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„Eine Schatzkiste der Nachhaltigkeit“

Eurac Research präsentiert „Hüter der Vielfalt“, eine Ausstellung zum lebendigen Kulturerbe im Vinschgau, Unterengadin und Val Müstair.

Credit: SBO / Armin Huber | All rights reserved

Mit der Ausstellung „Hüter der Vielfalt“, dem ein Forschungsprojekt von Eurac Research zugrunde liegt, soll das lebende Kulturerbe im Vinschgau, Unterengadin und Val Müstair neue Wertschätzung erfahren. Projektleiterin Ricarda Schmidt spricht über einen „riesigen Wissensfundus“, den es zu bewahren gilt.

Was hat Sie als Archäologin, die aus dem kleinen oberbayerischen Dorf Eurasburg stammt, denn dazu verleitet, sich mit dem Kulturerbe im Vinschgau, Unterengadin und Val Müstair zu befassen?

Ricarda Schmidt: Im Zuge meiner wissenschaftlichen Tätigkeit habe ich mich auf die internationale Denkmalpflege und die Kulturerbe-Konventionen der UNESCO spezialisiert, insbesondere das Welterbe. Eines meiner jüngsten Projekte war in Garmisch-Partenkirchen angesiedelt, dabei forschte ich zu den dort erhaltenen Berg- und Streuwiesenkulturlandschaften. So kam ich in Kontakt mit dem lebendigen bäuerlichen Kulturerbe, das war dann sozusagen meine Eintrittskarte für das Projekt an der Forschungseinrichtung Eurac Research.

Was wussten Sie vor Antritt des Projekts vom Vinschgau?

Schmidt: Tatsächlich nichts, da ich zuvor nie im Vinschgau war. Das brachte den Vorteil mit sich, dass ich völlig unvoreingenommen an die Thematik herangehen konnte. Zunächst habe ich ein halbes Jahr von Bozen aus gearbeitet, bin dann aber im Mai 2021 nach Eyrs gezogen, von dort aus betreue ich seitdem das Projekt Living ICH, in dessen Rahmen auch die Ausstellung „Hüter der Vielfalt“ entstanden ist.

"Dieses lebendige Kulturerbe zeigt uns auch, auf welche Weise die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen heute schon in unserem Land umgesetzt werden."

Ricarda Schmidt

Dabei sind Sie auf Spurensuche nach lebendigem Kulturerbe gegangen, haben Kulturtechniken wie etwa Weidenflechterei, das Wissen um die Saatgutgewinnung und den Streuobstanbau oder das Schrockn im Schnalstal untersucht. Wozu?

Schmidt: Es geht hier um das Sichtbarmachen von Modellbeispielen für ein nachhaltiges Leben. Wir haben dieses lebendige Kulturerbe von den Generationen vor uns geerbt und sollten uns die Frage stellen, in welcher Form wir es heute pflegen und den nachfolgenden Generationen weitergeben wollen. Es handelt sich um lebendiges Kulturerbe, das man getrost als Schatzkiste der Nachhaltigkeit bezeichnen kann. Dieser riesige Wissensfundus ist die Ausprägung von Kulturtechniken, die teilweise seit Jahrtausenden funktionieren – das gilt es ins Bewusstsein zu rufen.

Sie plädieren also für einen Schutz dieser bäuerlichen Traditionen?

Schmidt: Mit dem Begriff Schutz wäre ich in diesem Zusammenhang vorsichtig, er eignet sich eher für materielles Erbe wie Baudenkmäler oder Burgen. Beim lebendigen Kulturerbe ist hingegen der Aspekt des beständigen dynamischen Wandels wichtig, es geht also eher um die Frage, auf welche Weise wir dieses Kulturerbe bewahren oder revitalisieren möchten. Manche Traditionen sind noch sehr vital, liegen gerade im Trend der Zeit, bei anderen hingegen gibt es sicherlich Handlungsbedarf.

Zum Beispiel?

Schmidt: Spontan fällt mir die Vinschger Palabirne ein. Seit der Kartierung im Jahre 2007 durch die Stadtgemeinde Glurns ist ausgehend vom Gesamtbestand von 142 Bäumen ein Verlust von rund 20 Exemplaren zu bedauern. Es handelt sich hier um eine unheimlich identitätsstiftende Frucht, vor allem für das Obere Vinschgau, wir wollen nun mit einigen Initiativen diese Bedeutung und Rolle der Palabirne ins Bewusstsein rufen. Es sollen Anstöße sein, die Tätigkeiten rund um die Palabirne weiterzuführen.

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Präzisionsarbeit: ein Sgraffito entsteht Credit: Dominik Taeuber | All rights reserved
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Reine Handarbeit: ein neues Gewebe entsteht Credit: Tessanda | All rights reserved
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Das Klosn findet jährlich Anfang Dezember ins Stilfs statt. Es ist mit einer Art Initiationsritus verbunden, weswegen auch ehemalige Stilfser sehr gerne daran teilnehmen. Credit: Gianni Bodini | All rights reserved
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Seinem Blick entgeht Nichts: Border Collie bei der ArbeitCredit: Erna Grüner | All rights reserved
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Bunte Erbsenvielfalt Credit: Ricarda Schmidt | All rights reserved

Es geht hier also um weit mehr als um den Erhalt bäuerlicher Traditionen. Es geht um die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, mit sinnstiftenden Tätigkeiten…

Schmidt: Und wie. Die identitätsstiftende Wirkung des lebendigen Kulturerbes ist kaum hoch genug einzuschätzen. Es prägt den Alltag der Menschen, formt den Charakter und erzeugt Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Bewahrung von immateriellem Kulturerbe ist weitaus mehr als lediglich ein Bewahren um des Bewahrens willen.

Wie wurden Sie von den Vinschgern aufgenommen, als Forscherin von auswärts?

Schmidt: Ich habe mich von Anfang an äußerst wohl gefühlt und willkommen geheißen. Die von mir interviewten Menschen haben mir einen sehr tiefen, lebendigen und umfangreichen Blick in ihren Alltag gewährt, sie haben mir völlig neue, mir bis dahin unbekannte Universen eröffnet. Dafür bin ich ihnen sehr, sehr dankbar.

Ihre interessantesten Begegnungen und Erlebnisse?

Schmidt: Jedes Gespräch war für mich von besonderem Wert, ich kann und möchte das nicht gewichten. Natürlich war ich auch bei diversen Brauchtumsveranstaltungen wie der Herz-Jesu-Feier, dem Zusslrennen in Prad, dem Hom Strom in Scuol oder dem Chalandamarz in Val Müstair. Und weil Sie davor das Schrockn erwähnt haben: Es ist unheimlich toll, dass wir diesen Brauch aus dem Schnalstal ausgebuddelt haben, der sogar den meisten Südtirolern kein Begriff ist.

Wie geht es nun weiter mit dem Projekt?

Schmidt: Prinzipiell handelt es sich bei der Ausstellung „Hüter der Vielfalt“ nur um einen Baustein von etwas Größerem. Weil es sich ja um lebendiges Kulturerbe handelt, wollen wir alle Interessierten hier einbinden und sie zum Mitmachen animieren. Die Identifikation von lebendigem Kulturerbe kann nicht ohne die Mitsprache der Menschen vor Ort erfolgen, ist keine Sache, die am Schreibtisch entschieden werden kann. Jede Generation muss sich neuerlich fragen, welche Beispiele des lebendigen Kulturerbes sie in welcher Form an die künftigen Generationen weitergeben möchte. Es geht uns somit um Dialog, Austausch, gegenseitige Bereicherung. Deshalb planen wir nun Veranstaltungen, Lehrfahrten ein Symposium, einen Kinoabend. Dieses lebendige Kulturerbe zeigt uns auch, auf welche Weise die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen heute schon in unserem Land umgesetzt werden und welchen Weg wir weiterbeschreiten sollten. Auf diese Weise soll mittels unseres Projekts die Bedeutung und Relevanz des lebendigen Kulturerbes für die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft noch viel deutlicher hervortreten.

Informationen zur Ausstellung


Die Ausstellung „Hüter der Vielfalt“ porträtiert Persönlichkeiten, die das lebendige Kulturerbe im Vinschgau, Unterengadin und Val Müstair pflegen. Anhand von 19 Beispielen lässt sich der große Reichtum dieses Kulturerbes – darunter das Wissen um altes Saatgut, um die Palabirne oder die Handweberei – entdecken. Die Vernissage findet am Freitag, 15. Juli um 18 Uhr, in der Kartause des Klosters Allerengelberg in Karthaus (Schnals) statt. Die Ausstellung wird außerdem in Laas, Glurns und Valchava (CH) gezeigt. Der Eintritt ist kostenlos.

  • 15.–31. Juli 2022: Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
  • 6.-7. August 2022: auf dem Festival „Marmor und Marillen“ in Laas
  • 3.–18. September 2022: auf den Palabiratagen in Glurns
  • 2.–14. Oktober 2022: auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava (CH)

Die Ausstellung wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ realisiert, unter der Leitung von Eurac Research. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.

Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt forscht am Institut für Regionalentwicklung von Eurac Research. Sie hat Klassische Archäologie in München, Bonn und Athen sowie Internationalen Kulturgüterschutz in Frankfurt an der Oder/ Słubice studiert. Sie stammt aus Eurasburg, einem kleinen Dorf zwischen München und Garmisch-Partenkirchen. Seit Mai 2021 lebt sie in Eyrs und untersucht mit ihren Forschungskolleginnen von Eurac Research das Lebendige Kulturerbe im Vinschgau, Unterengadin und Val Müstair.

Dieses Interview ist am Mittwoch, 13.07.2022 in der Tageszeitung „Dolomiten“ erschienen, Autor: Alexander Zingerle.

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