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Rätselhafte Gebeine

Eine komplexe Untersuchung darüber, wie zwanzig Kelten vor 2.000 Jahren ums Leben kamen

Patrick Röschli
© Laténium, Hauterive | Patrick Röschli

Unfall oder Opferritus? Ein Forschungsteam hat menschliche Überreste untersucht, die in der Nähe der Ruine einer eingestürzten Brücke im Drei-Seen-Land in der Schweiz gefunden wurden – nicht nur um herauszufinden, was mit diesen Menschen geschah, sondern auch um das keltische Erbe der Region besser zu verstehen.

Eine Ansammlung von menschlichen Knochen und Holzbalken in einem Flussbett. Was ist dort passiert? Wer waren die Opfer? Und was ist ihnen zugestoßen? Das Rätsel der zwanzig Skelette ist seit fast sechzig Jahren ungelöst, aber eine ständige Quelle für Mutmaßungen. Im Jahr 1965 wurden die Ruinen der keltischen Brücke von Cornaux/Les Sauges und die menschlichen Überreste bei Bauarbeiten am Ziehl-Kanal entdeckt. Seitdem haben sich Fachleute aus den Bereichen Archäologie, Anthropologie, Thanatologie (die Wissenschaft vom Tod und den damit verbundenen Praktiken), Biochemie und Paläogenetik mit der Aufklärung dieses ungeklärten Falles beschäftigt.

Ein plötzliches Unglück?

Die Universität Bern und das Institut für Mumienforschung von Eurac Research arbeiten zusammen, um dieses Rätsel besser zu ergründen und neue Erkenntnisse über die keltische Kultur in der Schweiz und in Norditalien zu gewinnen. Da es sich bei den Kelten vor allem um eine mündliche Kultur handelt, gibt es nur wenige schriftliche Quellen. Der bioarchäologische Aspekt ist deshalb entscheidend, um zu rekonstruieren, was damals in Cornaux/Les Sauges geschehen ist. Eine These lautet, dass eine abrupte Überschwemmung oder ein See-Tsunami die Brücke zum Einstürzen brachte, eine andere, dass es sich bei den Skeletten um Menschenopfer handelt – eine für die Kelten belegte Praxis. Zur Rekonstruktion der Tragödie führte das Forschungsteam vielfältige Analysen durch. Der gute Zustand der Fundstücke – in fünf Schädeln sind sogar noch Reste des Gehirns erhalten – spricht dafür, dass die Leichen nach dem Tod schnell unter Sedimenten begraben wurden. Vom Schädel bis zu den Beinen weisen die Skelette zudem zahlreiche Verletzungen auf, die auf starke Gewalteinwirkungen zurückgehen dürften. Im Gegensatz zu anderen europäischen Fundstätten, wo Menschenopfer nachgewiesen sind, wurden in diesem Fall jedoch keine absichtlich oder durch scharfe Gegenstände verursachten Verletzungen festgestellt. Die Analysen stützen also die These eines Unglücks. Auch das Durcheinander von Knochen und Holzstücken weist darauf hin.

„Das Besondere ist, dass es die ersten genomischen Daten aus der Späteisenzeit aus der Schweiz sind, die generiert worden sind“

Stefania Zingale, Paläogenetikerin am Institut für Mumienforschung von Eurac Research
Die Ausgrabungen in Cornaux/Les Sauges (1965-1966).© Courtesy of Laténium – Archaeology Park and Museum Neuchâtel

Indizien und Beweisstücke

Die menschlichen Überreste selbst sind eine Fundgrube für biologische Informationen, und durch die Kombination der Hinweise, die sie mit Hilfe der Radiokohlenstoffdatierung (14C) und Isotopenanalysen liefern, ist es möglich zu verstehen, woher die Menschen kamen, was sie gegessen und wann sie gelebt haben. Bei der Hälfte der Skelette wurde zudem mit paläogenetischen Verfahren die DNA entschlüsselt. So wurden Proben von elf der Individuen im Labor für antike DNA von Eurac Research auf Verwandtschaftsbeziehungen und auf ihr Geschlecht hin untersucht. „Überraschend war, dass wir zwischen den Untersuchten keine engere biologische Verwandtschaftsbeziehung finden konnten“, erklärt Stefania Zingale, Paläogenetikerin am Institut für Mumienforschung. „Oft analysieren wir menschliche Überreste, die an derselben Stelle begraben wurden – und dort stellen wir meist verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Individuen fest. In diesem Fall ist es zum jetzigen Zeitpunkt schwierig zu sagen, warum die untersuchten Individuen nicht enger miteinander verwandt sind.“ Es eigneten sich allerdings nicht alle Proben für eine genetische Analyse, daher könne nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse für alle gefundenen Individuen gelten, führt Zingale an. „Das Besondere ist, dass es die ersten genomischen Daten aus der Späteisenzeit aus der Schweiz sind, die generiert worden sind, und wir erwarten in den kommenden Monaten noch weitere spannende Erkenntnisse“, unterstreicht Zingale.
Die aktuellen Ergebnisse belegen, dass es sich um mindestens 20 Individuen handelt: 17 zumeist junge Erwachsene, ein Mädchen und zwei weitere Kinder. Von den jungen Erwachsenen scheinen 15 männlich gewesen zu sein. Warum bestand diese Gruppe hauptsächlich aus Männern? Könnten es Gefangene oder Sklaven, Händler oder Soldaten gewesen sein? Und eine weitere Frage bleibt offen: Sind sie alle zum selben Zeitpunkt gestorben? Da nicht alle Radiokohlenstoffdatierungen eindeutig ausfielen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob alle Todesfälle zur gleichen Zeit eintraten und ob sie auch wirklich mit der Zerstörung der Brücke zusammenfielen. „Bei Berücksichtigung all dieser verschiedenen Elemente lässt sich vermuten, dass sich in Cornaux ein heftiges, schnelles Unglück ereignet hat“, fasst Marco Milella, Forscher der Universität Bern und Co-Leiter des Projekts, zusammen. „Doch die Brücke könnte auch vorher schon eine Opferstätte gewesen sein.“ Es sei nicht auszuschließen, dass sich einige Leichen bereits vor dem Unfall dort befanden. „Es muss nicht zwingend nur eine der beiden Thesen zutreffen.“

© Courtesy of Laténium – Archaeology Park and Museum Neuchâtel

„Es muss nicht zwingend nur eine der beiden Thesen zutreffen.“

Marco Milella, Forscher der Universität Bern und Co-Leiter des Projekts

„Die Helvetierinnen und Helvetier, blieben also keineswegs unter sich und verschanzten sich hinter ihren Bergen, sondern sie lebten an einem pulsierenden Dreh- und Angelpunkt im Herzen Europas“

Albert Zink, Leiter des Instituts für Mumienforschung von Eurac Research

Dreh- und Angelpunkt des keltischen Europas

Das Drei-Seen-Land war für die Kelten von großer Bedeutung. Insbesondere für die Helvetier, dem größten keltischen Volksstamm, der zwischen dem Genfer- und dem Bodensee lebte. Die neue Studie, bei der erstmals paläogenomische Analysen von Keltinnen und Kelten in der Schweiz durchgeführt wurden, bestätigt die Nähe zu anderen Völkern der Eisenzeit. Die in Cornaux identifizierten Linien sind auch in den Gebieten der Britischen Inseln, der Tschechischen Republik, in Spanien und Mittelitalien zu finden. Die Isotopenanalysen wiederum zeigen, dass die untersuchten Individuen teilweise wohl im Drei-Seen-Land aufgewachsen sind, teilweise aber auch im Alpenraum. „Diese Funde bestätigen die Bedeutung der Region zu jener Zeit“, erklärt Albert Zink, Leiter des Instituts für Mumienforschung von Eurac Research. „Sie belegen die Vorstellung, dass bei den keltischen Volksstämmen eine hohe Mobilität und Durchmischung bestand. Die Helvetierinnen und Helvetier, blieben also keineswegs unter sich und verschanzten sich hinter ihren Bergen, sondern sie lebten an einem pulsierenden Dreh- und Angelpunkt im Herzen Europas“, folgert Zink.

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Die wissenschaftliche Publikation

Die Ergebnisse der vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und von der Autonomen Provinz Bozen (Südtirol) unterstützten Studie wurden vor Kurzem in der Zeitschrift Scientific Reports veröffentlicht. Link zur wissenschaftlichen Publikation „Geographic origin, ancestry, and death circumstances at the Cornaux/Les Sauges Iron Age bridge, Switzerland“: https://doi.org/10.1038/s41598-024-62524-y


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