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„Kinder in Regenbogenfamilien sind rechtlich nicht ausreichend geschützt“

Interview mit dem Anwalt Alexander Schuster

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Die nicht-biologische Mutter muss das gemeinsame Kind adoptieren: In Italien können Kinder aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften nicht durch beide Elternteile bei der Geburt anerkannt werden.

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by Barbara Baumgartner

Die Rechte von LGBTQ-Menschen beschäftigen den Trentiner Rechtswissenschaftler und Anwalt Alexander Schuster in seiner Forschungsarbeit ebenso wie vor Gericht, wo er häufig Transpersonen und Regenbogenfamilien vertritt. Ein Gespräch über Italiens veraltete Gesetze, Gerichte, die das Parlament ersetzen müssen, und die Schwierigkeit, Diskriminierung zu beweisen.

Die LGBTQ+-Community erlebt in Italien gerade eine schwierige Zeit: Die Regierung Meloni schafft nicht nur rhetorisch ein Klima der Ausgrenzung, sie beschneidet auch konkret Rechte. Geben Sie uns einen kurzen Überblick über die juristische Lage?

Alexander Schuster: Man muss sagen, wirklich gut war die rechtliche Situation in Italien nie. Einen lichten Moment gab es zwischen 2014 und 2016, unter anderem mit der Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaften (unioni civili), die einem gefallen können oder nicht, die den Paaren aber rechtlich gesehen einen umfassenden Schutz garantieren. Nur einmal gehörte Italien zur Avantgarde: Wir waren das dritte Land, das die Identität von Transpersonen anerkannte – das war allerdings im vorigen Jahrhundert, vor 40 Jahren. An diesem Punkt sind wir stehengeblieben, während die Welt ringsum längst weiter ist. Transmenschen müssen in Italien für ihre Anerkennung noch immer ein langes, aufwendiges und kostspieligen Verfahren vor Gericht durchlaufen, das heute keinen Sinn mehr hat. So wie es keinen Sinn mehr hat, dass sie ein Gerichtsurteil brauchen, um medizinische Eingriffe an ihrem Körper vornehmen zu lassen. Vor 40 Jahren war das wichtig, weil die Chirurgen Angst hatten, an „gesunden“ Körpern Hand anzulegen, also eine Absicherung verlangten. Heute sehen die Chirurgen kein Problem mehr. Trotzdem können Transpersonen sich nicht wie alle anderen Menschen für eine medizinische Behandlung direkt an einen Arzt wenden, sondern müssen zuerst einen Anwalt einschalten und vor Gericht gehen. Die Frage, ob dies nicht sogar verfassungswidrig ist, hat das Gericht Bozen im Januar an das Verfassungsgericht weitergeleitet, angestoßen durch den Fall einer jungen Südtiroler Transperson, die ich vertrete. Hoffentlich ändert sich hier also etwas.

Das grundlegende Problem ist das politische Klima, das eben für Minderheiten nicht günstig ist.

Alexander Schuster

Und wie steht es in Bezug auf Ehe und Familie?

Schuster: Italien ist als Land, in dem gleichgeschlechtliche Paare nicht heiraten können, neben San Marino, Monaco und dem Vatikanstaat inzwischen die einzige Ausnahme in Westeuropa. Zwar ist die Ehe im Familienrecht eher ein symbolisches Etikett; wenn sie aber nicht allen gewährt wird, bedeutet dies eine Diskriminierung.
Was die Familien betrifft, so ist das große Problem der mangelnde Schutz der Kinder, die in Regenbogenfamilien zur Welt kommen – ein Problem, das sich aus der Unsicherheit der Anerkennung ergibt.

Viele Familien erfahren diese Unsicherheit gerade drastisch: Die jahrelange Praxis von Bürgermeistern, gleichgeschlechtliche Paare in den Geburtsurkunden als Eltern einzutragen, hat das Innenministerium gestoppt, die Eintragung des nicht-biologischen Elternteils kann sogar rückgängig gemacht werden.

Schuster: Das Problem ist, dass es in Italien kein Gesetz gibt, das die Anerkennung durch beide Elternteile bei der Geburt von Kindern aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ermöglicht. In Westeuropa ist dies mittlerweile überall gesetzlich geregelt, nur in Deutschland besteht noch eine Situation wie in Italien: Hat etwa ein lesbisches Paar ein Kind, muss dieses von der nicht-biologischen Mutter adoptiert werden. Aber in Deutschland ist der Prozess sehr viel einfacher, und vor allem will man diese Ungleichbehandlung dort jetzt beenden, es gibt schon einen Gesetzesentwurf.
In Italien dagegen besteht gar keine Aussicht, dass sich hier auf gesetzlicher Ebene etwas tut. Das grundlegende Problem ist das politische Klima, das eben für Minderheiten nicht günstig ist.

Auf einer Demonstration gegen Homophobie in Nordeuropa. In Italien demonstrierten Regenbogenfamilien zuletzt häufig gegen die Diskriminierung durch die Regierung Meloni.© Adobe Stock | sibway

Welche Rolle spielt die EU – kann sie in diesen Fragen auf die Mitgliedstaaten Einfluss nehmen?

Schuster: Die Europäische Union hat nur sehr begrenzte Zuständigkeiten, was die Familie anbelangt. Woraus sich aber doch ein Einfluss ergibt, ist die Tatsache, dass die Menschen reisen, in anderen Ländern leben, vor allem auch LGBTQ-Menschen, denke ich, und so erleben etwa Menschen aus Südtirol in Österreich, in Deutschland, in der Schweiz ein ganz anderes Klima – sie sehen sich als intersexuelle Menschen anerkannt, als nicht-binäre Menschen anerkannt, die Ehe steht ihnen offen, sie werden als Elternteil bei der Geburt anerkannt. Dann kommen sie nach Italien zurück und ihre Welt bricht zusammen.

Die EU zwingt uns zur Auseinandersetzung mit dem, was jenseits unserer Grenzen passiert.

Alexander Schuster

Die Europäische Union muss auch garantieren, dass EU- Bürgerinnen und -bürger auf dem Gebiet der Union ihren Pass nicht wechseln müssen. Gerade ist vor dem Gerichtshof der Fall einer Transperson anhängig, die in Rumänien nach der Geburt als weiblich registriert worden war, später aber in Großbritannien eine Geschlechtsumwandlung und die offizielle Anerkennung der männlichen Geschlechtsidentität erhalten hat, was das Herkunftsland nun jedoch nicht anerkennt. Da ist also jemand in einem Land Mann und wird bei Grenzüberschreitung zur Frau. Wir werden sehen, wie das Gericht entscheidet – aber es kann nicht sein, dass man beim Wechsel von einem Land ins andere das Geschlecht wechselt. Das sind also ein paar interessante Fragen, die uns in Italien vor Augen führen, dass das Recht sich in anderen Ländern in den vergangenen vierzig Jahren sehr schnell weiterentwickelt hat, jedoch nicht so bei uns. In diesem Sinne spielt die EU zwar eine begrenzte, aber eben doch eine Rolle, denn sie zwingt uns zum Dialog, zur Auseinandersetzung mit dem, was jenseits unserer Grenzen passiert.

In Italien sind es in Bezug auf zivile Rechte häufig die Gerichte, die den Gesetzgeber zum Handeln auffordern – so hat das Verfassungsgericht es für rechtswidrig erklärt, dass Kindern bei der Geburt automatisch der Nachname des Vaters zugewiesen wird. Sind die Gerichte progressiver als die Politik?

Schuster: Die Gerichte haben immer eine wichtige Rolle beim Schutz von Minderheiten – in unserer westlichen Kultur ist es Aufgabe des Gesetzes, Minderheiten zu verteidigen, nicht die Mehrheit noch weiter zu stärken. In Italien haben wir aber leider die Situation, dass das Parlament nicht fähig oder willens ist, entsprechende Gesetze zu erlassen – die angesprochene Frage der Nachnamen betrifft ja die wunderschönen, heterosexuellen, verheirateten Paare, und nicht einmal hier schafft es das Parlament, sie zu klären. Es hat offenbar Angst, Fragen anzurühren, die die Familie und die Person betreffen, zumindest wenn es in die Richtung von mehr Offenheit und Gleichbehandlung geht.

Die Demokratie braucht zwar die korrigierende Rolle der Gerichte, aber ihre Entwicklung, ihre Regeln sollten vom Parlament bestimmt werden.

Alexander Schuster

Und also sind die Menschen gezwungen, mit ihren Fragen vor Gericht zu gehen, und die Richter und Richterinnen geben Antwort. Aber sie könnten es leid werden, immer für das Parlament einzuspringen; den Gerichten wird eine Last aufgebürdet, die zu tragen ihnen eigentlich nicht zukommt. Denn die Demokratie braucht zwar die korrigierende Rolle der Gerichte, aber ihre Entwicklung, ihre Regeln sollten vom Parlament bestimmt werden, der gewählten Volksvertretung. Wir haben in Italien also ein System, in dem der Plan B – also das, was eigentlich das Sicherheitsnetz sein sollte – zum hauptsächlichen Weg wird, um Rechte durchzusetzen. Das ist kein gesundes System.

Mit welchen Problemen kommen die Menschen zu Ihnen als Anwalt?

In Bezug auf die Rechte von Transpersonen ist in den letzten Jahren die Anerkennung als nicht-binäre Person stark in den Vordergrund gerückt – meiner Meinung nach ein sehr schönes Thema, das den Menschen in den Mittelpunkt des Rechts stellt. Auch hierzu hat das Bozner Gericht aus Anlass des vorhin erwähnten Falls einer jungen nicht-binären Transperson das Verfassungsgericht um Stellungnahme gebeten: Sollten nicht-binäre Menschen nicht die Möglichkeit haben, neben dem weiblichen und männlichen Geschlecht eine dritte Option zu wählen?
Dann ist da die Frage der Familien mit zwei Müttern, wo wirklich großes Leiden entsteht, wenn zum Beispiel das Paar in eine Krise gerät – die nicht-biologische Mutter kann dann über Nacht alle Rechte verlieren, weil die Anerkennung durch den Bürgermeister anfechtbar ist, die biologische Mutter sich der Adoption widersetzen kann …. Der Schutz der Kinder ist hier sicher das größte Problem. Ein anderes Thema ist Diskriminierung; diese Fälle sind sehr schwierig, weil die Richter nicht geübt sind, Diskriminierung zu erkennen, weil sie Beweise schwarz auf weiß erwarten, aber so funktioniert es natürlich nicht. In der Wohnungsanzeige steht nicht, dass an Homosexuelle oder Transpersonen nicht vermietet wird. Es ist viel subtiler. Wenn eine katholische Schule einen schwulen Lehrer nicht mehr will, sagt sie nicht, wir entlassen dich, weil du schwul bist – sie erfindet tausend Gründe. Und die Richter sind selten in der Lage, mit diesen Situationen umzugehen, weil sie viel zu selten mit ihnen konfrontiert sind – solche Fälle werden kaum vor Gericht gebracht, weil die Gefahr groß ist, dass man sie verliert; und weil es so wenige Fälle sind, sind die Richter nicht geübt, mit ihnen umzugehen, das heißt, man riskiert, sie zu verlieren … es ist also ein bisschen wie ein Hund, der sich in den eigenen Schwanz beißt.

Von der schönen und einfachen Feststellung ausgehend „nicht-binäre Menschen existieren“ haben Richter in Bozen dem Verfassungsgericht wichtige Fragen gestellt.

Alexander Schuster

Sie sind im Trentino und auch in Südtirol tätig – sind diese ländlichen, peripheren Regionen so konservativ und rückständig, wie ihnen nachgesagt wird?

Schuster: Das trifft vielleicht auf das Trentino zu; Südtirol hat in meinen Augen den großen Vorteil, dass es in kulturellem Kontakt mit den deutschsprachigen Ländern steht, die – so unterschiedlich sie sein mögen –doch sämtlich Italien in diesen Fragen um Lichtjahre voraus sind. In Österreich wie Deutschland haben nicht-binäre Menschen beim Eintrag ins Personenstandsregister eine dritte Option, haben lesbische Paare Zugang zu IVF … Und die Gesellschaft in Südtirol mag konservativ sein, aber sie versteht zum Glück, was draußen vor sich geht, sie blickt nicht nur nach Rom. Diese Nähe zu einem Kontext, der Minderheiten und Grundrechte respektiert, hat das Trentino nicht, und deshalb ist es ein schwierigeres Umfeld. Aber hier wie dort kann man alle Arten Erfahrungen machen. Von der schönen und einfachen Feststellung ausgehend „nicht-binäre Menschen existieren“ haben Richter in Bozen dem Verfassungsgericht wichtige Fragen gestellt; die Staatsanwaltschaft in Bozen hat erklärt, eine LGBTQ-Organisation als „Pädophile, Exhibitionisten und Verführer“ zu bezeichnen, falle unter das Recht der Kritik und stelle somit kein Problem dar.

Alexander Schuster

Alexander Schuster ist Dozent für Rechtswissenschaften an den Universitäten Trient und Verona und Anwalt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört Familienrecht mit besonderem Fokus auf neuen Formen von Lebensgemeinschaften. Er hat mehrere Bücher über gleichgeschlechtliche Elternschaft herausgegeben und im Auftrag der italienischen Regierung einen Bericht über die Diskriminierung von LGBTQ-Personen in Süditalien koordiniert.

Gender Dynamics


Um Geschlechterfragen in all ihren vielfältigen Aspekten und Auswirkungen zu untersuchen, ist bei Eurac Research die interdisziplinäre Forschungsgruppe Gender Dynamics entstanden. Sie vernetzt alle, die sich im Forschungszentrum mit geschlechtsspezifischen Themen befassen, und arbeitet mit lokalen und internationalen Akteurinnen und Akteuren zusammen. Am 4. Juni lädt die Forschungsgruppe zu einer Diskussionsrunde mit Expertinnen und Experten über die Rechte und Realität der LGBTQIA+ in Südtirol und Trentino ein: https://www.eurac.edu/de/institutes-centers/institut-fuer-minderheitenrecht/news-events/runder-tisch-rechte-und-realitat-der-lgbtqia-in-sudtirol-und-trentino


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