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1972 ff.

Das Autonomy Dashboard South Tyrol zeigt das autonome Südtirol im Spiegel der Statistik

Annelie Bortolotti
Credit: Eurac Research | Annelie Bortolotti
by Barbara Baumgartner

Mehr Vielfalt in der Bevölkerung und weniger Macht für die Volkspartei: Einige Veränderungen der letzten Jahrzehnte konnten niemandem entgehen. Aber wie sahen die Entwicklungen in Bezug auf Demografie und Sprachgruppen, Politik, Verwaltung und Wirtschaft im Detail aus? Mit jeder Menge Daten aus verschiedenen Quellen führt eine neue Plattform Trends vor Augen und ermöglicht Vergleiche. Nützlich für Forschung, Monitoring und Faktencheck – oder einfach, um sich ein eigenes Bild zu machen. Jakob Volgger war federführend bei der Entwicklung.

Wie ist die Idee des Dashboards entstanden?

Jakob Volgger: Autonomie wird oft als etwas Trockenes, vielleicht sogar Fades wahrgenommen – und das stimmt ja auch, sie hat viel mit Recht und administrativen Vorgängen zu tun. Aber sie hat auch ganz direkte gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen, und die wollten wir mit Zahlen sichtbar machen. So sind wir auf die Idee des Dashboards gekommen. Bei der Entwicklung hatten wir dann wertvolle Unterstützung aus der Kommunikationsabteilung. Das Dashboard gibt es auch auf Englisch, denn die ausländischen Delegationen, die uns besuchen, sind immer an Zahlen interessiert und viele Statistiken zu Südtirol waren bislang nur auf Italienisch und Deutsch verfügbar. Das Dashboard kann also ein Tool für Forschende aus der ganzen Welt sein. Es richtet sich aber an keine bestimmte Zielgruppe – mit seinen sehr zugänglichen Infografiken ist es für alle gedacht, die interessiert sind.

 Woher stammen die Daten?

Volgger: Sämtliche Daten gab es schon, wir haben keine neuen erhoben, nur manchmal neu ausgewertet. Der Großteil stammt vom Südtiroler Landesamtes für Statistik ASTAT und vom italienischen Statistikinstitut Istat, aber wir haben auch viele andere Quellen herangezogen, etwa Berichte des Rechnungshofs. Wir haben versucht, vor allem von 1972 an, als das Zweite Autonomiestatut in Kraft trat, so vollständige Datenreihen wie möglich zu erstellen, um die Entwicklung nachzuzeichnen. Das ist nicht immer möglich, denn die Definition von Indikatoren hat sich manchmal geändert, sodass die Zahlen nicht mehr vergleichbar sind. Zumindest einmal im Jahr werden wir die Daten aktualisieren und so die Trends weiterverfolgen. Sollten interessante neue Daten verfügbar sein, werden wir sie aufnehmen. Vielleicht ist das Dashboard ja auch ein Anreiz, bestimmte für die Autonomie interessante Daten zu erheben, um Entwicklungen zu verfolgen. Also in diesem Sinn ist es auch ein Monitoring-Instrument.

 In welcher Hinsicht hat Südtirol sich in den vergangenen Jahrzehnten am stärksten verändert?

Volgger: Ein ganz wichtiger Aspekt sind sicher die demografischen Veränderungen; die im Dashboard dargestellten Daten zeigen, dass viele Menschen mit italienischer Staatsbürgerschaft aus Südtirol ins Ausland abwandern, und dass rund 80 Prozent der im AIRE (Anagrafe degli italiani residenti all’estero) registrierten Südtirolerinnen und Südtiroler in Deutschland, Österreich und der Schweiz leben, also im deutschsprachigen Ausland. Hier kann dann jeder selbst interpretieren, was das für eine Minderheitenregion bedeutet.
Gleichzeitig sehen wir, dass Südtirol nur dank der Zuwanderung von Menschen aus dem In- und Ausland noch ein positives Bevölkerungswachstum aufweist. Also Südtirol verändert sich demografisch sehr stark. Ein Indikator, der mir persönlich erst durch die Recherchen für das Dashboard aufgefallen ist, ist „Wohnbevölkerung nach Geburtsregionen“: Von den Menschen, die heute in Südtirol leben, wurden nur gut 77 Prozent schon hier geboren; viele sind in den letzten Jahrzehnten nach Südtirol gekommen. Sehr deutlich verändert hat sich auch die politische Landschaft – von der starken SVP 1948, mit 67,6 Prozent der Stimmen, zur heutigen SVP mit 34,5 Prozent; auch die politische Diversität hat also zugenommen. Das ist keine neue Entdeckung, aber die Visualisierung führt es besonders eindrücklich vor Augen. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es – das trifft auch auf Datenvisualisierungen zu, denke ich.



Binnenmigration italienischer Staatsbürger*innen

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Der Begriff Binnenmigration bezieht sich im Allgemeinen auf die Migration innerhalb eines Staates. Im Südtiroler Kontext bezieht sich die Binnenzuwanderung auf Personen, die ihren Wohnsitz von einer anderen Region Italiens nach Südtirol verlegen. Die Binnenabwanderung beschreibt das umgekehrte Phänomen: Personen verlegen ihren Wohnsitz von Südtirol in eine andere Region Italiens. Der Wanderungssaldo gibt die Differenz von Binnenzuwanderung und -abwanderung an.



Welche Veränderungen wirken sich besonders auf Autonomie und Minderheitenschutz aus?

Volgger: Generell ist zu sagen: Wir haben in Südtirol eine sogenannte Territorialautonomie, also sie gilt für alle Menschen, die im Land leben; und wenn sich die Gesellschaft verändert, dann hat das natürlich auch Auswirkungen darauf, wie Autonomie gestaltet und gelebt wird. Die größere Vielfalt durch Zuzug ist also eine Entwicklung von besonderer Bedeutung, und ich denke, es ist wichtig, genau zu erfassen: Was passiert da?
Denn mit der gesellschaftlichen Diversität geht auch eine neue sprachliche Vielfalt einher. Und da stellen sich für Südtirol verschiedene Fragen, weil wir ja in diesem Schema der drei Sprachgruppen denken: Deutsch, Italienisch, Ladinisch. Und diese Unterteilung in die drei Sprachgruppen hat vielfältigste Auswirkungen, eben auf die Sprachgruppenzählung und damit zusammenhängend den ethnischen Proporz, also die Verteilung von öffentlichen Ressourcen und Arbeitsstellen nach Sprachgruppen. Bisher hat es da jedoch keine großen Veränderungen ergeben, die Sprachgruppen sind mehr oder weniger gleich geblieben. Auf die Ergebnisse der letzten Zählung warten wir gerade. Man muss jedoch dazu sagen, dass die Sprachgruppenzählung aus verschiedenen Gründen nicht geeignet ist, um die tatsächliche sprachliche Vielfalt Südtirols abzubilden.
Wie sich die neue Vielfalt in Zukunft auswirken wird, ist jedenfalls eine spannende Frage, auch in Zusammenhang mit dem Proporz, der ja auch immer wieder diskutiert wird.

 Was sagen denn die Daten zum Proporz?

Volgger: Schaut man die vergangenen Jahrzehnte an, so sieht man, dass bei den Lokalverwaltungen, etwa der Landesverwaltung und den Gemeinden, der ethnische Proporz durchaus eingehalten wird – auch wenn die ladinische Minderheit dort immer etwas unterrepräsentiert ist, also sie erreicht nie ganz die 4,5 Prozent Stellenanteil, die ihr zustehen würde. Bei den öffentlichen staatlichen Einrichtungen gibt es Abweichungen zu den Vorgaben des ethnischen Proporz; doch weil die Zahl der staatlichen Bediensteten in Südtirol immer weiter zurückgegangen ist, fallen sie weniger ins Gewicht. Das entbindet die staatlichen Einrichtungen natürlich nicht von der Pflicht, den ethnischen Proporz, wo vorgesehen, einzuhalten.
Eine kleine Abweichung haben wir auch im Sanitätsbetrieb; die Zahlen von 2022 zeigen, dass 66 Prozent im Sanitätsbetrieb der deutschen Sprachgruppe angehören, laut Sprachgruppenzählung sollten es 69 Prozent sein. Dies ist ein Beispiel für die mittlerweile flexiblere Anwendung des Proporzsystems.

Öffentlich Bedienstete in den Lokalverwaltungen

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Die Stellen in den öffentlichen Lokalverwaltungen Südtirols müssen entsprechend der Größe der Sprachgruppen, wie sie bei der Sprachgruppenzählung erhoben wird, besetzt werden. Zu den Lokalverwaltungen zählen die Landesverwaltung, die Gemeinden, der Sanitätsbetrieb, die Lehrpersonen in Schulen staatlicher Art (Grund-, Mittel- und Oberschule) und sonstige Lokalkörperschaften.




Finden manche der dargestellten Entwicklungen in Ihren Augen in der öffentlichen Debatte zu wenig Beachtung?

Volgger: Das würde ich so nicht sagen, und ist auch nicht meine Aufgabe zu bewerten. Unser Ziel beim Dashboard war eine neutrale Darstellung; also wir beschreiben die Indikatoren technisch und kontextualisieren sie, aber wir haben bewusst keine Interpretationen vorgenommen, weil jede und jeder sich selber eine Meinung bilden soll.
Das Dashboard liefert also die Datenbasis. Der ethnische Proporz etwa wird immer wieder von verschiedenen Seiten ins Feld geführt, manchmal ohne sich auf Daten zu stützen. Da kann und soll das Dashboard auch zum Fact Checking dienen – man kann einfach und schnell nachschauen: Wie ist der Trend, wie sind die Zahlen im Moment?


Ist eine Entwicklung sichtbar geworden, die Sie überrascht hat?

Volgger: Ja, beim Anteil der Grundschüler und -schülerinnen in den drei Schulsystemen: 1992 besuchten 79,2 Prozent der Kinder eine deutsche Grundschule. Zum Vergleich: Bei der Sprachgruppenzählung 1991 lag der Anteil der deutschen Sprachgruppe bei 68 Prozent. In die italienische Grundschule waren in jenem Jahr 16,6 Prozent der Kinder eingeschrieben, der Anteil der Sprachgruppe betrug 27,7 Prozent; das hat sich dann in den darauffolgenden Jahren geändert, der Anteil in den italienischen Grundschulen ist angestiegen. Schaut man dann die Zahlen bis 2022 an, kann man ab 2017 wieder einen kleinen Zuwachs bei der deutschen Grundschule erkennen. Das finde ich einen spannenden Punkt.

 

Anteil der Schüler*innen in den drei Schulsystemen

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Die Bildungsstatistiken geben Aufschluss darüber, wie sich die Schüler*innen auf die drei Südtiroler Schulsysteme aufteilen: deutsch, italienisch, ladinisch. Am einfachsten zu vergleichen sind die Zahlen zu Grund- und Mittelschule.



Gibt es auch Aspekte, die Sie nachdenklich machen?

Volgger: Mein Gefühl bei der Arbeit am Dashboard war und ist vor allem Neugierde: Ich bin neugierig, welche Trends zutage treten, was die nächsten Zahlen zeigen werden. Ich bin auch neugierig in Bezug auf offene Fragen geworden; so interessiert mich jetzt zum Beispiel sehr: Welche Sprachen spricht eigentlich Südtirol? Aufgrund der Daten, die uns vorliegen, kann man diese Frage nicht eindeutig beantworten. Deshalb möchte ich ihr in einem Forschungsprojekt nachgehen und mir die sprachliche Diversität genauer anschauen. Sobald es da Ergebnisse gibt, werden sie natürlich auch auf dem Dashboard zu finden sein.

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Autonomy Dashboard South Tyrol

Das Autonomy Dashboard South Tyrol stellt relevante Statistiken zu Südtirol, seiner Autonomie und dem Minderheitenschutz dar. Es vereint die Daten verschiedener Statistikinstitute, Forschungseinrichtungen oder öffentlicher Einrichtungen auf einer Plattform. Das Dashboard ermöglicht es, Trends zu erkennen oder Vergleiche zu ziehen, um sich so ein eigenes Bild zu verschaffen.

Jakob Volgger

Jakob Volgger ist Junior Researcher am Center for Autonomy Experience. Dort – und manchmal auch in seiner Freizeit – beschäftigt er sich mit Fragen zur Autonomie und zum Minderheitenschutz in Südtirol. Er hat Politikwissenschaft sowie Soziale Arbeit, Sozialpolitik und -management studiert.

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