Mitten im Bürgerkrieg wurden in einer Höhle im Norden Libanons mittelalterliche Mumien gefunden. Viele Jahre lagen sie unbeachtet im Keller des Nationalmuseums, jetzt gehören sie dank dem Bozner Konservierungsexperten Marco Samadelli zu den attraktivsten Exponaten. Und bald werden Samadellis Forscherkollegen von Eurac Research ihnen ihre Geheimnisse entlocken.
Dass die Museumsangestellten den Mumien im Lager unten eine gewisse Zurückhaltung entgegenbrachten, war Marco Samadelli nicht entgangen: Tatsächlich hatte in den über zwanzig Jahren, die die Körper schon da lagen, niemand auch nur die Tür zu dem Raum geöffnet. Und nun erschien er auch noch in diesem beunruhigenden Aufzug! „Ich trug einen Mundschutz und OP-Kittel, wie immer, wenn ich mit Mumien arbeite – eine Vorsichtsmaßnahme, um sie nicht zu kontaminieren. Aber als die Museumsleute mich so sahen, bekamen sie noch mehr Angst!“ Marco Samadelli lacht. „Sie gaben mir den Schlüssel zum Magazin und blieben in einem Sicherheitsabstand von zehn Metern.“
Was der Mumienkonservator Samadelli in dem Lagerraum aus dicken Lagen Baumwollmull befreite, ist ein hoch interessantes historisches Zeugnis: Acht Mumien aus dem Norden Libanons, wahrscheinlich um die 800 Jahre alt, die einzigen, die im Land je gefunden wurden. Doch sie waren in keinem gutem Zustand: „Von einigen sind nur noch ein paar Stücke da.“
Samadellis erste Aufgabe in Beirut besteht darin, die Mumien zu beurteilen: Wie gut sind sie konserviert? Welche könnte man ausstellen? Seine Auswahl soll er dann präsentabel machen – reinigen, zusammensetzen, einkleiden –, außerdem für die bestmögliche Konservierung aller Körper sorgen. Sein Auftraggeber sitzt nicht im Libanon, sondern in Italien: Die Abteilung für Entwicklungszusammenarbeit im italienischen Außenministerium hat den Ausbau eines neuen Flügels im Beiruter Nationalmuseum finanziert, und der italienische Architekt regte die Ausstellung der weggeschlossenen Mumien an. „Sonst lägen sie wahrscheinlich noch heute im Magazin“, sagt Samadelli.
Wie sie dorthin gelangten, ist eine Geschichte voller romanhafter Details. Ende der 1980er Jahre erkundet eine Gruppe libanesischer „Höhlenforscher“ – Schatzsucher, vermutet Samadelli – eine hochgelegene Karsthöhle im Qadisha-Tal und stößt auf acht im Boden vergrabene Körper, sechs davon wahrscheinlich Kinder. Unter den Grabtüchern tragen sie prachtvoll bestickte Kleider, um sie herum liegen zahlreiche Objekte: Kämme, Manuskripte, Keramik. Die Finder bergen die Mumien, wobei sie mit einem Mangel an Behutsamkeit vorgehen, der Samadelli heute noch schaudern lässt; sie ziehen ihnen die Kleider aus, nehmen alles mit, und einer aus der Gruppe richtet in seinem Haus eine Art Museum ein (worauf seine Frau ihn verlässt, wie er Marco Samadelli bei einem Treffen erzählt). Der Mann baut Schaukästen, gibt den Mumien Namen, versucht sich selbst als Restaurator, indem er Schädelteile – falsch – zusammenklebt. Aber falls Gerüchte von dem kleinen Privatmuseum bis nach Beirut gedrungen sein sollten: Im Land tobt der Bürgerkrieg, der Schutz von Kulturgut ist keine Priorität. Als jedoch endlich Frieden herrscht, fordern die Behörden die Mumien ein. Danach liegen sie unberührt im Keller des Nationalmuseums, bis die Italiener den Vorschlag machen, sie auszustellen.
Die Idee ist keineswegs unumstritten. Der Kulturminister, die Museumsleitung, die religiösen Autoritäten – alle haben Vorbehalte. Den menschlichen Körper auszustellen ist im Islam problematisch, zudem handelt es sich bei den Toten ersten Vermutungen nach um Frauen. Ein glücklicher Umstand ist, dass in der Kulturbehörde maronitische Christen den Ton angeben, die dem Vorhaben offener gegenüberstehen. Ein Ethik-Komitee, dem auch Samadelli angehört, legt schließlich Bedingungen fest: Die Mumien dürfen gezeigt werden, wenn sie vollständig in ihre ursprünglichen Gewänder gekleidet sind.
Die Kleider, im Gegensatz zu den Mumien gut erhalten und von Genfer Fachleuten restauriert, sind noch in anderer Hinsicht entscheidend. Viele Mumienteile fehlen nämlich, liegen vielleicht noch immer in der Höhle auf 1300 Metern; aber in der Gegend dort, an der syrischen Grenze, wird heute schon wieder Krieg geführt. Dank der Kleider kann Samadelli trotzdem ein Gesamtbild der Körper schaffen, indem er fehlende Teile unter dem Stoff rekonstruiert – die Techniken dafür hat er im British Museum gelernt.
Drei Mumien wählt er aus: eine Frau, die mit einem Kind an ihrer Schulter eingegraben lag, und ein weiteres Kind, das der Finder Yasmin nannte, Samadelli aber schon bald in Yasmino umbenennt – es ist ein Junge. Die Körper sind fast schon Skelette; Mumien nennt man sie nur, weil sie noch Haut und Haare haben. Haar besteht aus zähem Keratin, von der menschlichen Materie überlebt es mit am längsten. Bei der libanesischen Frauenmumie liegt es tiefschwarz und dicht wie eine Perücke auf dem knochigen Schädel.
Dass die Körper nicht vollständig verrottet sind lag an der Beschaffenheit des Bodens, vermutet Samadelli. Etwas von dem Sand haftet noch auf der Mumienhaut, als der Konservator mit der Reinigung anfängt. In langwieriger Detailarbeit, nur mit Pinseln, Saugern und dem Dampf von destilliertem Wasser säubert er die Mumienteile. Chemische Produkte würden den Prozess beschleunigen, aber womöglich wichtige Informationen zerstören.
Mit Samadelli arbeiten zwei junge libanesische Archäologinnen, die von ihm lernen, wie die noch eingelagerten Mumien zu behandeln sind. Wissen zurückzulassen ist Teil der Mission, schließlich handelt es sich um ein Projekt der Entwicklungszusammenarbeit. Dass die Ministeriumsbeamten auf Marco Samadelli stießen, als sie einen Experten für Mumienkonservierung suchten, hatte ein gewisse Zwangsläufigkeit: Er ist der Experte auf diesem Feld. Seit Ötzi nach Bozen verlegt wurde, war er mit seiner Konservierung betraut, und es gibt kaum jemanden, der sich so intensiv mit der Frage befasst hat, wie man Mumien bestmöglich vor dem Verfall und damit für zukünftige Forschungen bewahrt. Wobei sein Konzept von Zukunft ehrgeizig ist: „Man muss hier nicht an die nächsten 50, sondern an die nächsten 5000 Jahre denken!“ In seiner Arbeit am Institut für Mumien und den Iceman erforscht Samadelli, welche Konservierungsbedingungen je nach Mumienzustand die optimalen sind, und in seiner Werkstatt in Meran entwickelt er Maschinen, die diese Bedingungen schaffen.
Was ihn interessiert ist aber weniger die Mumie an sich, als die Herausforderung, diese „unendliche Wissensquelle“ mit den Mitteln der Physik so zu erhalten, dass die Forscher sie ausschöpfen können: „Da tut sich eine Welt auf.“
Auch die Mumien von Beirut sollen in den nächsten Jahren genau erforscht werden: Das libanesische Denkmalschutzamt hat die Experten von Eurac Research damit beauftragt. Samadelli hat schon Proben nach Bozen gebracht – zum Beispiel winzige Schädelstücke, mit einem Zahnarztbohrer an einer Stelle entnommen, wo die Konzentration von DNA besonders hoch ist. Die Untersuchungen werden viele Fragen beantworten: Sind die Mumien wirklich Mütter mit ihren Kindern? Woher kamen sie? Auf Grund der Grabbeigaben geht man bislang davon aus, dass es maronitische Christen waren, die im 13. Jahrhundert vor dem Mamelukensultan Beibars in die Berge flohen. Radiokarbonuntersuchungen werden bald eine sichere Datierung ergeben. Auch die Ernährung, Lebensgewohnheiten und Todesumstände jener Menschen können die Forschungen erhellen.
Der neue Museumsflügel wurde im Oktober 2015 eröffnet. Die Mumien, respektvoll in einem abgetrennten Raum ausgestellt, haben sich zum Publikumsmagneten entwickelt, schrieb die Direktorin an Samadelli. Ihn wundert das nicht. „Mumien faszinieren alle – das sehen wir ja auch an Ötzi.“
Dieser Artikel ist am 16. Dezember 2016 in der Südtiroler Wirtschaftszeitung erschienen: https://swz.it/mission-mumienrettung.
Mumien
Bei Mumien denken wir als erstes an Ötzi oder ägyptische Pharaonen, aber das Phänomen ist sehr viel weiter verbreitet: Auf allen Kontinenten gibt es menschliche Überreste, die entweder durch besondere Umweltbedingungen oder spezielle Verfahren vor Verwesung bewahrt wurden. Im ersten Fall spricht man von natürlichen, im zweiten von künstlichen Mumien; hinter natürlicher Mumifizierung kann aber ebenfalls Absicht stecken – etwa wenn Leichen in Kirchengrüften oder Krypten aufbewahrt wurden, weil sie sich dort gut konservierten.
Für die Forschung sind Mumien eine Art „Archiv des Lebens“: Was aßen Menschen vor tausenden von Jahren? An welchen Krankheiten litten sie? Wie behandelten sie Verletzungen, nahmen sie Medikamente? Solche und viele andere Fragen – zur Lebensweise, aber auch zu Herkunft und Verwandtschaft – können Anthropologen, Mediziner, Chemiker, Physiker und Genetiker durch die Erforschung von Mumien beantworten. Das Institut für Mumien und den Iceman von Eurac Research wurde 2007 als weltweit erstes Forschungszentrum gegründet, das sich ausschließlich der wissenschaftlichen Arbeit an Mumien widmet.