Es ist ein wichtiger Teil unseres Immunsystems: das Komplementsystem. Doch welche Gene aktivieren es? Um dies besser zu verstehen, wurde das Genom von fünftausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Südtiroler Gesundheitsstudie CHRIS analysiert. Das Ergebnis sind wichtige Bestätigungen von bereits bekannter Genetik, neue Erkenntnisse über die Beziehung zwischen dem Immunsystem und anderen Merkmalen unseres Körpers – wie etwa der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Blutgruppe – und ein bestätigter Zusammenhang mit Mundgeschwüren.
Das Komplementsystem ist der Teil unseres Immunsystems, der besonders gut untersucht ist. Gleichzeitig haben sich die Analysen – zumindest bisher – auf Patientinnen und Patienten mit Krankheiten konzentriert, die mit einer bestimmten Störung zusammenhängen. In vielerlei Hinsicht sind jedoch die Funktionsweise und der Zusammenhang mit anderen Aspekten des menschlichen Körpers in der Allgemeinbevölkerung noch wenig erforscht.
Das Komplementsystem ist einer der vielen Mechanismen, die die angeborene Immunität ausmachen: Es ergänzt und unterstützt die Immunantwort, daher auch der Name. Insbesondere ist es einer der ersten Mechanismen, die bei einem Angriff von außen aktiviert werden, z. B. bei einer Infektion durch Viren und Bakterien oder bei Wunden wie etwa einer Schnittwunde auf der Haut. Darüber hinaus trägt das Komplement zur Reinigung des Körpers bei, indem es alte Teile von Zellen entfernt.
Ein Forschungsteam des Instituts für Biomedizin und der Medizinischen Universität Innsbruck hat nun die genetischen Grundlagen für die Aktivierung des Komplementsystems untersucht. Welche Gene setzen diesen Mechanismus in Gang? Und wie beeinflussen sie die Aktivierung? Welcher Zusammenhang besteht mit anderen Krankheiten und anderen Aspekten unseres Organismus?
Fünftausend Proben, um das Komplementsystem zu erforschen
Konkret besteht das Komplementsystem aus einer Reihe von Proteinen, die – ohne aktiv zu sein – in unserem Blut zirkulieren. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, reagieren sie, indem sie sich gegenseitig „aktivieren“, sich miteinander verbinden und manchmal die Bedrohung direkt beseitigen. In anderen Fällen alarmieren sie weitere Zweige des Immunsystems.
In jedem Fall lösen die Proteine bei Kontakt mit bestimmten Fremdstoffen wie Viren oder Bakterien eine Kettenreaktion aus. Im Fachjargon wird dies als „Kaskade“ bezeichnet, die an der Abwehr einer Infektion beteiligt ist. Gleichzeitig muss diese Aktivierung auch von unserem Organismus kontrolliert und gesteuert werden, um zu vermeiden, dass unsere Zellen geschädigt werden.
In den Laboren der Medizinischen Universität Innsbruck wurde diese „Enzymkaskade“, also die Aktivierung des Komplementsystems, künstlich ausgelöst – im Reagenzglas und in großem Ausmaß. Damit wurde die Fähigkeit des Systems überprüft, auf eine äußere Gefahr zu reagieren. Für die In-vitro-Analyse wurden fünftausend Serumproben aus der CHRIS-Studie verwendet, der 2011 in Südtirol gestarteten Langzeit-Bevölkerungsstudie mit über 13.000 Teilnehmenden.
Mit der Analyse konnte das Team kartieren, wie die Aktivierung des Komplementsystems in der Südtiroler Allgemeinbevölkerung verteilt ist. Dies liefert Informationen über das Immunsystem und kann als Grundlage für weitere epidemiologische Untersuchungen dienen.
Das Komplementsystem verfügt über drei Aktivierungskanäle – im Fachjargon spricht man von drei „Pfaden“: der klassische Weg, der durch Antikörper aktiviert wird; der Lektinweg, der durch fremde Zucker (z.B. von Bakterien und Viren) aktiviert wird; und der alternative Weg, der immer in Alarmbereitschaft ist und die Wirkung der beiden anderen Wege verstärkt. Die drei Wege laufen zu einer einzigen, gut koordinierten Angriffsaktion zusammen, die zur Zerstörung des Krankheitserregers und zur allgemeinen Aktivierung anderer Komponenten des Immunsystems führt.
Das Team hat den Aktivierungsgrad der einzelnen Wege in allen untersuchten Proben gemessen. „Normalerweise sprechen wir über die Aktivierung oder Nicht-Aktivierung des Komplementsystems, als ob es sich um ein binäres Ein/Aus-System handeln würde“, erklärt Cristian Pattaro, Biostatistiker und Leiter der Gesundheitsstudie CHRIS, „stattdessen zeigen unsere Untersuchungen, dass es bei jedem Menschen unterschiedliche Aktivierungsgrade gibt, die auf einer fortlaufenden Skala liegen. Ein Komplementweg kann sehr aktiv oder weniger aktiv sein. Ob dies gut oder schlecht für unseren Organismus ist, hängt von der Gesamtbilanz des Immunsystems ab.“
Die Gene, die das Komplementsystem beeinflussen: Forschungsergebnisse
Der Schwerpunkt der Studie lag auf der Identifizierung genetischer Varianten, die mit der Aktivierung des Komplementsystems in Verbindung stehen. Mehr als sieben Millionen genetischer Varianten, d. h. über das gesamte Genom verstreute Einzelpunkte, wurden analysiert, bei denen eine gewisse Variabilität in der DNA-Sequenz zu erwarten ist. Jede genetische Variante wurde mit dem Grad der Komplementaktivierung verglichen, der von Fachkolleginnen und -kollegen an der Medizinischen Universität Innsbruck ermittelt wurde.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehört der bestätigte Zusammenhang mit dem ABO-Gen, d.h. einem der Gene, die die Blutgruppe eines Menschen bestimmen. Die Studie hat auf genetischer Ebene gezeigt, dass die Blutgruppe einen kausalen Zusammenhang mit der Aktivierung eines der drei Wege des Komplementsystems, des Lektinwegs, hat. „Eine so eindeutige Bestätigung war in der wissenschaftlichen Literatur bislang nicht zu finden“, sagt Cristian Pattaro, „die Tatsache, dass es eine enge Verbindung zwischen der Blutgruppe und dem klassischen Komplementweg gibt, war bekannt, nicht aber, dass auch der Lektinweg eine Rolle spielt – wir werden dies vertiefen müssen.“
Die Rolle mehrerer anderer Gene, von denen vermutet worden war, dass sie an der Aktivierung beteiligt sind, wurde ebenfalls bestätigt. „Diese Bestätigungen sind nicht unbedeutend“, erklärt Cristian Pattaro, „es ist sogar das erste Mal, dass eine solche Bestätigung durch eine so groß angelegte Analyse und in Bezug auf die Allgemeinbevölkerung untermauert worden ist.“
Ein gemeinsames Doktorandenprogramm mit der Medizinischen Universität Innsbruck
Die Zusammenarbeit, die 2014 begann, fand im Zuge des ersten gemeinsamen PhD-Programms zwischen dem Institut für Biomedizin von Eurac Research und der Medizinischen Universität Innsbruck im Rahmen der CHRIS-Studie statt. Die Partnerschaft ermöglichte gemeinsame Doktoratsstudien der beiden Einrichtungen in den Biowissenschaften, die Ausbildung von vier Forscherinnen und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den wissenschaftlichen Verantwortlichen. Ein zweites gemeinsames PhD-Programm zwischen den beiden Einrichtungen ist derzeit im Gange.
„Veränderungen des Komplements begünstigen Geschwüre im Mund oder wirken ihnen entgegen.“
Das Forschungsteam überprüfte zudem, ob genetische Varianten, die mit dem Aktivierungsgrad des Komplementsystems in Verbindung stehen, auch mit anderen Krankheiten oder Gesundheitsindikatoren assoziiert sind. Auf diese Weise ließen sich kausale Auswirkungen des Komplementsystems auf die menschliche Gesundheit aufzeigen.
Der ausgeprägteste Zusammenhang zeigte sich zwischen dem Grad der Aktivierung des Lektinwegs und der Entwicklung von Mundgeschwüren. „Diese Ergebnisse eröffnen uns neue Wege. Wenn wir sie weiterverfolgen, könnten wir Zusammenhänge mit vielen anderen, noch bedeutenderen Pathologien ausfindig machen“, erklärt Luisa Foco.
Neue Möglichkeiten, um das angeborene Immunsystem besser zu verstehen
Schließlich wurden durch den Vergleich mit verfügbaren Daten aus Proteomik-Studien Zusammenhänge zwischen der Aktivierung des angeborenen Immunsystems und anderen Proteinen auch außerhalb dieses Systems hergestellt.
„In den letzten Jahren ist immer deutlicher geworden, dass das Komplement an viel mehr Vorgängen in unserem Körper beteiligt ist, als ursprünglich angenommen. Derzeit laufen mehrere klinische Studien mit Medikamenten, die auf Komplementproteine abzielen, zur Behandlung von Nieren- und Augenkrankheiten“, erklärt Luisa Foco. „Es ist daher von entscheidender Bedeutung“, fügt Cristian Pattaro hinzu, „zu verstehen, wie das Komplementsystem bei Menschen in der Allgemeinbevölkerung funktioniert, welchen Zusammenhang es mit bestimmten Krankheiten hat und in welcher Beziehung es zu anderen Regulierungsmechanismen im menschlichen Körper steht.“
Die von Eurac Research und der Medizinischen Universität Innsbruck durchgeführte Forschung legt diesen Weg frei.
Die wissenschaftliche Publikation
Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Cell Reports veröffentlicht. Der Artikel „Genetic determinants of complement activation in the general population“ ist frei zugänglich. Die Autorinnen und Autoren sind Damia Noce, Luisa Foco, Dorothea Orth-Höller, Eva König, Giulia Barbieri, Maik Pietzner, Dariush Ghasemi-Semeskandeh, Stefan Coassin, Christian Fuchsberger, Martin Gögele, Fabiola Del Greco, Alessandro De Grandi, Monika Summerer, Eleanor Wheeler, Claudia Langenberg, Cornelia Lass-Flörl, Peter Paul Pramstaller, Florian Kronenberg, Reinhard Würzner, Cristian Pattaro.