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Atherosklerose in neuem Licht

Die Erkrankung begleitet die Menschheit seit Jahrtausenden, zeigen zwei Studien an Mumien

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Das Labor für alte DNA im Institut für Mumienforschung von Eurac Research

Credit: Eurac Research | Ivo Corrà

Ivo Corrà
by Rachel Wolffe

In zwei Studien wurden Mumien aus sieben verschiedenen Kulturen untersucht, eine Zeitspanne von mehr als 5.000 Jahren umfassend; bei über einem Drittel war eine eindeutige oder wahrscheinliche Atherosklerose festzustellen. Einige genetische Risikofaktoren für Atherosklerose waren bei allen untersuchten mumifizierten Überresten vorhanden.

Die Untersuchung moderner Krankheiten führte eine Gruppe von Fachleuten aus Kardiologie, Radiologie und Ägyptologie – die HORUS-Gruppe – auf überraschende Wege: von 3.200 Jahre alten Pharaonen zu Dörfern hoch in den bolivianischen Anden. Der Kardiologe Gregory Thomas, einer der Gründer von HORUS, berichtet über den Ursprung und die Ergebnisse der Gruppe, Christina Wurst, Molekulargenetikerin am Institut für Mumienforschung von Eurac Research, erklärt die verschiedenen Techniken, die sie mit ihrem Forschungsteam zur Untersuchung der Atherosklerose in alten menschlichen Überresten einsetzte.

Herr Thomas, wie ist die HORUS-Gruppe entstanden?

Gregory Thomas: Es war 2008: Im Ägyptischen Museum in Kairo las ich auf der Namenstafel von Merenptah, einem Pharao von 1200 v. Chr., dass er Atherosklerose hatte. Ich konnte es nicht glauben: Woher sollte man das überhaupt wissen? Er hatte vor 3200 Jahren gelebt, es gab keine Zigaretten, keine Trans-Fette und er war sehr aktiv. Keiner der Faktoren, die wir für Herzprobleme oder Atherosklerose verantwortlich machen, war gegeben. Mit meinem Gastgeber, dem ägyptischen Kardiologen Adel Allam, überlegte ich, wie man überprüfen könnte, ob der Pharao tatsächlich Atherosklerose hatte. Wir kamen auf Kalzium-Scoring, also die Messung von Kalzium in den Arterien. Wir überlegten: „Kalzium ist ein hartes Element, vielleicht ist also noch etwas davon im Körper vorhanden. Mit einem CT-Scan der Mumie könnten wir es überprüfen.“ Ich stellte ein Team von Kardiologen aus den USA zusammen, Experten auf dem Gebiet der Forschung und der Atherosklerose, und Adel Allam ein Team von Ägyptologen. Dann begannen wir mit dem Scannen. Es gibt kein Buch, in dem erklärt wird, wie man Mumien scannt, aber bei der siebten Mumie erkannten wir, dass sich oberhalb der Wirbelsäule eine pfannkuchenartige Struktur befand. Es stellte sich heraus, dass es sich um die Aorta handelte, die größte Schlagader im Körper – und wir sahen Kalk darin: Diese Mumien hatten tatsächlich Atherosklerose!

Eine von HORUS geleitete Studie, die in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern von Eurac Research entstand, wurde kürzlich im European Heart Journal veröffentlicht. Was erklärt sie?

Thomas: Wir haben die CT-Scans von 237 erwachsenen Mumien aus aller Welt analysiert und bei mehr als 37 Prozent von ihnen eine eindeutige oder wahrscheinliche Atherosklerose festgestellt. Wir untersuchten sieben alte Kulturen, die 4.000 Jahre zurückreichen. In allen Kulturen gab es Atherosklerose. Von den amerikanischen Ureinwohnern Arizonas und Utahs über Peruaner, die vor 500 Jahren fast wie in der Steinzeit in Steinhäusern lebten, bis hin zu den Bewohnern der Aleuten – in all diesen Kulturen gab es, wie im alten Ägypten, verstopfte Arterien. In anderen Kulturen ebenso: in Italien, verschiedenen Teilen Südamerikas, der Mongolei. In Inuit-Gemeinschaften vor 500 Jahren, die in Iglus in Grönland lebten, hatten Menschen Atherosklerose, obwohl sie erst in ihren Zwanzigern waren, als sie starben. Wir haben Atherosklerose auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis und Australiens gefunden – wahrscheinlich, weil wir von dort nur eine Mumie untersucht haben. Diese Ergebnisse haben verändert, wie Kardiologen auf der ganzen Welt über Atherosklerose denken – wir können nicht einfach dem Lebensstil die Schuld geben, der Mensch trägt eine genetische Veranlagung in sich.

Kardiologen auf der ganzen Welt denken jetzt anders über Atherosklerose – wir können nicht einfach dem Lebensstil die Schuld geben, der Mensch trägt eine genetische Veranlagung in sich.

Gregory Thomas, Kardiologe und Gründer der HORUS-Gruppe
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Eine Mumie wird für den CT-Scan vorbereitet.Credit: Eurac Research | JG.Estellano - www.estejuanga.com
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CT-Analysen liefern Hinweise, wie die Menschen in früheren Epochen lebten, und neue Informationen zu Krankheiten, die uns noch heute betreffen.Credit: Eurac Research | JG.Estellano - www.estejuanga.com
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Das internationale und interdisziplinäre Team, das einige der CT-Scans durchgeführt hat: Mitglieder der HORUS-Gruppe, Forschende von Eurac Research und ein Team des bolivianischen Nationalmuseums für Archäologie.Credit: Eurac Research | JG.Estellano - www.estejuanga.com

Frau Wurst, Ihre neueste Studie befasst sich genau mit dieser genetischen Veranlagung für Atherosklerose: Was genau haben Sie untersucht?

Christina Wurst: Wir haben im Erbgut von Mumien aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen gezielt nach genetischen Varianten gesucht, von denen man mittlerweile dank genomweiter Assoziationsstudien weiß, dass sie bei modernen Menschen zu einem erhöhten Risiko für Atherosklerose beitragen. Wir wollten sehen, ob auch unsere Vorfahren diese Risikovarianten schon in sich trugen bzw. wann es welche Veränderungen gab, denn das hilft uns, die Rolle der Genetik in der Entwicklung der Krankheit besser zu verstehen.

Wie sind Sie vorgegangen?

Wurst: Wir haben die DNA von 22 Mumien untersucht: aus Ägypten, Peru, Bolivien, der Schweiz, Australien und den Alpen – das war Ötzi. Wir haben also die Welt so ziemlich abgedeckt, und auch ganz verschiedene Zeitperioden. Normalerweise extrahieren wir alte DNA gerne aus dem Felsenbein, einem sehr harten Knochen im Schädel, weil sich dort meist am besten körpereigenes Erbgut erhalten hat. Auch Zähne sind erfolgversprechend. Aber bei den ägyptischen Mumien wäre dies nicht möglich gewesen, ohne sie auszuwickeln und weiter zu zerstören, also haben wir mit Computertomographie und Endoskopie gearbeitet und uns mit dem begnügt, was wir bei minimalinvasiver Beprobung bekommen konnten. Da alte DNA nur noch in winzigen Fragmenten und vermischt mit dem Erbgut anderer Organismen vorhanden ist, wendeten wir dann einen eigens entwickelten Anreicherungsansatz an, um die gesuchten genetischen Varianten aus dem DNA-Gemisch herauszufischen.

Thomas: Unser Team untersuchte auch die Tsimané – einen 14 000 Menschen zählenden Stamm aus Jägern und Bauern, der im Tiefland der Anden in Bolivien lebt. Es gibt keine Geburtenkontrolle, die Frauen haben im Durchschnitt neun Kinder. Und die Kinder laufen den ganzen Tag frei herum. Der Lebensstil der Tsimané unterscheidet sich nicht allzu sehr von unserem vor hundert Generationen. Dies ermöglicht es uns, in der Zeit zurückzugehen, und die Atherosklerose in dieser Kultur in Verbindung mit ihrem aktiven Lebensstil zu betrachten. Sie bewegen sich durchschnittlich sieben Stunden am Tag und haben ebenfalls Atherosklerose, wenn auch in der Regel nur in leichter Form. Atherosklerose ist zwar in den Genen des Menschen angelegt, aber Mike Miyamoto vom Horus-Team brachte es auf den Punkt: „Man will mit Atherosklerose sterben, nicht wegen ihr.“

Frau Wurst, haben Sie in allen Mumien Risikovarianten gefunden?

Wurst: Ja, in Mumien aller Zeitperioden und Herkunftsregionen waren solche Risikovarianten vorhanden. Das allein ist aber noch nicht sehr aussagekräftig. Diese Variationen im Genom haben nämlich einzeln betrachtet unterschiedlich starke, aber immer nur minimale Auswirkungen – ausschlaggebend ist ihr kombinierter Effekt. Durch eine sogenannte gewichtete polygene Risikoabschätzung kann man die individuelle genetische Veranlagung für die Entwicklung der Erkrankung ermitteln. Diesen Risk Score haben wir für alle Mumien berechnet, die noch genügend humane DNA enthielten, und die Werte anschließend mit denen von heutigen Menschen verglichen. Damit konnten wir den Mumien ein nach heutiger Definition hohes, mittleres oder niedriges Risiko zuordnen. Ötzi war eine von zwei Mumien mit der deutlichsten genetischen Veranlagung für Atherosklerose – er ist 5300 Jahre alt, also mindestens so lange tragen wir diese Veranlagung schon in uns.

Thomas: Wir werden mit dieser Veranlagung geboren, aber wir müssen nicht daran sterben. Warum haben wir also diese Gene? Um auf Charles Darwin und seine Kollegen zurückzukommen: Das Wichtigste für eine Spezies ist, dass sie sich fortpflanzt und Gene hat, die das Überleben der Spezies sichern. Nun, Atherosklerose hält uns nicht am Leben, aber wenn sie unseren Tod oder andere Probleme verursacht, dann in der Regel erst, nachdem wir Kinder bekommen haben. Einige dieser Gene sind ein zweischneidiges Schwert: Früh im Leben sind sie nützlich und helfen uns, Infektionen zu bekämpfen, so dass wir nicht an einer Kinderkrankheit wie Diphtherie, Tuberkulose oder Pocken sterben. Bei Atherosklerose verursacht Cholesterin, das sich an den Arterienwänden festsetzt, eine Entzündung. Wenn wir genetisch bedingt eine starke Entzündungsreaktion haben, die uns so lange am Leben erhält, bis wir Kinder bekommen können oder bis unsere Kinder erwachsen sind und ihre eigenen Kinder bekommen können, die uns aber in unseren Fünfzigern oder Sechzigern Probleme bereitet, dann mag das für ältere Menschen schlecht sein, aber für uns als Spezies ist es gut. Dieses Konzept wird als antagonistische Pleiotropie bezeichnet.

Diese Variationen im Genom haben einzeln betrachtet unterschiedlich starke, aber immer nur minimale Auswirkungen – ausschlaggebend ist ihr kombinierter Effekt.

Christina Wurst, Molekulargenetikerin am Institut für Mumienforschung von Eurac Research
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"Normalerweise extrahieren wir alte DNA gerne aus dem Felsenbein, einem sehr harten Knochen im Schädel, weil sich dort meist am besten körpereigenes Erbgut erhalten hat."Credit: Eurac Research | Ivo Corrà
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vermischt mit dem Erbgut anderer Organismen vorhanden.Credit: Eurac Research | Marion Lafogler
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Christina Wurst und ihr Team wendeten einen eigens entwickelten Anreicherungsansatz an, um die gesuchten genetischen Varianten aus dem DNA-Gemisch herauszufischen.Credit: Eurac Research | Ivo Corrà

Frau Wurst, obwohl Sie die DNA der Mumien untersucht haben, spielten die CT-Ergebnisse auch in Ihrer Studie eine Rolle ...

Wurst: Die Ergebnisse der Computertomographie waren eine wichtige Bestätigung unserer Resultate: Die Mumien mit der ausgeprägtesten genetischen Veranlagung für Atherosklerose waren nämlich auch jene, die Verkalkungen in den Arterien aufwiesen. Das zeigt, dass unsere Methode stimmig ist und künftig auch auf Skelette angewendet werden kann – die stehen der Forschung ja viel häufiger zur Verfügung als Mumien. Dieser neu entwickelte Ansatz wird daher in Zukunft zu einem besseren Verständnis beitragen, wie die Wechselwirkung zwischen Umwelteinflüssen und Genetik die Entwicklung von Atherosklerose beeinflusst.

Gregory S. Thomas

Gregory S. Thomas ist emeritierter medizinischer Direktor des MemorialCare Heart & Vascular Institute of Southern California und klinischer Professor für Medizin (Kardiologie) an der University of California. Seine Forschungsarbeit reicht von Atherosklerose über Stresstests bis hin zur Mumienforschung und spiegelt sich in ≈250 Veröffentlichungen wider. Am bekanntesten ist er vielleicht für seine Rolle als leitender Forscher des HORUS-Mumienforschungsteams. Die Arbeit des Teams, das CT-Scans von etwa 350 Mumien aus aller Welt auswertete, lieferte zahlreiche wertvolle neue Erkenntnisse über die Krankheiten von heute, insbesondere über Herzerkrankungen. Diese Arbeit wurde in The Lancet, JAMA und anderen renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht, was zu einer breiten Berichterstattung in der Presse führte, darunter zwei Titelgeschichten im Wall Street Journal.

Christina Wurst

Christina Wurst ist Doktorandin am Institut für Mumienforschung von Eurac Research. Sie hat einen Bachelor-Abschluss in Biologie und einen Master-Abschluss in Anthropologie mit einer Spezialisierung in Archäogenetik. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Untersuchung der menschlichen Vergangenheit, insbesondere der Entwicklung genetischer Erkrankungen wie der genetischen Prädisposition für Atherosklerose in alten Populationen. In diesem Zusammenhang hat sie mit mumifizierten menschlichen Überresten aus fast allen Teilen der Welt gearbeitet und war an der Entwicklung und Verbesserung von Arbeitsabläufen für die Analyse von alter DNA beteiligt, einschließlich Probenentnahme, Laborarbeit und bioinformatische Analysen.

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