magazine_ Interview
Einhundertzwanzig Flüsse und deren Bewohner
Limnologe Alberto Scotti und seine Forscherkollegen an Eurac Research erstellen einen „Katalog“ der wirbellosen Tiere in Südtirols Gewässern.
Die Vereinten Nationen haben das kommende Jahrzehnt 2021 bis 2030 zur UN-Dekade der Wiederherstellung von Ökosystemen erklärt. Doch wie soll diese Renaturierung erfolgen, wenn wir nicht wissen, wie ein Ökosystem vor dem menschlichen Eingriff ausgesehen hat? Der Limnologe Alberto Scotti erstellt mit seinem Forscherteam einen Katalog der wirbellosen Tiere in Südtirols Flüssen und Bächen. Die erste Reihe von Beprobungen wird in den nächsten Tagen abgeschlossen.
Welche Bäche haben Sie im Eisacktal und Pustertal beprobt?
Alberto Scotti: Den Eisack bei Gossensaß, Sterzing und Franzensfeste, den Pfitscher Bach bei Wiesen. Die Rienz, Drau und den Antholzer Bach im Pustertal, sowie verschiedene kleinere Bäche in den Seitentälern. Zusätzlich zu diesen Standorten gibt es weitere, die über ganz Südtirol verteilt sind, so dass sich ein Netzwerk von 120 Standorten ergibt, die über den Zeitraum von drei Jahren beprobt werden. An einige Standorte kehren wir jedes Jahr zurück, um Veränderungen im Laufe der Zeit zu überprüfen. Die Arbeit ist Teil des Südtiroler Biodiversitätsmonitorings, einer umfassenden Studie, die wir mit Unterstützung des Naturmuseums Südtirol und des Landes Südtirol durchführen.
Untersuchen Sie auch die Wasserqualität?
Scotti: Nicht direkt. Wir erheben die Artenvielfalt der im Wasser lebenden Invertebraten, das natürlich indirekt auf die Qualität des Wassers schließen lässt. Ein etwa 50-100 Meter langer Fließgewässerabschnitt wird nach spezifischen Kriterien ausgewählt und genau untersucht. Dabei konzentrieren wir uns auf jedes einzelne Mikrohabitat: zwischen Kies, Sand, kleinen Steinen mit bis zu 25 Zentimetern Durchmesser, organischem Material wie Holzstücken oder Algen. Für jeden Fließgewässerabschnitt nehmen wir mindestens acht Proben: Wir heben die größeren Steine an, um die darunter lebenden Tiere zu sehen, bewegen den Sand oder die Algen und Wasserpflanzen und sammeln die Tiere mit Keschern ein. Jedes Tier wird bestimmt und anschließend in eine Datenbank eingetragen.
Wie haben Sie die Bäche ausgewählt?
Scotti: So, dass wir möglichst vielfältige Merkmale der Fließgewässer berücksichtigen können Wir haben die Fließgeschwindigkeit des Wassers, das Gefälle, die Höhe, den glazialen oder nicht-glazialen Ursprung und die Geologie berücksichtigt.
Warum kehren Sie an manche Orte zurück?
Scotti: Weil es Referenzstandorte, die für ganz bestimmte Kategorien stehen. Wir brauchen sie, um Beobachtungen in verschiedenen Jahren zu bestätigen. Ein Beispiel: Nach einem schneereichen Winter und kaltem Frühjahr, sammelt sich oft weniger organisches Material wie Laub- oder Holzstücke auf der Bachsohle bestimmter Bäche, einfach weil es länger unter dem Schnee eingeschlossen war. Dies wirkt sich auf die im Wasser lebenden Populationen aus. Nur wenn wir die Beobachtungen Jahr für Jahr wiederholen, gewinnen wir solche Erkenntnisse.
Alberto Scotti
Alberto Scotti, gebürtiger Mailänder, hat seine Leidenschaft für Limnologie nach Südtirol verschlagen. Als Forscher am Institut für Alpine Umwelt untersucht er, wie menschliche Eingriffe, einschließlich des Klimawandels, das Leben wirbelloser Tiere in Gebirgsbächen beeinflussen. Eine seiner Studien zeigt auf, welche nachteiligen Auswirkungen brachliegende Hochweiden auf die aquatische Artenvielfalt hat.
Das Interview ist am 5. Juni 2021 im „Alto Adige“ erschienen.