstein für einen ethischen Umgang mit ihnen und, darauf basierend, auch mit allen anderen Lebewesen, mithin einer veränderten Haltung dem Leben gegenüber insgesamt.
Kann es sein, dass nicht nur wir die Bäume erziehen, durch Züchtung, Kultivierung und bestimmte Baumschnitte, sondern sie auch uns – wenn wir sie gewähren lassen?
Eine Form des friedlichen Widerstands
Lisi und Simon haben bewusst auch Obstbäume gewählt, die hervorragende Pollenspender sind: Mit ihren unterschiedlichen Blühzeiten bieten sie den Insekten über viele Wochen im Jahr einen reich gedeckten Tisch. „Die Insekten sind natürlich ein zentraler Baustein für uns – und nicht nur für die Obstproduktion, wenn wir den Hof als ganzheitlichen Organismus begreifen. Die Pflanzung besonders pollenreicher Sorten ist für uns ein Bekenntnis dazu, dass in einer holistisch gedachten Wirtschaft engste Bezüge zwischen den einzelnen Akteuren bestehen. Durch so eine Denkweise tritt die Wirtschaft aus dem Schatten der Geldökonomie heraus und begreift sich als ein Ganzes“, fassen die beiden ihren Standpunkt zusammen. Auf diese Weise wird ihre Form des Wirtschaftens zu einer Form des friedlichen Widerstands, eines Widerstands, der den vielfältigen Krisen unserer Zeit mit kreativen Lösungen und engagierten Taten entgegentritt.
„Wir sind Ästheten“
Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild dieser Fläche in 20 Jahren – wenn die Fellenberg-Zwetschge ihr Erwachsenenalter erreicht und mithin fast kreisrunde Form erhalten hat, nebenan der Jakobiapfel steht mit seiner hochkugeligen Krone, überragt von der Butterbirne, der Frühen von Trévoux, mit ihrem hohen, pyramidalen Wuchs. „Nicht zuletzt sind Streuobstwiesen wunderschöne Kulturlandschaftselemente“, meint Lisi augenzwinkernd zum Schluss. „Als Ästheten können wir also eigentlich gar nicht anders, als unser Obst in dieser Form zu kultivieren.“
Hüter der Vielfalt: Elisabeth Prugger & Simon Platter, Tschengls & Eyrs
Die Pflanzung von Hochstamm-Obstbäumen in einer großen Vielfalt ist nur eine von zahlreichen Aktivitäten von Lisi und Simon, und de facto auch nur eines von mehreren Beispielen für lebendiges Kulturerbe, das die beiden pflegen: Unter anderem nämlich vermehren sie das Saatgut für ihr Gemüse inzwischen selbst und setzen auch hierbei vermehrt auf alte, traditionsreiche Sorten. Ihre Erzeugnisse kann man auf den Wochenmärkten in Mals, Prad, Meran, Landeck und Bozen erwerben; im Vinschgau erhält man sie auch direkt am Ackerle in Tschengls oder über ein wöchentliches Gemüsekistenabo, in Tschengls, Eyrs und Laas stilecht ausgeliefert mit dem E-Bike. Mehr Informationen zu ihren Aktivitäten sind zu finden auf ihrer Webseite, über die sich auch ein Newsletter abonnieren lässt.
Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zur Ausstellung "Hüter der Vielfalt". Diese wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die vom 15. Juli bis 14. Oktober 2022 im Vinschgau und der Val Mustair stattfindet. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.
Die Wanderausstellung wird an folgenden Orten gezeigt:
- 15.–31. Juli 2022: Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
- 06.-07. August 2022: auf dem Festival „Marmor und Marillen" in Laas
- 03.–18. September 2022: auf den Palabiratagen in Glurns
- 02.–14. Oktober 2022: auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava
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