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Credit: South Tyrol Museum of Archaeology | Augustin Ochsenreiter | All rights reserved

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„Dass Ötzi zu 92 Prozent Anatolier ist, wird viele vielleicht doch überraschen”

Interview mit dem Archäogenetiker Johannes Krause und dem Anthropologen Albert Zink

by Barbara Baumgartner

Zehn Jahre nach der ersten Analyse von Ötzis Genom ermöglicht eine verbesserte Sequenziertechnologie einem Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und von Eurac Research nun eine sehr viel genauere Rekonstruktion seines Erbguts. Sie zeigt: Er hatte dunklere Haut, als bisher angenommen, sehr wahrscheinlich eine Glatze, und nur acht Prozent Genanteil von den Ur-Europäern. Die beiden Wissenschaftler erklären die Ergebnisse.

Wir kennen Ötzi mit Haaren bis auf die Schultern, nun zeigen Ihre neuen Ergebnisse: Als reifer Mann hatte er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine fortgeschrittene Glatze. Wie war man denn auf die langen Haare gekommen?

Albert Zink: Tatsächlich hat man beim Ötzi nur wenige, einzelne Haare gefunden, und man hat nie untersucht, ob sie wirklich von ihm stammen, und auch nicht, um welche Haare es sich handelt – es könnten ja auch Barthaare sein. Bei Leichen, die lange im Gletscher oder im Wasser liegen, fallen die Haare aus, weil die oberste Epidermis-Schicht verloren geht; so hat man sich auch erklärt, dass bei Ötzi keine Haare gefunden wurden: Man dachte, sie seien ausgefallen und weggeschwemmt worden. Aber man ist einfach immer davon ausgegangen, dass da einmal Haare waren. Schon die erste Rekonstruktion zeigte ihn mit recht fülligem Haupthaar, das war die Vorstellung, die man sich von ihm machte. Es konnte sich offenbar niemand vorstellen, dass er eine Glatze oder zumindest sehr schütteres Haar hatte.

Auch was die Hautfarbe angeht, müssen wir unser Bild von ihm korrigieren: Er war dunkler als bislang angenommen. Wie können wir uns den Hautton denn vorstellen?

Johannes Krause: Ich würde sagen, dazu braucht man sich nur die Mumie anzuschauen: Die repräsentiert die Hautfarbe ziemlich gut. Es ist relativ dunkle Haut, also noch dunkler als der dunkelste Hautton, den man in Südeuropa findet, etwa in Sizilien oder Andalusien; aber nicht so dunkel wie südlich der Sahara.
Wir haben Ötzis Genom in sehr hoher Auflösung analysiert und dadurch ein genaues, nuanciertes Bild gewonnen; in die Untersuchung sind die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse eingeflossen. Die Hautfarbe wird ja nicht nur von einem Gen bestimmt: Es sind Hunderte von genetischen Loci, die darauf Einfluss haben.
Zink: Früher dachte man, Ötzis Haut wäre bei der Mumifizierung im Gletscher nachgedunkelt, aber eigentlich war dieses Nachdunkeln nicht so richtig zu erklären. Jetzt wissen wir: Das war tatsächlich seine Hautfarbe. Interessanterweise haben viele Leute, die das Museum mehrmals besuchten, den Eindruck, die Mumie wäre mit der Zeit dunkler geworden. Doch das ist sie nicht: Als Teil der Konservierungsstrategie wurde die Haut lange Zeit mittels standardisierter Fotoaufnahmen kontrolliert, um eventuelle Veränderungen festzustellen. Es gab keine.
Krause: Durch die Rekonstruktion hat man natürlich auch ein bestimmtes Bild von Ötzi im Kopf – und die Rekonstruktion ist sehr hell. Wenn man dann die viel dunklere Mumie sieht, nimmt man womöglich an, die Haut sei später nachgedunkelt.

Credit: Eurac Research | Ivo Corrà

Früher dachte man, Ötzis Haut wäre bei der Mumifizierung im Gletscher nachgedunkelt, aber eigentlich war dieses Nachdunkeln nicht so richtig zu erklären. Jetzt wissen wir: Das war tatsächlich seine Hautfarbe.

Albert Zink

Es wird wohl eine Weile dauern, bis sich das neue Bild von Ötzi durchsetzt?

Zink: Sicher. Aber ich denke, man kann die Rekonstruktion im Archäologiemuseum auch lassen, bis man ohnehin eine neue macht, und dann unsere Erkenntnisse berücksichtigen. Das war ja schon einmal so: Der Ötzi hatte früher blaue Augen; dann haben wir bei der ersten Genomuntersuchung festgestellt, dass sie braun waren, und die nächste Rekonstruktion wurde angepasst.

Waren zu Ötzis Zeit womöglich alle Menschen in dem Gebiet so dunkel?

Krause: Das könnte sein. Wir haben eine Population in Norditalien untersucht, etwas südlich von Südtirol, und da eine ähnliche genetische Zusammensetzung wie bei Ötzi gefunden – also kann man sich schon vorstellen, dass da auch häufiger ein dunklerer Hautton vorkam.
Generell gilt für diese frühen Ackerbauern, dass sie relativ dunkle Haut hatten – allerdings nicht so dunkle, wie die Jäger und Sammler, die vorher in Europa lebten: Die hatten so dunkle Haut, dass wir sie genetisch nicht von Menschen südlich der Sahara unterscheiden können, und dazu blaue Augen. Das ist ein sehr ungewöhnlicher Phänotyp, ganz anders, als man sich die Ur-Europäer eigentlich vorstellt.
Bis zur späten Bronzezeit wurden die Menschen in Europa immer heller, und zwar sehr schnell – es gibt kaum ein Gen, das sich so schnell ausgebreitet hat, wie die Gene für die helle Hautfarbe in Europa. Wir vermuten, das hat mit Vitamin D und dem Ackerbau zu tun: Ackerbauern nehmen mit der Nahrung sehr wenig Vitamin D auf, und um es in der Haut zu produzieren, braucht man wenig Pigmentierung. So kann die UV-Strahlung durchdringen und Vitamin D in der Haut aus einem im Körper vorkommenden Vorprodukt produzieren. Es gab also eine positive Selektion für helle Haut, um im dunklen Europa mit wenig Sonnenlicht, vor allem im Winter, als Ackerbauer zu überleben .
Bei Ötzi hat sich diese Entwicklung noch nicht niedergeschlagen, vielleicht weil er im südlichen Europa lebte oder in seiner Population noch genügend Vitamin D aus der Nahrung aufgenommen wurde, z.B. durch Fisch und Fleisch.

Credit: Thomas Victor | All rights reserved

Wir haben eine Population in Norditalien untersucht, etwas südlich von Südtirol, und da eine ähnliche genetische Zusammensetzung wie bei Ötzi gefunden – also kann man sich schon vorstellen, dass da auch häufiger ein dunklerer Hautton vorkam.

Johannes Krause

Die Frage, wie Ötzi aussah, fasziniert die Menschen, die wichtigste Erkenntnis Ihrer Studie betrifft jedoch seine Abstammung: Er hatte ungewöhnlich viele Gene anatolischer Frühbauern. Bitte erklären Sie das.

Krause: Vor etwa 8000 Jahren begannen Ackerbauern aus Anatolien nach Europa einzuwandern und vermischten sich mit den ursprünglich in Westeuropa lebenden Jägern und Sammlern. Die Jäger und Sammler gingen in den Ackerbauern auf, und am Ende dieses Prozesses, vor etwa 5000 Jahren, trugen die meisten Ackerbauern in Europa zwischen zehn und fünfzig Prozent Jäger-und-Sammler-Erbgut in sich; manche sehr viel, die meisten aber über zehn Prozent. Der Ötzi hat aber nur etwas weniger als acht Prozent seines Genanteils von den Jägern und Sammlern. Keiner seiner europäischen Zeitgenossen, von denen wir das Genom zur Verfügung haben, und das sind Hunderte, hat so viele Ahnenanteile anatolischer Frühbauern wie Ötzi.

Was schließen Sie daraus?

Krause: Es lässt vermuten, dass er aus einer relativ isolierten Bevölkerung mit wenig Kontakt zu anderen europäischen Gruppen stammte, und dass nicht so viele Jäger und Sammler in dieser Region lebten. Aber um hier wirklich Aussagen treffen zu können, brauchen wir die Genome von mehr Individuen. Erst dann wird man sehen: Ist der Ötzi repräsentativ für die Population oder ist er ein Outlier? Albert und sein Team arbeiten da ja gerade daran. Zink: Ja, wir haben das Erbgut aus zahlreichen Skelettfunden in Südtirol untersucht und sind gerade dabei, die Daten auszuwerten. Diese Knochenfunde sind nicht alle aus der gleichen Zeit, und wir haben die Genome auch nicht in dieser hohen Qualität wie beim Ötzi rekonstruiert, aber trotzdem werden die Ergebnisse uns wichtige Hinweise liefern ob der Ötzi eine Ausnahme ist oder repräsentativ für seine Region und Zeit.

Labor für alte DNA, Eurac ResearchCredit: Eurac Research | Ivo Corrà

Ein weiteres Ergebnis zur Abstammung korrigiert die erste Genomanalyse: In Ötzis Genen finden sich keine Spuren osteuropäischer Steppenhirten.

Zink: Diese Steppennomaden sind die dritte Ahnen-Komponente im Genmix der meisten heutigen Europäer. Ihre Einwanderung begann vor etwa 4900 Jahren, also eigentlich erst nach Ötzis Zeit. So ganz hat es also nie gepasst, dass wir bei Ötzi ihre genetischen Spuren fanden, doch war auch nicht auszuschließen, dass es schon damals Kontakte gegeben hatte. Nun wissen wir aber, dass das erste Ergebnis auf eine Kontaminierung mit moderner DNA zurückzuführen ist.

Anatolische Vorfahren, dunkle Haut: Kann das neue, genauere Bild von Ötzi dazu beitragen, die irrige Vorstellung einer „reinen“ europäischen Bevölkerung aus den Köpfen zu vertreiben?

Zink: Das wäre zumindest sehr zu wünschen. Gerade solche Studien zeigen ja, dass unsere Vorfahren alle einmal eingewandert, wir alle eine Mischung sind. Leider wird dieser Zusammenhang häufig nicht hergestellt. Aber ich denke, ein wenig können unsere Ergebnisse das Verständnis, wo die Europäer eigentlich herkommen, schon verbessern.
Krause: Das hoffe ich auch. Der Ötzi als der berühmteste frühe europäische Mensch eignet sich gut, um diese wichtige Information zu vermitteln. Dass er zu 92 Prozent Anatolier ist, und nur zu acht Prozent Ur-Europäer, das bedeutet für viele vielleicht doch eine Überraschung. Ebenso die neuen Erkenntnisse zur Pigmentierung: Die Hautfarbe hat für viele Menschen ja noch mehr Bedeutung als die Herkunft. Da herrscht dieses Schwarz-Weiß-Denken: Man fühlt sich irgendwie als etwas Anderes wegen der Hautfarbe. Es ist deshalb wichtig, ins Bewusstsein zu rücken, dass auch in Europa die Menschen erst seit sehr kurzer Zeit weniger pigmentiert sind.

In Ötzis Genen haben sie außerdem eine Veranlagung zu Diabetes 2 und Übergewicht gefunden – für Laien ist das überraschend, man denkt, das seien Krankheiten des modernen Menschen.

Zink: Diese Ergebnisse zeigen eben, dass man hier nicht von Zivilisationskrankheiten sprechen kann: Diese Krankheiten haben sich nicht durch unseren Lebensstil erst entwickelt, sondern die Veranlagung dafür geht sehr weit zurück. Das ist glaube ich auch für die moderne Medizin eine wichtige Erkenntnis. Die Krankheit muss dann nicht zum Ausbruch kommen: Ötzi hatte wahrscheinlich kein Diabetes, er hatte ja auch kein Übergewicht, hat sich sehr ausgewogen ernährt, sich sehr viel bewegt. Aber er hatte Atherosklerose, worauf wir in einer weiteren Studie genauer eingehen werden: Er hatte Verkalkungen am Herzen, in der Aorta – also er hatte durchaus ein Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden, obwohl er nach heutigen Maßstäben eigentlich extrem gesund gelebt hat. Krause: Aus evolutionärer Sicht ist das nicht überraschend. Diese Risikogene gibt es bei Menschen in Afrika, Asien und Europa, sie sind im gemeinsamen Vorfahren all dieser Populationen schon dagewesen, also vor 200.000 Jahren – und manche vielleicht auch schon im Neandertaler, also vor 500.000 Jahren.

Johannes Krause

Der Archäogenetiker ist Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Autor des Spiegel-Bestsellers „Die Reise unserer Gene“.

Albert Zink

Albert Zink ist Anthropologe und assoziierter Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 leitet er das Institut für Mumienforschung von Eurac Research.

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