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Revolutionen am Rande

Liegt die Zukunft peripherer Regionen in sozialer Innovation?

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Bäuerin und Tagesmutter: Das Südtiroler Modell "Kinderbetreuung am Bauernhof" ist ein Beispiel erfolgreicher sozialer Innovation

Credit: Sozialgenossenschaft "Mit Bäuerinnen lernen - wachsen - leben" | All rights reserved

by Barbara Baumgartner

„Soziale Innovation“ gilt zunehmend als Schlüssel, die Welt zum Besseren zu verändern. Welche Chancen darin für abgelegene, ländliche Gebiete liegen, erkundete ein europaweites Forschungsprojekt.

Das Alltagsgesicht von Innovation – das können unspektakuläre Details sein. Ein großes Bauernhaus, zu leer und zu still, seit die Kinder erwachsen und ausgezogen sind, das sich wieder mit hellen Stimmen und Fußgetrappel füllt. Ein Netz an Bekannten, das immer weiter über den engen Umkreis hinausreicht. Den Nachbarn verständlich machen, dass sie nicht spontan auf einen Kaffee vorbeikommen können wie früher, auch wenn man zuhause ist. Auf Schlaf zu verzichten, weil viele neue Aufgaben dazugekommen sind, aber nicht so viele alte weggefallen.

Von all diesen Dingen erzählten Bäuerinnen, die zu Tagesmüttern wurden, drei Forscherinnen von Eurac Research – und natürlich auch von handfesten Motivationen und Veränderungen wie Einkommen oder Rentenversicherung. Das Modell „Kinderbetreuung am Bauernhof“ der Sozialgenossenschaft Mit Bäuerinnen lernen - wachsen - leben ist eine von 19 Initiativen, die im Rahmen des europäischen Großprojekts SIMRA („Social Innovation in Marginalized Rural Areas“) analysiert wurden, weil sich in ihnen in gewisser Weise die Zukunft abzeichnet: die Zukunft der Innovation – so nannte EU-Kommissar Carlos Moedas soziale Innovation – und eine Zukunft für abgelegene, ländliche Regionen, in denen das Wirken von Staat und Markt allein eine solche für viele Menschen nicht garantieren kann.

Die Fallstudien umfassen ein breites Spektrum, geografisch wie thematisch. Da ist zum Beispiel die dänische Insel Samsö, 4000 Einwohner, die vor zehn Jahren gänzlich auf erneuerbare Energien umstellte, dabei die Bürger an Planung und Investitionen beteiligte und heute deutlich mehr Strom aus Wind, Biomasse und Sonnenkraft gewinnt, als sie verbraucht – der CO2-Fußabdruck jedes Einwohners liegt bei minus 12 Tonnen. Oder das schottische Hafenstädtchen Portnoy, in dem aus einem Festival ein touristisch- kulturelles „Gemeinschaftsunternehmen“ entstand, mit Museum, Caravan-Park, Bootsbauer-Werkstatt, Musikkursen. Auf griechischen Inseln arbeiten Fischer mit Greenpeace zusammen, um einen fairen Markt für nachhaltig gefangenen Fisch aufzubauen, in Marokko produziert eine Frauenkooperative erfolgreich Argan-Öl.

Gemeinsam ist allen Initiativen, dass neuartige, nachhaltige Lösungen für gesellschaftliche Bedürfnisse gefunden wurden – allen voran das Bedürfnis, im eigenen Ort ein Auskommen zu finden, verbunden mit dem Wunsch, diesen Ort in seiner Besonderheit zu erhalten und vor einer oft beobachtete Abwärtsspirale zu bewahren: Menschen gehen weg, weil sie keine Chancen sehen, worauf Dienste wie Schulen, Läden oder Ambulatorien schließen müssen, worauf noch mehr Menschen weggehen … und immer so fort, bis nur noch die Alten übrig sind.

Die Vorstellung idyllischer Rückständigkeit in Bezug auf Landregionen ist ebenso verfehlt wie das düstere Bild sterbender Landstriche, deren Bewohner entweder in Lethargie verfallen oder in die nächste Stadt abwandern.

Eher ernüchtert von dem Versuch, solche Ausblutung abgelegener, strukturschwacher Gebiete zu verhindern, indem große Firmen mit Subventionen angelockt werden, setzt gerade die EU-Kommission beträchtliche Hoffnungen auf den Einfallsreichtum und Kooperationswillen verschiedenster gesellschaftlicher Akteure.  Soziale Innovation wird über mehrere Programmschienen  gefördert. Auch weil sich die Einsicht durchsetzt, dass technischer Fortschritt allein für die Bewältigung großer Herausforderungen wie Klimaerwärmung, demographischer Wandel oder die Integration von Flüchtlingen nicht ausreicht.

Dabei zeigen die Fallstudien der SIMRA-Forscher auch, dass die Vorstellung idyllischer Rückständigkeit in Bezug auf Landregionen ebenso verfehlt ist wie das düstere Bild sterbender Landstriche, deren Bewohner entweder in Lethargie verfallen oder in die nächste Stadt abwandern. Die Insel Samsö hat eine „Akademie“ für erneuerbare Energien aufgebaut, um die Forschung und Ausbildung in diesem Bereich zu unterstützen, und zieht Interessierte aus ganz Europa an, die von der Erfahrung lernen wollen.  Die schottische Portnoy Community Enterprise generiert jährlich einen Umsatz von fast 400 000 Euro. Und die Tagesmutter-Bäuerinnen, die nach naturpädagogischen Prinzipien arbeiten, haben nicht nur einen Bedarf erkannt – Kinderbetreuung – sondern auch den „Zeitgeist“, wie Forscherin Verena Gramm sagt: ein verbreitetes Verlangen nach Naturnähe und Ursprünglichkeit, das es Eltern schätzen lässt, wenn ihre Kinder mit Tieren aufwachsen, lernen, woher Lebensmittel kommen und wie sie verarbeitet werden, oder mit mehreren Generationen der Bauernfamilie am Mittagstisch sitzen.

Den Erfolg der Initiative zeigen zum einen die Zahlen: 130 Tagesmütter beschäftigt die Sozialgenossenschaft heute, etwa die Hälfte davon Bäuerinnen, betreut werden 600 Kinder. Die Frauen können ohne große Investitionen – ein wichtiger Unterschied etwa zum Agrotourismus – ein Einkommen erzielen und so zum Erhalt des Hofs beitragen, die Eltern der Kinder haben einen dezentralen, zeitlich flexiblen Dienst zur Verfügung, der es ihnen erleichtert, Familie und  Beruf zu verbinden: Beide Seiten gewinnen, und auch die regionale Entwicklung. Dass die Sozialgenossenschaft im SIMRA-Endbericht als Vorzeigeprojekt hervorgehoben wurde, verwundert nicht: Es sind an erster Stelle die jungen Frauen, die ländlichen, abgelegenen Gebieten den Rücken kehren, weil sie keine Perspektiven erkennen; hier ist ein Weg, gleichzeitig die bäuerliche Tradition fortzuführen und finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen – und nebenbei auch noch zur Modernisierung der Region beizutragen.

Interessant daran sind gerade auch jene Aspekte, die sich nicht in Zahlen fassen, aber weitreichende Folgen haben können: Wie verändert sich die Rolle der Bäuerinnen, am Hof und im Dorf? Wie verschieben sich Handlungsspielräume, erweitern sich soziale Netze?  Fragen wie diesen sind die Forscherinnen in ausführlichen Interviews nachgegangen. Die Antworten spiegeln eine Vielzahl positiver Effekte: Die Frauen haben mehr Autonomie, die Tatsache, in einer eigenen Domäne volle Verantwortung zu übernehmen und für ihre Arbeit von Seiten der Eltern Zustimmung und Dankbarkeit zu erfahren, erhöht ihr Selbstwertgefühl; war ihr Wirken am Hof vorher eher versteckt, so ist es jetzt sichtbar, ihre Rolle als Erzieherin gesellschaftlich und ökonomisch anerkannt; ihr soziales Netzwerk erweitert sich ständig. Andererseits ist da: viel Arbeit. Oft sehr viel mehr als vorher, weil die Frauen die meisten ihrer Aufgaben im Haus und am Hof weiter übernehmen. „Auch wenn die Bäuerinnen das nicht so herausstellen: Es gehört einfach zu ihrem Selbstverständnis, dass man viel arbeitet, immer verfügbar ist, sich nicht darüber beklagt“, erklärt Gramm. Sie befasst sich schon lange mit sozialer Landwirtschaft – zu der neben Kinderbetreuung zum Beispiel auch die Arbeit mit Suchtkranken oder psychisch Kranken gehören kann, die Betreuung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder von Senioren. In Italien ist soziale Landwirtschaft schon relativ verbreitet und meist genossenschaftlich organisiert, doch kann sie auch bäuerlichen Familienbetrieben Möglichkeiten der Diversifizierung eröffnen. Die rechtliche Grundlage dafür wurde in Südtirol 2018 mit einem Landesgesetz geschaffen, dessen Durchführungsbestimmungen gerade ausgearbeitet werden. Die Sozialgenossenschaft der Bäuerinnen bietet seit sechs Jahren neben Kinder- auch Seniorenbetreuung an. Noch ist die Nachfrage eher gering, aber das kann sich schnell ändern. Demographische Entwicklung und Zeitgeist: Es spricht einiges dafür, dass die Region bald auch reif ist für diese Innovation.

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