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Tour Guides gestern und heute: Vom Wegweiser zum Choreographen von Urlaubserinnerungen

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Tour Guides gestern und heute: Vom Wegweiser zum Choreographen von Urlaubserinnerungen
Atacama WüsteCredit: | All rights reserved

Wir sind im Norden Chiles. Maria, unsere Reiseleiterin bzw. Tour Guide, führt uns durch unwegsames Gelände, hinab in eine Art Canyon. Es ist heiß. Furchtbar heiß hier in der Atacama Wüste. Das Gestein ist sandfarben, bröckelig, staubig. Über uns der azurblaue Himmel. Wolkenlos. Die Sonne scheint über den Canyon, scheint über uns hinweg. Endlich etwas Abkühlung. Schatten auf dem Weg hinunter in die Schlucht. Maria nimmt Platz. Wir setzen uns. Maria sagt nichts mehr. Nach und nach verstummen alle Menschen um mich herum. Wir sitzen. Warten. Es ist unangenehm. Niemand sagt etwas. Dieser Moment, nicht wissen, wie es weiter geht. Nicht wissen, auf was warten. Stille. Absolute Stille. Und dann. Knackt es. Noch einmal. Und noch einmal. Dann wieder Stille. Das Gestein, es lebt. Ein unvergessener Moment. Einer von vielen Augenblicken auf dieser Reise, aber dieser hat mich am meisten beeindruckt. In Gedanken und Gefühlen versetzen mich die obigen Zeilen wieder in die Atacama Wüste, zusammen mit einer Gruppe von Menschen – und mit Maria, unserer Reiseleiterin mehrerer Tagestouren in der Umgebung von San Pedro de Atacama.

Wie sehr eine Reise in Erinnerung bleibt, hängt von verschiedenen Faktoren ab und wird sicherlich immer individuell bewertet. Mir bleiben die Erinnerungen, nicht nur, weil es mein erster, bisher einziger Chilebesuch war. Sondern vor allem, weil ich mich an Geschmack, Gerüche, Gefühle erinnere: an die übergroße Karaffe frischen Mango-Safts, an den Pebre – eine Art Brotaufstrich aus Koriander, gehackten Zwiebeln, Olivenöl, Knoblauch, würzigen Paprikaschoten, gehakten Tomaten – ebenso wie an den Anblick des Mondes durch ein vielfach vergrößerndes Teleskop und den merk-würdigen Satz einer Astronomin eines ganz kleinen Observatoriums im Valle de Elqui, nachdem sie uns auf anschauliche, unterhaltsame und gleichwohl professionelle Weise die schier unbegreifliche Weite des Universums vermittelt hatte, in dessen Vergleich wir Menschen auf der Erde kleiner als ein Sandkorn und unser Dasein kürzer als ein Wimpernschlag sind: „Ihr werdet Euch jetzt unbedeutend klein fühlen. Doch jeder und jede von Euch ist ein großartiger, einmaliger Mensch. Jeder hat seine Bestimmung und kann in der Welt etwas bewegen, für andere da sein und seine Träume verwirklichen.“ [Wiedergabe sinngemäß]

Entscheidend war bei diesen Erlebnissen, auf Orts-, Sprachkenntnisse und Erfahrungen von Einheimischen Guides und lokalen Experten zu vertrauen, die an Kulturstätten, Naturdenkmäler, kleine unscheinbare Orte führten und Einblicke in das alltägliche Leben der Einheimischen gewährten und für den Wassermangel in der Wüste sensibilisierten, wobei man immer das Gefühl hatte, diese Tour macht der Guide jetzt erst- und einmalig nur für meine Mitreisenden und mich. Hätte ich dasselbe auch ohne einen erfahrenen Guide erlebt? Vielleicht. Vielleicht hätte ich andere Erinnerungen gesammelt oder Einheimische auf andere Weise kennengelernt. Dennoch spricht vieles für eine professionelle Reisebegleitung bzw. -führung auf einer Fern-, Rundreise oder auch dem kurzen Städtetrip.

Reiseleiter und Fremden- bzw. Gästeführer sind zwei Berufe, die in der (Tourismus)Geschichte eine lange Tradition haben. Die frühen Ursprünge werden im griechisch-römischen Altertum vermutet, als Einheimische als sogenannte „Wegweiser“ Reisende sicher und unversehrt durch unbekanntes Terrain führten. Solche Wegweiser tauchten vor allem mit der Ausweitung des Reisens im Zeitalter der „Grand Tour“ im 17./18. Jahrhundert wieder auf. Als Mentoren bzw. Tutoren begleiteten sie den europäischen Jungadel und Angehörige des gehobenen Bürgertums auf Bildungsreisen. Ziele waren insbesondere bedeutende europäische Städte, malerische Landschaften südlicher Länder oder die europäischen Fürstenhöfe. Die „Grand Tour“ diente der Vertiefung von Bildung ebenso wie Forschungszwecken und dem Austausch unter Fachkollegen aus anderen Ländern. Seitdem ist die Tätigkeit des modernen Tour Guide anspruchsvoller, umfangreicher, vielfältiger geworden und hat an Dynamik gewonnen, wie australische Forscher analysiert haben (Weiler & Black 2015). Sie setzt auch eine entsprechende (Aus)Bildung, kontinuierliche Weiterbildung und zudem meist eine Prüfung voraus. Insbesondere in der heutigen, von der Experience Economy geprägten Zeit müssen Unternehmer – Guides sind meist Kleinstunternehmer – erinnerungswürdige Ereignisse für ihre Kunden orchestrieren, wobei die Erinnerung, also das „Erlebnis“ (experience) selbst zum verkauften Produkt wird (Pine & Gilmore 1999). Für den Guide reicht es nicht mehr aus, seine umfangreichen Geschichts- und Ortskenntnisse einseitig als Vortrag einer stummen Zuhörerschaft zu kommunizieren. Um die Bedürfnisse und Erwartungen von Tour-Teilnehmern auch im 21. Jahrhundert noch zu befriedigen, muss er laut aktuellem Forschungsstand vielmehr ein hochqualifizierter Broker, d. h. Vermittler werden von Verständnis, Begegnungen, Empathie und physischem Zugang werden. Letzteres meint, dass eine geführte Tour alle Sinne anspricht, der Teilnehmer einen Ort fühlt, schmeckt und riecht, wie mit Maria im Canyon. Dabei sind vor allem Kommunikationsfertigkeiten gefragt: verbale und nonverbale Präsentationsfähigkeiten, Interpretations-, Anpassungs- wie auch Improvisationsfähigkeiten. Ebenso relevant ist die lokale Vernetzung mit Experten, wie das Beispiel des Observatoriums im Valle de Elqui zeigt. So werden Führungen auf den Teilnehmer zugeschnitten, personalisiert und binden ihn ein, mit der Wirkung, dass sie unvergessen bleiben und als Mehrwert für die eigene persönliche Entwicklung verstanden werden.

Anpassungsfähigkeit zeigen Reiseleiter und Gästeführer jüngst auch in der aktuellen COVID-Pandemie. Manche Guides haben (vorübergehend) den Job an den Nagel gehängt. Andere wiederum konnten das Auftragsloch überbrücken und die Zeit für berufliche wie persönliche Weiterentwicklung nutzen und auch, um darüber zu reflektieren, welche Auswirkungen die Pandemie kurz, mittel- und langfristig für sie hat und welche Möglichkeiten sich dadurch für innovative Tour-Formate und neue Zielgruppen öffnen. Hoffentlich gehört Maria zur zweiten Gruppe.

Dies ist der Start einer Serie über die Themen Gästeführung, Reiseleitung, Stadtführungen, die unter dem englischen Begriff „Tour Guiding“ vereinfacht zusammengefasst werden können.

Miriam Weiss

Miriam Weiss

Miriam L. Weiss arbeitet seit mehreren Jahren als Researcherin am Institut für Regionalentwicklung von Eurac Research. Sie ist Teil der Forschungsgruppe Space & Society und forscht vor Allem im Bereich Tourismus und Nachhaltigkeit.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b48866916
Weiß, M. L. Tour Guides gestern und heute: Vom Wegweiser zum Choreographen von Urlaubserinnerungen. https://doi.org/10.57708/B48866916

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