magazine_ Interview
Das landwirtschaftliche Erbe pflegen
Wie Agrotourismusmodelle Kulturen erhalten, Möglichkeiten schaffen und als Ressource für die Erhaltung ländlicher Gebiete dienen
Eine Delegation aus Amerika, Griechenland und Taiwan lernt die Verfahren der traditionellen Speckherstellung kennen.
Credit: Eurac Research | Annelie Bortolotti
Ohne ein angemessenes Einkommen besteht das Risiko, dass immer mehr Menschen, die in der Landwirtschaft tätig sind, ihr Leben auf dem Land gegen die Stadt eintauschen – eine Gefahr für Bauernhöfe, die ein jahrhundertealtes architektonisches, landschaftliches und kulturelles Erbe darstellen. Der Weltkongress für Agrotourismus – kurz WAC – will Innovationen und nachhaltige Lösungen für die Herausforderungen finden, mit denen bäuerliche Gemeinschaften weltweit konfrontiert sind.
In diesem Jahr fand der WAC zum zweiten Mal statt und wurde von Eurac Research ausgerichtet. Wir haben mit zwei der führenden Köpfe der Veranstaltung über die Herausforderungen, Chancen und Grenzen des Agrotourismus gesprochen und einen Ausblick auf die künftige Entwicklung dieser Art von Tourismus in ländlichen Gebieten auf der ganzen Welt gewagt.
Gibt es eine Definition oder eine allgemeingültige Beschreibung des Agrotourismus?
Lisa Chase: Der Begriff Agrotourismus ist relativ neu und wurde in Italien geprägt – mit einem Gesetz aus dem Jahr 1985, das die Bewegung offiziell anerkannte, indem sie in die nationale Gesetzgebung aufgenommen wurde, die durch regionale Gesetze ergänzt wurde. Bauernhöfe haben natürlich schon vorher verschiedene Aktivitäten angeboten, aber dieses Gesetz gab dem Ganzen einen Namen. Das Konzept, sich auf Bauernhöfen zu treffen, mitzuhelfen, und die Aussaat und die Ernte zu feiern, gibt es wahrscheinlich schon so lange wie die Landwirtschaft selbst. Aber auch wenn das Konzept an sich nicht neu ist, so war es doch wichtig geworden, ihm einen Namen zu geben, und zahlenden Gästen Erlebnisse zu bieten, die nicht nur dem Überleben der Bauernhöfe und der Erhaltung der Betriebe dienen, sondern auch der Aufklärung der nicht landwirtschaftlichen Öffentlichkeit – zu der heutzutage fast jeder zählt. In den USA haben die meisten Menschen mit der Produktion unserer Lebensmittel und Fasern sehr selten etwas zu tun. Die Farmen, die für Besucherinnen und Besucher geöffnet sind, erweisen uns allen – und der Landwirtschaft – einen großen Dienst, denn die Würdigung des landwirtschaftlichen Erbes und das Verständnis dafür, woher die Lebensmittel kommen, ist ein so wichtiger Teil dessen, was wir alle wissen sollten.
Thomas Streifeneder: Abgesehen von der Freiwilligenarbeit auf einem Bauernhof wie WOOFING (World-Wide Opportunities on Organic Farms) gibt es keine bessere Möglichkeit, die Landwirtschaft zu erleben und zu verstehen, als den Agrotourismus – besonders im Hinblick auf die soziale Interaktion zwischen Gästen und Gastgeberin oder Gastgeber, die im Mittelpunkt des Agrotourismus steht. Und das gegenseitige Verständnis, das sich daraus ergibt. Häufig sind es die Frauen, die Agrotourismus betreiben, da die Männer eher den landwirtschaftlichen Teil übernehmen. Es geht auch darum, den Frauen die Möglichkeit zu geben, für ihre Arbeit auf den Bauernhöfen eine Vergütung zu erhalten.
„Das Konzept, sich auf Bauernhöfen zu treffen, mitzuhelfen, und die Aussaat und die Ernte zu feiern, gibt es wahrscheinlich schon so lange wie die Landwirtschaft selbst.“
Lisa Chase, Gründungsvorsitzende des Global Agritourism Network.
LC: In den USA, und ich denke, das gilt überall, ist der Kern des Agrotourismus die Arbeit auf den Farmen. Hier gibt es viel zu entdecken. Landwirte und Landwirtinnen sind die ultimativen Unternehmer, sodass die Agrotourismus-Angebote ständig wachsen.
TS: Und Multitasker. Ich mag die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Literatur, und ich habe einen interessanten Roman gefunden: Bergland. Die Autorin Jarka Kubsova beschreibt die Situation einer Frau, die auf ihrem Bauernhof Zimmer vermietet; die Gäste sind sehr anspruchsvoll und alles muss perfekt sein. Die Protagonistin hat zwei Kinder, muss sich um die Landwirtschaft kümmern, das Frühstück vorbereiten, die Zimmer aufräumen, und das ist alles sehr stressig. Sie schreibt über die Veränderung im Familienleben, die Qualitätskriterien, die erfüllt werden müssen, die Kontrollen: Agrotourismus zu betreiben mag schön klingen, aber die Umsetzung, die Realisierung ist für die Landwirte und Landwirtinnen im täglichen Arbeitsleben sehr herausfordernd – und darüber müssen wir nachdenken.
„Jeder Bauernhof ist einzigartig und hat seine eigene Geschichte, die es zu fördern und zu vermitteln gilt.“
Thomas Streifeneder, Leiter des Instituts für Regionalentwicklung von Eurac Research
Wie wird Agrotourismus heute bei Ihnen betrieben?
LC: Der Agrotourismus in Amerika ist sehr vielfältig, und das Bemerkenswerte an diesem Kongress ist, dass man einen Einblick bekommt, wie der Agrotourismus rund um die Erde aussieht: Wenn man den Agrotourismus in Amerika mit dem Agrotourismus in Italien vergleicht, überwiegen sicherlich die Übernachtungen auf den Farmen, aber ein wichtiger Teil sind auch Tagesausflüge zu Bauernhöfen, um landwirtschaftliche Erfahrungen zu sammeln, wie z. B. Äpfel, Erdbeeren, Blaubeeren und Blumen zu pflücken oder etwas über die Herstellung von Käse und Wein zu lernen oder Kühe zu melken.
TS: Jeder Bauernhof ist einzigartig und hat seine eigene Geschichte, die es zu fördern und zu vermitteln gilt: Das ist ein wichtiger Punkt, den unsere sehr professionelle Dachmarke Roter Hahn verfolgt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen die ländliche Südtiroler Lebensart näher zu bringen. Auf den Bauernhöfen hier zeigt sich die Kultur der bäuerlichen Betriebe, der Produkte, der Rezepte, der Kochtradition und des Handwerks. Aber die größte Herausforderung ist, wie können wir diese Erfahrung an die Gäste weitergeben? Wie können wir dieses Erbe auf innovative Art und Weise vermitteln?
LC: In den USA sind die Menschen heutzutage so weit von der Landwirtschaft abgekoppelt: Nur 1,4 Prozent der Bevölkerung arbeiten auf einer Farm, das bedeutet über 98 Prozent der Bevölkerung machen es nicht. Vor ein paar Generationen konnten die meisten Menschen Erfahrungen auf einem Bauernhof sammeln, indem sie ihre Großeltern, Nachbarn oder Bekannten besuchten und beim Sammeln von Ahornsirup, beim Melken der Kühe oder bei der Obsternte halfen und auf diese Weise eine Verbindung zum Bauernhof herstellten. Mit der zunehmenden Urbanisierung der USA und der stärkeren Zentralisierung des Lebensmittelsystems ist es immer schwieriger geworden, diese wertvollen lokalen Farmen und Lebensmittelsysteme zu erhalten.
TS: Wir wollen die Aktivitäten beleuchten, die die Betriebe anbieten, und sehen, wie andere Länder Agrotourismus betreiben und welche Erfahrungen sie gemacht haben. Selbst das von Lisa erwähnte Pflücken von Äpfeln: Wir sind ein intensives Apfelanbaugebiet, in der Freizeit bei der Apfelernte zu helfen, wird in den meisten Fällen nicht als „attraktiv“ angesehen, da es sich nicht um Streuobstwiesen handelt, wie Touristen sie im Urlaub besuchen möchten. Das Wichtigste ist, auch an die Angebotsseite zu denken.
„In den USA sind die Menschen heutzutage so weit von der Landwirtschaft abgekoppelt: Nur 1,4 Prozent der Bevölkerung arbeiten auf einer Farm, das bedeutet über 98 Prozent der Bevölkerung machen es nicht.”
Lisa Chase
Was sind die aktuellen Themen und Herausforderungen?
TS: Lebensnahe Erlebnisse bieten: Nur die hofeigenen Produkte anzubieten reicht nicht aus, man erkundet nicht die Bauernhöfe selbst, erlebt nicht den Alltag der Betriebe. Es gibt immer ein Wechselspiel zwischen Angebot, Nachfrage und Umsetzung. Wie es umgesetzt wird, ist eine ziemliche Herausforderung – wenn man die Leute auf einen Hof bringt, der inszenierte Aktivitäten anbietet, kommerzieller Agrotourismus, wo der Schwerpunkt zu sehr auf dem Tourismus liegt und es zu viele touristische Anlagen gibt, dann entspricht das nicht der Realität. Sie wollen einen Swimmingpool haben? Denken Sie über einen Naturbadeteich nach! Oder Sie bieten Zugang zu einem See in der Umgebung an oder fragen das nächstgelegene Hotel, ob es Ihren Gästen erlaubt den Pool zu nutzen. Es gibt Ansätze, um zu vermeiden, dass Bauernhöfe zu etwas werden, was sie nicht sind. Ein Bauernhof sollte zeigen, wie ein landwirtschaftlicher Betrieb im täglichen Leben aussieht. Es geht um das echte Erleben der Landwirtschaft, und das sollte den Gästen vermittelt werden, und nicht um eine inszenierte Umgebung oder ein Erlebnis, bei dem die Landwirte und Landwirtinnen zu sehr zu Tourismusbetreibern werden.
LC: Ein in den USA oft angesprochenes Thema ist der gerechte Zugang zu Agrotourismus-Angeboten. Ich kann nicht sagen, wie es in Italien ist, aber in den USA gibt es die Vorstellung, dass lokale, biologische Lebensmittel mehr kosten und deshalb als etwas Teures, Elitäres angesehen werden. Es gibt viele gezielte Programme und Bemühungen, um dafür zu sorgen, dass dies nicht der Fall ist: um sicherzustellen, dass Agrotourismus und Angebote auf Farmen sowie lokale Lebensmittel leistbar sind. Es gibt ein breites Preisspektrum im Agrotourismus: Manche Übernachtungen und Abendessen auf Farmen können teuer sein, was vielleicht nicht für jeden infrage kommt, aber es gibt auch Initiativen, die sich dafür einsetzen, dass lokale Lebensmittel, Schulausflüge und andere Arten von Agrotourismus sehr erschwinglich sind. Wenn wir über Zugänglichkeit sprechen, geht es auch darum, verschiedene Kulturen zu erreichen. Manche Kulturen zögern vielleicht eher, Farmen zu besuchen. Und dann sind da noch die physische Erreichbarkeit und die Barrierefreiheit. Wir fangen gerade erst an, uns wirklich damit zu beschäftigen. Wir müssen noch mehr tun, um sicherzustellen, dass Agrotourismus und lokale Lebensmittel wirklich für alle zugänglich sind.
„Anfänglich war der Agrotourismus als zusätzliches Einkommen auf dem Bauernhof gedacht: Das ursprüngliche Ziel war es, die Landwirtschaft zu unterstützen. Die landwirtschaftliche Arbeit sollte nicht an den Rand gedrängt werden.”
Thomas Streifeneder
TS: Als Landwirt oder Landwirtin muss man offen und kommunikativ sein und möglicherweise seinen Alltag für die Gäste verändern. Aber die Frage ist, wie sehr sollte man sich anpassen? Und hier kommen wir zu dem Punkt der Ergänzung zwischen touristischen und agrotouristischen Angeboten. Wenn der Tourismus finanziell rentabler ist als die Landwirtschaft, ist es eine logische Konsequenz, dass die landwirtschaftlichen Betriebe versuchen, durch diese sehr einträglichen Aktivitäten Geld zu verdienen. Anfänglich war der Agrotourismus als zusätzliches Einkommen auf dem Bauernhof gedacht: Das ursprüngliche Ziel war es, die Landwirtschaft zu unterstützen. Die landwirtschaftliche Arbeit sollte nicht an den Rand gedrängt werden.
LC: Wenn Farmer zu mir kommen und etwas über Agrotourismus erfahren wollen, ist eines der ersten Dinge, die ich sage, dass dies nicht jedermanns Sache ist. Viele Menschen betreiben Landwirtschaft, weil sie etwas anbauen, sich um ihr Vieh kümmern und sich auf die Nahrungsmittelproduktion konzentrieren wollen. Gäste zu empfangen, ist für manche Landwirte oder Landwirtinnen das Letzte, was sie tun wollen. Wenn sie Agrotourismus betreiben wollen, müssen sie sich überlegen, welche Art von Tourismus für sie und ihre Familie sinnvoll ist. Wenn es sich um Urlaub auf dem Bauernhof handelt, kommen die Gäste dann zu ihnen nach Hause? Sitzen sie an ihrem Frühstücks- und Abendbrottisch? Ich arbeite mit einigen Farmen in Vermont zusammen, die gerne Gäste in ihren Häusern willkommen heißen. Andere sagen: Ich möchte, dass die Besucher und Besucherinnen auf meinen Hof kommen, Äpfel oder Blumen pflücken und dann wieder gehen, damit wir den Hof wieder für uns haben. Die Landwirte und Landwirtinnen müssen sich überlegen, welche Art von Agrotourismus für sie sinnvoll ist, und darauf achten, dass sie etwas wählen, das nicht nur finanziell, sondern auch in Bezug auf ihren Lebensstil für sie funktioniert. Es gibt viele Menschen, die gerne Gäste beherbergen. Ich habe mit einem Milchviehbetrieb in einer sehr kleinen Stadt im Norden von Vermont gesprochen, und der Besitzer sagte: „Wir hätten nie um die Welt reisen können, aber mit dem Agrotourismus habe ich das Gefühl, dass die Welt zu uns kommt.“
THE WORLD AGRITOURISM CONGRESS
Unter den rund 200 Teilnehmenden, die aus 35 Ländern angereist waren, befanden sich Forschende, Landwirtinnen und Landwirte, gastronomische Reiseleiter und -leiterinnen und öffentliche Angestellte aus Indien, Australien, den Niederlanden, den Philippinen, Indien, Lateinamerika, Osteuropa, der Türkei, Taiwan und anderen mehr. Nach zwei Tagen mit Referaten, Posterpräsentationen und Impulsvorträgen über Nachhaltigkeit, Kooperation und Zusammenhalt in Agrotourismusbetrieben, über die Erhaltung ländlicher Gebiete und die Eindämmung der Abwanderung, besuchten die Teilnehmenden einige Südtiroler Bauernhöfe. Hier ist eine der Gruppen auf dem Schnalshuberhof, dem Biobauernhof von Christian Pinggera und seiner Familie in Algund.
„Das Global Agritourism Network hat sich zum Ziel gesetzt, ein Netzwerk für alle zu sein, die im Agrotourismus arbeiten - nicht nur aus Landwirtschaft und Forschung, nicht nur für Tourismusfachleute oder politische Entscheidungstragende. Nur wenn wir alle zusammenkommen, können wir echte Fortschritte erzielen.“
Lisa Chase, Gründungsvorsitzende des Global Agritourism Network.
About the Interviewed
Lisa Chase ist Direktorin des Vermont Tourism Research Center und Professorin an der University of Vermont. Ihre Forschungs- und Öffentlichkeitsarbeit konzentriert sich auf die Überschneidung von Lebensmittelsystemen, lebendigen Gemeinschaften, Tourismus und Arbeitslandschaften. Dr. Chase arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit landwirtschaftlichen Betrieben, Lebensmittel- und Tourismusunternehmen in ganz Vermont und auf der ganzen Welt zusammen, wobei der Agrotourismus im Mittelpunkt steht. Sie ist Mitautorin des Buches Food, Farms and Community: Exploring Food Systems und war die Konferenzleiterin des ersten internationalen Workshops über Agrotourismus, der im August 2022 in Burlington, Vermont, stattfand. Im Anschluss an die erfolgreiche Konferenz wurde Lisa zur Gründungsvorsitzenden des Global Agritourism Network gewählt, das die Zusammenarbeit fördert und Bildung, Forschung und Ausbildung für Forschende und Personen, die Agrotourismus anbieten oder anbieten wollen, weltweit organisiert.
Bevor sie nach Vermont zog, war Lisa unter anderem in New York, Colorado, Costa Rica und Ecuador in der Forschung und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Sie erhielt ihren Bachelor in Wirtschaftswissenschaften von der University of Michigan, ihren Master in Agrar- und Ressourcenökonomie von der Cornell University und ihren Ph.D. in Natural Resource Management and Policy von der Cornell University. In ihrer Freizeit wandert, radelt und fährt sie Ski und genießt die kulinarischen Köstlichkeiten in Vermont und anderen erstklassigen Reisezielen.
About the Interviewed
Thomas Streifeneder ist Wirtschaftsgeograph und Leiter des Instituts für Regionalentwicklung von Eurac Research. Er erforscht sozioökonomische Transformationsprozesse im ländlichen Raum, authentischen Agrotourismus und interessiert sich besonders für deren Darstellung in der Literatur des Alpenraums.