Der heutige 11. Dezember ist Internationaler Tag der Berge mit Schwerpunkt Biodiversität. Warum ist das gerade in Bergregionen ein so wichtiges Thema, Herr Hilpold?
Hilpold: Berge sind ein Hotspot der Biodiversität. Das hat mehrerlei Gründe: Zum einen verändern sich im Gebirge die Umweltparameter sehr schnell. Man braucht nur ein paar hundert Höhenmeter aufsteigen, und schon sieht die Tier- und Pflanzenwelt ganz anders aus. Zum anderen verhalten sich Gebirgsökosysteme fast schon wie Inseln. In isolierten Gebirgsmassiven entwickeln sich fortlaufend neue Arten, die nur dort beheimatet sind. Und was sich im Großen abspielt, kann in den Bergen auch aufs Kleine heruntergebrochen werden. In Geländemulden und -kuppen können auf einem Quadratmeter Mikro-Habitate entstehen, wenn etwa auf der Sonnenseite plus 30 Grad sind und auf der Schattenseite nur fünf.
Seit zwei Jahren erfasst Eurac Research - im Auftrag des Landes - wie es um die Biodiversität in Südtirol bestellt ist (vgl. Info-Box). Das klingt nach einem Monstervorhaben, wenn man sich mal vor Augen führt, dass es in Südtirol rund 2500 Pflanzen- und mindestens zehnmal so viele Tierarten gibt.
Hilpold: Wir erfassen ja nicht alle, sondern haben eine Vorauswahl getroffen, welche Arten in welchen Habitaten Sinn machen. Zurzeit konzentrieren wir uns auf Fokusgruppen wie Schmetterlinge, Heuschrecken, Vögel, Fledermäuse, Gefäßpflanzen, Moose…
Warum Schmetterlinge?
Hilpold: Um genau zu sein erheben wir Tagfalter. Sie reagieren besonders sensibel auf Klima- und Landnutzungsänderungen – sind also ein guter Indikator für den Zustand ihres Lebensraums, der sich übrigens über tausende von Quadratmetern erstrecken kann, weil es sich ja um Fluginsekten handelt. Außerdem durchleben Tagfalter ihr Larvenstadium vielfach in einem Lebensraum, der sich komplett von dem der Falter unterscheidet. Verschwindet die Futterpflanze für die Raupen, verschwinden auch die Falter. Mit anderen Worten: Wo Schmetterlinge sind muss die Landschaft aus ökologischer Sicht intakt sein.
Wo Schmetterlinge sind muss die Landschaft aus ökologischer Sicht intakt sein.
Andreas Hilpold
Welche Vogelarten werden erhoben?
Hilpold: Wir beobachten und dokumentieren alle Vogelarten. In einem Spezialprojekt nahmen wir außerdem Vögel auf extensiv bewirtschafteten Wiesen und Weiden näher unter die Lupe. Die sogenannten Wiesenbrüter sind immer dann stark gefährdet, wenn etwa zu früh gemäht wird und dadurch ihr Gelege zerstört wird.
Was ist besonders an Vögeln in Bergregionen?
Hilpold: Sie haben sich – wie im Übrigen auch die meisten hier vorkommenden Tier- und Pflanzenarten – ganz stark an die extremen Bedingungen angepasst. So finden sich viele Arten wie etwa der Schneesperling, der Bergpieper, die Alpendohle und der Bartgeier nur in Bergregionen. Gebirgslebensräume sind nicht ersetzbar. Arten haben hier nicht viele Ausweichmöglichkeiten.
Beim Naturschutz kann ich mich nicht auf mein Bauchgefühl verlassen.
Andreas Hilpold
Was könnte sie in diesen Höhenlagen dazu veranlassen, ausweichen zu müssen?
Hilpold: Zugegeben, ab der Baumgrenze, also um die 2200 Meter ist der direkte Einfluss der Menschen meist gering und dann nur punktuell. Man denke etwa an Aufstiegsanlagen, Flugsportarten, Skitourengeher, Wanderer. Allerdings befindet sich die Welt seit der industriellen Revolution in einem Umbruch, der auch die entlegensten Winkel der Erde erreicht. Der Mensch greift in zahlreiche Stoffkreisläufe ein, was zu einer Erwärmung der Atmosphäre führt, daneben gibt einen Eintrag von Stickstoff und weiterer Stoffe auch in Gebirgsökosystemen. Vielfach sind Arten gezwungen sich neue Standorte zu suchen. Ausweichmöglichkeiten suchen sie zunächst meist horizontal, etwa indem sie von der Süd- auf die Nordseite eines Berges wechseln. Aber irgendwann sind auch diese Nischen besetzt, und es bleibt nur noch die Flucht nach oben.
Was passiert, wenn es keinen Raum mehr nach oben gibt?
Hilpold: Dann wird die Lage in der Tat kritisch. Am Mendelkamm haben wir beispielsweise den Dreizähnigen Augentrost gefunden. Für diese Blumenart gibt es keine Ausweichmöglichkeiten nach oben, sollte sich ihr jetziger Lebensraum stark verändern. Pflanzen im Gebirge sind stark an ihren Standort gebunden und können nur selten auf einen Ersatzlebensraum ausweichen. Dasselbe gilt auch für die Tierarten, die sich von diesen Pflanzen ernähren.
Warum ist es so wichtig, die Biodiversität zu erfassen?
Hilpold: Neben dem Klimawandel wird der Rückgang der Biodiversität eines unserer größten Probleme der nächsten Jahrzehnte sein. Wenn alle Insekten und Gliedertiere aussterben würden, hat der amerikanische Biodiversitätspapst Edward Wilson berechnet, werden wir Menschen ihnen nach nicht mal einem Jahr folgen.
Das scheint mir jetzt etwas dramatisch. Droht den Insekten wirklich ein Massensterben?
Hilpold: 2017 kam in Deutschland die Krehfeld Studie heraus. Sie belegt, dass in nicht einmal 30 Jahren, die Biomasse an Fluginsekten im Schnitt um 76,7 Prozent zurückgegangen ist. Seit den 1970er Jahren haben Naturwissenschaftler an 63 Standorten in Deutschland die Fluginsekten erhoben. Am Anfang wurden sie sicherlich oft belächelt: Wozu bitte sollte das gut sein? Heute wissen wir, wie wichtig solche Erhebungen über lange Zeitspannen sind. Ähnliches gilt wohl auch für das Biodiversitätsmonitoring Südtirol. Einige unserer Erhebungen werden erst in 20-30 Jahren ihren wahren Nutzen zeigen.
Hier wird also Grundlagenforschung betrieben?
Hilpold: Ich sag‘s mal so: Unsere Welt ist so hochkomplex geworden, dass wir Fakten und empirisches Wissen brauchen, um sie zu verstehen und faktenbasierte Entscheidungen treffen zu können. Beim Naturschutz kann ich mich nicht auf mein Bauchgefühl verlassen. Womit ich aber nicht sagen will, dass unsere Erhebungen nicht auch von praktischem Nutzen sein können. Wir können etwa neue Schädlinge frühzeitig ausfindig machen wie das Südafrikanische Greiskraut, das ungewollt durch den Schafwollhandel eingeschleppt wurde und jetzt auch schon gelegentlich auf unseren heimischen Wiesen und Weiden zu finden ist. Die gelbe Blume ist giftig für Rinder und Pferde.
Gab es Überraschungen beim Biodiversitätsmonitoring in den ersten zwei Jahren?
Hilpold: Wir finden immer wieder Arten, die wir uns an den jeweiligen Standorten nicht erwartet hätten, etwa eine winzige Moosart in den Obstanlagen bei Montan, oder der Schwarzmilan, ein Greifvogel, in der Ackerlandschaft bei Dietenheim. Der Fund von Nadigs Alpenschrecke auf der Seiser Alm, eine Heuschreckenart, von der es weltweit wohl nur zehn Populationen gibt und zwar fast nur im Dolomitenraum, war ein absolutes Highlight. Daneben haben sich aber sehr viele unserer Erwartungen bestätigt oder wurden gar übertroffen, etwa die unglaublich hohe Biodiversität der Feuchtlebensräume, also der Moore und Seen und Flussufern, oder die Vielfalt in Trockenweiden und Magerwiesen – Lebensräume, die weltweit Rekordhalter sind, was die pflanzliche Diversität auf kleinen Raum betrifft.
Biodiversitätsmonitoring Südtirol
2019 begann Eurac Research im Auftrag der Südtiroler Landesregierung mit einem groß angelegten Biodiversitätsmonitoring. In einem Zeitraum von fünf Jahren werden in ganz Südtirol 320 verschiedene Standorte aus 6 großen Lebensraumkategorien erhoben. Bis Ende 2020 wurden 128 Standorte untersucht. Im Fokus der Erhebungen stehen Gefäßpflanzen, Vögel, Fledermäuse, Tagfalter, Heuschrecken, Moose und Flechten sowie verschieden Bodenorganismen. Neben den terrestrischen Tier- und Pflanzengruppen werden auch Bodenparameter und die Landschaftstruktur aufgenommen. Ab 2021 werden im Zeitraum von vier Jahren und in 120 verschiedenen Standorten auch aquatische Tier- und Pflanzengruppen erhoben. Partner für das Monitoring sind das Naturmuseum Südtirol und das Amt für Natur der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol. Im Naturmuseum werden sowohl Daten als auch Belege zentral gesammelt, während im Amt für Natur die Lebensraumdaten zusammenlaufen.
Die Ergebnisse aus dem ersten Jahr im Überblick zum Download: