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Das Echo des Todes

Wie Totholz die biologische Vielfalt der Wälder fördert

Eine Studie untersucht den Zusammenhang zwischen der Menge an Totholz in Wäldern und der Vielfalt an Vögeln und Fledermäusen.

Matteo Anderle sitzt kurz vor Sonnenaufgang in einem dichten Buchenwald auf dem Boden. Nicht weit von ihm entfernt befindet sich ein Ultraschallaufnahmegerät, auf dem gerade eine weitere Nachtaufnahme zu Ende geht. Jetzt ist Anderle an der Reihe: Der Forscher spitzt die Ohren und lässt seinen Blick von einem Ast zum anderen schweifen, bemüht, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Der Wald ist regungslos, wie eingefroren. Nur die Wölkchen aus feuchter Atemluft, die Anderle ausstößt, bewegen sich. Plötzlich dringt ein schriller Laut aus dem Dickicht des Waldes. Anderle senkt den Blick auf das Notizbuch in seiner Hand und notiert einige Informationen. Nachdem er fertig geschrieben hat, schaut der Forscher wieder in den Wald, der schon wieder still ist.
Zwischen 2019 und 2022 hat Matteo Anderle sich dutzende Male in den Wald begeben, um zu lauschen – stets mit der Frage im Kopf: „Gibt es Leben nach dem Tod?“ Nichts Esoterisches: Anderle ist Ornithologe, und die Forschungsgruppe, zu der er gehört, hat die Beziehung zwischen dem Vorkommen von Totholz und der Vielfalt von Fledermäusen und Vögeln im Wald untersucht. Die Schlussfolgerung der Studie: Nach dem Tod gibt es noch viel Leben.

Für Lebewesen sind tote Organismen oft eine Ressource. Die sich zersetzende organische Substanz bietet Nahrung und Schutz für eine Vielzahl von Organismen, die wiederum als Nahrung für andere Arten dienen. Genau das passiert, wenn ein Baum stirbt. Er verwandelt sich in einen lebendigen Haufen aus gefräßigen Pilzen, wirbellosen Pilzfressern, die graben und ihre Eier in das aufgeweichte Pflanzengewebe legen, aus Flechten, Pflanzen, Amphibien und kleinen Säugetieren, die unter der abgeblätterten Rinde Schutz suchen. Wenn ein Baum stirbt, explodiert das Leben um ihn herum, während es ihn verschlingt.

altCredit: Andrea De Giovanni | All rights reserved

Ein toter oder sterbender Baum verwandelt sich in Leben. Auf dem Foto ist ein Pilz der Gattung Fomitopsis zu sehen, der aus dem Stamm einer umgestürzten Tanne wächst.

Verrottende Pflanzenreste sind eine lebenswichtige Ressource für viele Arten, darunter mehrere, die eine Schlüsselrolle spielen: Arten, ohne die ein Ökosystem nicht das wäre, was es ist, oder gar nicht existieren würde. Wie die Formica rufa. Ameisen dieser Art, allgemein bekannt als „Rote Waldameisen“, tragen zum Nährstoffkreislauf in Wäldern bei und nutzen umgestürzte Baumstümpfe als tragende Struktur für ihre Nesthaufen. Und das Ameisengewusel, zusammen mit Spinnen, saproxylischen Insekten – die von Totholz abhängig sind – und anderen Wirbellosen, zieht wiederum Fressfeinde wie Vögel und Fledermäuse an.

Die Forschungsgruppe des Instituts für Alpine Umwelt von Eurac Research hat die Beziehung zwischen den strukturellen Merkmalen des Waldes und der Anzahl der Vögel und Fledermäuse untersucht. Ein Teil der Forschungsgruppe hat dafür den Gesang der Vögel analysiert, andere haben mit Aufnahmegeräten gearbeitet, die Ultraschalllaute von Fledermäusen aufnehmen können, und wieder andere haben Daten zur Höhe und dem Durchmesser der Bäume gesammelt, zur Öffnung des Walddachs und dem Vorhandensein von Totholz.
Die Ergebnisse der Studie, die in der wissenschaftlichen Zeitschrift Forest Ecology and Management veröffentlicht wurden, zeigen, dass die Struktur eines Waldes, einschließlich der Menge an vorhandenem Totholz, einen signifikanten Einfluss auf die dort lebenden Vogel- und Fledermausgemeinschaften hat. „Wir haben festgestellt, dass die Anzahl der vorkommenden Fledermausarten umso größer ist, je mehr es tote Bäume gibt“, sagt die Zoologin Chiara Paniccia. Wie Paniccia erklärt, beherbergen verrottende Stämme eine sehr reiche Gemeinschaft von Insekten und Spinnen, weil sie viel nahrhafter sind als die lebenden. Für eine Fledermaus, die sich gerne von Motten und Käfern ernährt, ist ein noch stehender toter Baum also eine unerschöpfliche Beutequelle.
Und was ist mit umgestürzten Bäumen? Wenn Bäume umfallen, hinterlassen sie ein Loch im Walddach und schaffen kleine Lichtungen. Durch den Wechsel von Lichtungen und Dickicht ist der Wald vielfältiger, und eine größere Umweltvielfalt führt zu einer größeren Anzahl von ökologischen Nischen, die Arten mit unterschiedlichen Bedürfnissen zur Verfügung stehen. Unter den Fledermäusen bevorzugen einige Arten Lichtungen, wie die Nordfledermaus, andere das Dickicht des Waldes, wie die Kleine Hufeisennasen-Fledermaus, und wieder andere haben keine besonderen Vorlieben, wie die Zwergfledermaus. Diese weniger anspruchsvollen Arten werden als „Generalisten“ bezeichnet und waren in der Nähe der großen umgestürzten Stämme am zahlreichsten vertreten. „Da sie nicht besonders wählerisch sind, fühlen sich Generalisten in Übergangszonen wohl, wie zum Beispiel in Lichtungen, die durch umgestürzte Bäume entstehen“, sagt Chiara Paniccia. In diesen Lichtungen hat die Forschungsgruppe übrigens auch eine größere Vielfalt an Vögeln festgestellt. „Wenn ein Baum umfällt, schirmen seine Blätter das Sonnenlicht nicht mehr ab. Es erreicht das Unterholz und fördert sein Wachstum. Und ein üppiges Unterholz ist ideal für Vogelarten, die zwischen der krautigen und strauchartigen Vegetation nisten und Schutz finden, wie der Zaunkönig oder die Klappergrasmücke“, erklärt der Ornithologe Matteo Anderle. „Außerdem hämmern alle Spechtarten Löcher in das verrottende Holz toter Bäume, um die Insektenlarven zu fangen, die in ihnen leben.“

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Was von einer Fichte übrig bleibt, die von Spechten auf der Jagd nach Insekten bearbeitet wurde.

Nach Schätzungen der letzten nationalen Erhebung enthalten die italienischen Wälder durchschnittlich 14,6 Kubikmeter Totholz pro Hektar, die Südtiroler Wälder 25, die primären europäischen Wälder – ältere Wälder, die nicht von menschlichen Aktivitäten betroffen sind – zwischen 140 und 180. Wie kommt es zu einem solchen Unterschied? „Während Primärwälder per Definition sich selbst überlassen werden, wird ein Großteil der Wälder in den Alpen durch Auslichtungen, selektive Fällungen und Aufforstungen bewirtschaftet“, erklärt der Forstökologe Marco Mina. In Primärwäldern sterben und verrotten die Bäume also an Ort und Stelle, während in bewirtschafteten Wäldern viele der ausgewachsenen Bäume entfernt werden. In Südtirol werden die Grundsätze der nachhaltigen Waldbewirtschaftung angewandt, es werden also nicht mehr Bäume gefällt, als nachwachsen. Und wie Marco Mina betont, bewahrt die nachhaltige Waldbewirtschaftung sowohl den wirtschaftlichen Wert der Wälder als auch ihre Fähigkeit, wichtige Ökosystemleistungen wie den Schutz vor zerstörerischen Naturgefahren zu erbringen. Um diese Dienstleistungen der Wälder zu verbessern, sollte mehr Totholz hinterlassen werden. „Tote Bäume, insbesondere große Bäume, sind eine grundlegende Ressource für das Ökosystem, und ihre Überreste sollten nicht immer entfernt, sondern strategisch in unseren Wäldern belassen werden“, argumentiert der Forstökologe.

Das Vorhandensein großer Mengen von Totholz birgt auch Risiken. Ein trockener Baum brennt schnell und kann das Ausbreiten eines Feuers begünstigen. In unzugänglichen Gebieten angesammelte Holzstöße und Baumstämme können bei unerwarteten Ereignissen wie starken Regenfällen und Sturmwinden Schäden im Tal verursachen. Gleichzeitig können verrottende Pflanzengewebe, wenn sie in großer Menge vorhanden sind, als Katalysator für die Vermehrung von holzfressenden Insekten wie dem Borkenkäfer wirken. „Ideal wäre es, Altholzinseln zu planen, das heißt Waldgebiete, die sich selbst überlassen bleiben und von bewirtschafteten Gebieten getrennt sind. Auf diese Weise würde die Biodiversität gefördert, ohne die vom Wald abhängigen wirtschaftlichen Aktivitäten zu beeinträchtigen, und die Risiken aufgrund natürlicher Störungen würden verringert“, schließt Mina.

Die Arbeit von Mina und seinen Kolleginnen und Kollegen hilft, die Dynamik der Wälder zu verstehen. Die Ergebnisse ihrer Forschungen erinnern daran, dass das Leben auch nach dem Tod weiter im Blätterdach der Bäume, im Gesang eines Spechts oder im Flattern einer Fledermaus fortbesteht.

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