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Den Wald durch Fotografie erforschen
Das Kronendach des Waldes fotografieren, um ihn besser zu schützen
Ökologen und Ökologinnen von Eurac Research setzen eine spezielle Fototechnik ein, um die Beschaffenheit der Baumkronen zu untersuchen und Informationen über die Südtiroler Wälder zu sammeln. Das Ziel: den Gesundheitszustand der Wälder überwachen und ihre Entwicklung vorhersagen.
Es ist kurz vor Sonnenuntergang in Graun im Vinschgau. Die Sonne sinkt langsam hinter die Bergrücken und Marco Mina legt den Kopf in den Nacken, um die Fichtenwipfel über sich zu beobachten. Der goldene Schein, der sie bis vor einem Moment noch umhüllte, ist verblasst. „Es ist so weit“, sagt er und wendet sich seinem Fotoapparat zu. Die Kamera ist auf einem Stativ aufgebaut, das Objektiv auf die Baumkronen gerichtet. Mina wirft einen schnellen Blick auf das Display, nickt, legt den Finger auf den Auslöser und drückt ab. Der Schlitzverschluss klickt, der Bildsensor wird freigelegt, und das Licht hat ein paar Sekundenbruchteile Zeit, um die Szene einzufangen. Dann kehrt die Finsternis zurück. Der Bildschirm der Kamera wird für einige Augenblicke dunkel, um schließlich mit dem Porträt des Walddachs aufzuleuchten. Es ist ein scheinbar einfaches Bild, aber es enthält eine Vielzahl von Informationen. Die dunklen Silhouetten der Äste heben sich vom hellen Himmel ab und bilden eine Art Fingerabdruck des Waldes. Marco Mina, Waldökologe bei Eurac Research, setzt diese Technik ein, um den Waldzustand in Südtirol zu untersuchen und seine Entwicklung vorherzusagen.
Mit der Canopy Photography, auf Deutsch „Baumkronenfotografie“, werden Bilder vom Kronendach des Waldes aufgenommen. Auf diesen Fotos bilden die Silhouetten von Ästen, Blättern und Stämmen Muster vor Himmelsfragmenten, die je nach Waldgesellschaft variieren. Während in einem Buchenwald das Licht durch viele kleine Öffnungen schimmert, werden Nadelwälder eher durch einzelne große Lücken aufgehellt, die Oberlichtern im Kronendach ähneln. Für seine Aufnahmen verwendet Marco Mina spezielle fotografische Linsen, sogenannte Fischaugenobjektive. Diese Objektive haben, wie die Augen eines Fisches, ein sehr weites Sichtfeld – im Fachjargon Bildwinkel – von bis zu 180 Grad in alle Richtungen. Richtet man sie also nach oben, ermöglichen Fish-Eye-Objektive den Blick auf die gesamte Himmelshalbkugel. Aus diesem Grund spricht man auch von hemisphärischen Aufnahmen. Diese fotografische Technik wurde in den 1920er Jahren von dem britischen Biochemiker Robert Hill entwickelt, der sie zur Untersuchung von Wolken einsetzte. Im Laufe der Zeit wurde die hemisphärische Fotografie dann in verschiedenen Bereichen angewendet, unter anderem bei der Beobachtung von Sternschnuppen und seit den 1960er Jahren auch in der Waldökologie. Heute nutzen Wissenschaftler wie Marco Mina diese Methode, um Bilder aller Schichten des Waldes zu erhalten, von der Basis der Stämme bis zur Spitze der Baumkronen. Zurück im Büro, werden die Bilder am Computer ausgewertet. Zunächst prüft ein Programm die Bilder und färbt den Himmel weiß und die Kronen schwarz. Dabei werden alle Zwischentöne und Schattierungen eliminiert. Für das erfolgreiche Gelingen dieses Schrittes, ist der Zeitpunkt der Aufnahmen entscheidend. Die Fotos müssen aufgenommen werden, wenn die Sonne durch Berge oder Wolken verdeckt ist. Einfallende Sonnenstrahlen würden das Programm nämlich verwirren und dazu führen, dass es Lichtreflexe und leuchtende Blätter mit dem Himmel verwechselt.
Aufnahmen des Kronendachs eines Buchenwaldes vor und nach der Bearbeitung. Credit: Eurac Research Credit: Eurac Research / Marco Mina
Nach der Bearbeitung der Bilder lassen sich daraus verschiedene Informationen ableiten. Dazu gehören der Kronenöffnungsgrad, also wie viel Platz das Licht hat, um durch die Kronen zu dringen und den Boden zu erreichen, und der Blattflächenindex, der, vereinfacht gesagt, das Verhältnis zwischen der Waldbodenfläche und der Oberfläche der Blätter angibt. Der Blattflächenindex ist zudem ein wichtiger Indikator für die CO2-Aufnahmefähigkeit der Pflanzen.
„Die Morphologie des Kronendachs eines Waldes verrät uns viel über das, was darunter liegt.“
Marco Mina, Waldökologe von Eurac Research
Aber was bringt manche Ökologen und Ökologinnen dazu, die Nase in den Himmel zu recken, um den Wald zu erforschen? „Die Morphologie des Kronendachs eines Waldes verrät uns viel über das, was darunter liegt“, erklärt Mina. Das Licht, das durch die Baumkronen dringt, ist ausschlaggebend für entscheidende vitale Prozesse des Waldes, vor allem die Photosynthese. Es ist kein Zufall, dass Buchenwälder – eine sehr konkurrenzstarke und dominante Baumart – oft kein Unterholz haben: Das geschlossene Kronendach schränkt die Photosynthese ein und verhindert so das Wachstum anderer Pflanzen. Ist das Kronendach hingegen sehr offen, wie bei den Lärchenwäldern, kann viel Sonnenlicht durchscheinen und das Unterholz üppig wachsen lassen. In anderen Fällen begünstigt die Sonneneinstrahlung jedoch auch die Austrocknung des Bodens, wenn sie nicht von Bäumen abgeschirmt wird und so die Verdunstung erhöht. Die Menge an Licht, die durch das Kronendach des Waldes dringt, beeinflusst das gesamte Ökosystems: von den Bakterien bis zu den Pilzen, und von den Pflanzen bis zu den Tieren, die sich davon ernähren. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Morphologie der Baumkronen bei der Planung von Auf- oder Durchforstungsaktionen zu berücksichtigen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das empfindliche Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Elementen gestört wird. Waldbauliche Pflegemaßnahmen müssen den Lichteinfall beachten und auf ein abwechslungsreiches Zusammenspiel von helleren und dunkleren Bereichen im Unterholz abzielen. Auf diese Weise können sich verschiedenste Organismen im Unterholz entfalten. Jene, die Schatten und Feuchtigkeit bevorzugen, wie einige Farne, Pilze und Flechten, ebenso wie solche, die Sonnenlicht brauchen, wie die meisten Sträucher. „Unter diesem Gesichtspunkt ist Vielfalt der Schlüssel zu einem funktionierenden und gesunden Waldökosystem“, erklärt Mina.
Die Menge an Licht, die durch das Kronendach des Waldes dringt, beeinflusst das gesamte Ökosystems, von den Bakterien bis zu den Pilzen, und von den Pflanzen bis zu den Tieren, die sich davon ernähren.
Die Canopy Photography wird auch genutzt, um die sogenannte Grünheit der Baumkronen zu bestimmen, also wie viele Blätter grün sind und wie viele hingegen dürr oder am Vertrocknen. So kann man sich ein Bild vom Gesundheitszustand der Bäume machen und beobachten, wie sich das Klima auf den jahreszeitlichen Rhythmus des Waldes auswirkt. Wie Marco Mina erklärt, liegt der große Vorteil der Digitalfotografie bei waldökologischen Studien in der einfachen Handhabung der Geräte. Heutzutage haben die meisten Menschen eine Digitalkamera, und manche Forscherinnen und Forscher verwenden für die Fotos auch einfach ihre Smartphones. Für Marco Mina hat die Canopy Photography einen doppelten Zweck: Er möchte zum einen den aktuellen Zustand der Südtiroler Wälder kennen und zum anderen versuchen, ihre Zukunft vorherzusagen. Die Daten, die Mina und seine Gruppe sammeln, fließen in zwei verschiedene Studien ein: das Projekt Biodiversitätsmonitoring Südtirol und das Projekt REINFORCE. Ersteres untersucht den Gesundheitszustand der verschiedenen Lebensräume in Südtirol. Dabei werden Daten aus der Baumkronenfotografie verwendet, um die Beziehung zwischen der Struktur der Baumkronen und der biologischen Vielfalt an 50 Waldstandorten zu beobachten. Für das Projekt REINFORCE hingegen nutzt Mina Computermodelle, um aus Daten über den aktuellen Zustand der Wälder Vorhersagen über deren zukünftige Entwicklung zu treffen. „Wir wissen bereits, dass sich die Wälder durch die Klimakrise drastisch verändern werden“, sagt Mina. „Die Sterblichkeitsrate der Bäume wird aufgrund von Dürreereignissen zunehmen, und für einige Arten wird es immer schwieriger, geeignete Lebensräume zu finden: In Südtirol betrifft das die Fichte. Von Trockenheit geschwächt, wird die Fichte häufiger von Insekten wie dem Fichtenborkenkäfer befallen“. Dank der Vorhersagen durch Computermodelle, können jedoch Bewirtschaftungspläne erstellt werden, die die Wälder widerstandsfähiger machen. „Zum Beispiel indem Baumarten angepflanzt werden, die resistenter gegen Klimaveränderungen sind, oder indem der Wuchs von Wäldern begünstigt wird, die aus Bäumen unterschiedlichen Alters bestehen. Wenn ausgewachsene Bäume aus irgendeinem Grund absterben, können jüngere an ihrer Stelle wachsen“, so Mina abschließend. Wenn das Astgewirr vor dem Himmel eine Art digitaler Fingerabdruck des Waldes ist, dann ist die Betrachtung der Baumkronen ein bisschen so, als würde man die Lebenslinien seiner Hand lesen, um sein Schicksal vorherzusagen.
Marco Minas Forschung wird von der Provinz ausgezeichnet
Marco Mina wurde kürzlich für seine Forschung über Waldökosysteme und Klimawandel mit einer besonderen Erwähnung im Rahmen des Junior Research Award gewürdigt. Der Junior Research Award ist eine Auszeichnung, die die Provinz Bozen an Forscher und Forscherinnen vergibt, die am Beginn ihrer wissenschaftlichen Laufbahn stehen, sich aber in ihrem Bereich bereits hervorgetan haben und in Zukunft wichtige wissenschaftliche Erfolge erzielen können.
Hier geht’s zu den News der Autonomen Provinz Bozen: https://news.provinz.bz.it/de/news/junior-research-award-sudtirol-2023-geht-an-barbara-gross