magazine_ Interview
„Wir erstellen den Stammbaum der Menschheitsgeschichte“
Ein Gespräch mit dem Archäogenetiker Johannes Krause
Als Archäogenetiker untersucht Johannes Krause die antike DNA von archäologischen Funden und vergleicht sie mit Genomen aus der heutigen Zeit. Daraus lassen sich Schlüsse über die Evolution der Menschheit, aber auch deren Krankheitserreger ziehen. Im Interview erzählt er von Ötzis Vorfahren und heutigen Verwandten, der Pest als Biowaffe und dem Nutzen seiner Forschung für die moderne Medizin.
Herr Prof. Krause, was haben Sie als Archäogenetiker einem Archäologen voraus?
Krause: (lacht) Also das klingt ja ein bisschen so, als ob ich mehr zu bieten hätte als der Archäologe. Dem ist nicht so. Jeder trägt mit seiner spezifischen Disziplin zu einem besseren Verständnis unserer Vergangenheit bei. Der Archäologe analysiert den Fund in seiner Gesamtheit, also auch Werkzeuge und Kleidung, und setzt dann alles in einen Kontext. Als Archäogenetiker erstelle ich einen genetischen Bauplan von menschlichen Überresten. Daraus lassen sich zum einen Schlüsse über das Aussehen des Individuums ziehen, aber auch über dessen Herkunft und eventuelle Verwandtschaften mit damaligen und heutigen Populationen. Oftmals gelingt es uns auch, den genetischen Bauplan von Krankheitserregern - Bakterien oder Viren, die in so einem Individuum vorhanden waren - zu rekonstruieren. Dann erfahren wir auch mehr über die Krankheitsbilder aus der Vergangenheit.
Archäologische Funde bezeugen, dass wir Europäer von den Afrikanern abstammen. Können Sie als Archäogenetiker diese Erkenntnis zeitlich nochmals besser einordnen?
Krause: Ja. Mutationen in der DNA helfen, Stammbäume zu erstellen. Wir können also genau sagen, wann sich die genetische Linie der Afrikaner südlich der Sahara von den Menschen außerhalb Afrikas abgespalten hat. Vor rund 55.000 Jahren hat der moderne Mensch Europa und Asien von Ostafrika aus besiedelt. Diese Info liefert weder die Archäologie noch die Anthropologie.
2012 wurde Ötzis Genom entschlüsselt. Was verrät es über dessen Herkunft?
Krause: Ötzi ist ein typisches Individuum der Kupferzeit. Eine genetische Mixtur aus 70 Prozent Ackerbauern, die vor rund 8000 Jahren aus Anatolien nach Europa eingewandert sind, und rund 30 Prozent Ureuropäern, das waren die Jäger und Sammler aus Afrika. Ein paar hundert Jahre nachdem Ötzi gelebt hat, gab es eine weitere größere Völkerwanderung aus Osteuropa. Der heutige Europäer trägt auch diese dritte genetische Komponente in sich. Ötzi noch nicht. Ebenso wenig - und das ist kurios - die heutigen Sarden.
Sind die Einwohner Sardiniens also die nächsten Verwandten des Eismannes?
Krause: Genetisch gesehen ja. Sardinien hat als Insel die dritte große Einwanderung aus dem Osten nicht in dem Umfang erlebt wie der Rest Europas. Die DNA der Sarden ist so gesehen der kupferzeitlichen Population am nächsten.
Als Archäogenetiker sequenzieren Sie auch die DNA von Bakterien und Viren. In Ötzis Magen haben Sie gemeinsam mit Kollegen von Eurac Research das Bakterium Helicobacter Pylori nachgewiesen. Welche Erkenntnisse können daraus abgeleitet werden?
Krause: Ötzi ist die einzige gefrorene Mumie aus der Steinzeit und damit absolut einmalig. Dass dann noch der Magen so gut erhalten war – was sich ja erst viel später herausstellte – ist ein weiteres Wunder. Nun haben wir aus diesem Magen das Genom eines Helicobacter Pylori entschlüsselt und mit dem heutigen europäischen Helicobacter Stamm verglichen. Und siehe da, es unterscheidet sich deutlich davon, was wiederum die Vermutung nahelegt, dass Ötzi noch das Bakterium des Kupferzeit-Stamms in sich trug, das mit den heutigen asiatischen Helicobacter Stämmen verwandt ist.
Sie haben auch das Pest-Bakterium aus unterschiedlichen Zeitepochen und Regionen sequenziert.
Krause: Das Pest-Bakterium kann im Zahnschmelz nachgewiesen werden. Es reichen also Schädelfunde. Bei der Rekonstruktion des Pesterreger-Genoms haben wir festgestellt, dass vor rund 5000 Jahren neue Gene hinzugekommen sind. Diese haben den Erreger besonders effizient gemacht. Plötzlich konnte er in Flöhen überleben, die Ratten und Mäuse verbreiteten. Und das war der Auslöser der pandemischen Beulenpest vor 4000 Jahren. Auch heute gibt es noch kleinere regionale Ausbrüche von Beulenpest. Zuletzt etwa in Madagaskar und Indien. Dank Antibiotika bekommt man sie aber schnell in den Griff. Kurios ist, dass der Pesterreger heute noch von Verteidigungsministerien weltweit erforscht wird.
Wie das?
Krause: Weil das Pest-Bakterium eine gefährliche Biowaffe ist. Erstmals eingesetzt wurde sie im 14. Jahrhundert. Bei der Belagerung der Stadt Caffa auf der Krim-Halbinsel haben die Mongolen Tote über die Stadtmauern katapultierten. Von der Hafenstadt Caffa aus hat sich die Pest dann in ganz Europa ausgebreitet. Im zweiten Weltkrieg haben die Japaner chinesische Städte mit Teppichen voller gezüchteter Pestflöhe bombardiert. Es kam aber nicht zum großen Ausbruch. Auch heute noch gilt der Pest-Erreger als gefährliches terroristisches Pathogen. In eine U-Bahn über die Klimaanlage reingeblasen, würde es Lungenpest auslösen. Diese ist schwer behandelbar.
Welchen Nutzen hat die moderne Medizin von der Paläogenetik?
Krause: Die Paläogenetik liefert mitunter Antworten auf die Fragen: Wie entstehen und entwickeln sich Krankheitserreger über längere Zeitspannen? Welche Mutationen im menschlichen Genom machen uns anfälliger für Krankheiten? Wie kann ein Erreger von einem Tier – einem Floh, einer Mücke, einer Fledermaus oder zuletzt einem Pangolin – auf den Menschen überspringen? Wie schnell mutiert er? Wir wissen beispielsweise, dass der Tuberkulose-Erreger 10 bis 20mal schneller mutiert als der verwandte Lepra-Erreger. Das heißt auch, dass bei Tuberkulose viel häufiger Antibiotikaresistenzen auftreten, was bei der Entwicklung von Medikamenten zu berücksichtigen ist. Archäogenetik hilft, die Biologie und Evolution von Krankheitserregern langfristig zu verstehen.
Welche Ziele stecken Sie sich für die nächsten 10 Jahre?
Krause: Wir bauen gerade am Gerüst der genetischen Vielfalt aller weltweiten Populationen. Ich hoffe, dass wir im nächsten Jahrzehnt mit den exponentiell ansteigenden Datensätzen, die wie generieren, die Populationsgeschichte durch Raum und Zeit bis heute herauf nachzeichnen können. Dasselbe gilt für Krankheitserreger. Auch da wollen wir uns einen Überblick über deren Evolution verschaffen. Insbesondere bei den Viren, die eine 100fach höhere Mutationsrate haben als Bakterien. Vor allem aber wollen wir verstehen, was genau die einzelnen Gene des menschlichen Genoms machen. Zwanzig Jahre nach Entschlüsselung des menschlichen Genoms wissen wir das noch immer nicht.
Und was haben Sie noch mit Ötzi vor?
Krause: Wir haben am Ötzi viel gearbeitet in den letzten Jahren, aber keine weiteren Hinweise auf Infektionskrankheiten gefunden. Man muss aber auch sagen, dass die DNA vom Ötzi nicht gut erhalten ist. Makroskopisch sieht er gut aus, aber sein Weichgewebe und seine Organe, aus denen das Genom extrahiert wurde, sind stark mit Umgebungs-DNA aus dem Bachlauf und dem geschmolzenen Eis kontaminiert. Seit der Entschlüsselung vor neun Jahren hat sich in der Sequenzier-Technologie viel getan. Wir arbeiten jetzt erst einmal daran eine neue DNA-Sequenz von Ötzi zu erstellen.
Johannes Krause
Der Archäogenetiker ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Autor des Spiegel-Bestsellers „Die Reise unserer Gene“.
Am 20. September 2021 war er Gastredner beim Eurac Research Symposium „Iceman – quo vadis“.
Wichtige Publikationen von Krause zum Thema:
• Ancient human genomes suggest three ancestral populations for present-day Europeans
• Insight into the evolution and origin of leprosy bacilli from the genome sequence of Mycobacterium lepromatosis
• Pre-Columbian mycobacterial genomes reveal seals as a source of New World human tuberculosis
Weitere wissenschaftliche Publikationen von Johannes Krause.