magazine_ Interview
„Faire Startbedingungen machen den Unterschied“
Erstmals liefert eine Studie umfassende Daten zur sozialen Mobilität in Südtirol. Was sie aussagen, erklärt der Sozioökonom Felix Windegger
Starthilfe: Der Einfluss des Elternhauses auf den Bildungsabschluss – und damit sich öffnende Berufswege – ist groß, selbst wenn das Schulsystem durchlässig ist. Manche Eltern haben Zeit zum Lesen und Geld für Nachhilfe, andere nicht. Solche Unterschiede im Kindesalter sind später schwer auszugleichen.
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Wie hat sich die soziale Lage für die Menschen in Südtirol in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Wie stark hängen die individuellen Aufstiegschancen vom familiären Hintergrund ab? Diesen Fragen ging ein interdisziplinäres Team des Forschungszentrums Eurac Research und des Arbeitsförderungsinstituts in einer Studie nach. Felix Windegger ist einer der Hauptautoren.
Sie haben die soziale Mobilität in Südtirol untersucht – was genau versteht man darunter?
Felix Windegger: Soziale Mobilität beschreibt gesellschaftliche Auf- und Abstiegsbewegungen. Das kann einmal die gesamte Gesellschaft betreffen, darauf bezieht sich die absolute soziale Mobilität. Sie wird stark durch strukturelle Veränderungsprozesse beeinflusst – etwa, wenn sich Agrargesellschaften zu Industrie- und weiter zu Dienstleistungsgesellschaften wandeln. Der andere Aspekt betrifft die Chancen der einzelnen Menschen, ihre sozioökonomische Position in der Gesellschaft zu verändern. Dies ist die relative soziale Mobilität, die auch soziale Durchlässigkeit genannt wird.
Wann spricht man von einer sozial durchlässigen Gesellschaft?
Windegger: Wenn die Menschen echte Chancen haben, auf Grund ihrer Fähigkeiten, Bemühungen und Interessen ihre soziale Position zu verbessern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft oder von Faktoren wie Geschlecht oder Migrationshintergrund. In einer nicht durchlässigen – sozial immobilen – Gesellschaft ist das nicht der Fall.
Warum ist es wichtig, dies zu untersuchen?
Windegger: Die soziale Mobilität gibt Aufschluss über das Maß an Chancengleichheit in einer Gesellschaft. Wie unterschiedlich sind die Startbedingungen? Dann geht es darum, sie anzugleichen. Denn Chancengleichheit ist ja ein Leitprinzip, das die wenigsten in Frage stellen würden: Unsere liberalen Demokratien beruhen auf dem Versprechen, dass eine gewisse Chancengleichheit besteht und man die eigene Position durch Anstrengungen verbessern kann. Also das Prinzip der Meritokratie: Wer sich bemüht, bekommt etwas zurück. Das ist auch ein Grund, warum höhere soziale Mobilität – bzw. die Wahrnehmung sozialer Mobilität – zu höherer gesellschaftlicher und politischer Teilhabe und zu größerem sozialen Zusammenhalt führt. Viele Studien zeigen das.
„Soziale Durchlässigkeit führt auch zu einer besseren, effizienteren Wirtschaftsleistung: Vorhandene Ressourcen werden besser genutzt, Talent wird nicht verschwendet.“
Felix Windegger
Es geht also nicht nur um Fairness für die Einzelnen, sondern die gesamte Gesellschaft hat etwas davon, wenn die Verhältnisse nicht zementiert sind?
Windegger: Ja, auch in Bezug auf die Wirtschaft sind die positiven Effekte sozialer Durchlässigkeit belegt: Sie führt zu einer besseren, effizienteren Wirtschaftsleistung. Denn die vorhandenen Ressourcen werden besser genutzt, wenn allen Menschen viele Möglichkeiten offenstehen. Talent wird nicht verschwendet.
Wie misst man soziale Mobilität?
Windegger: In der Mobilitätsforschung werden vor allem drei Dimensionen berücksichtigt: Bildung, Beruf, Einkommen. Die Grundannahme ist natürlich immer, dass es in der Gesellschaft so etwas wie ein Oben und ein Unten gibt, unsere Gesellschaft eine hierarchische Struktur ist. Man kann das auch in Frage stellen, weil das in der Realität natürlich komplexer ist; aber in der Regel ist es schon so, dass es Personen gibt, die im Vergleich zu anderen vorteilhafte Positionen einnehmen. Diese weisen, neben einem hohen Einkommen und einem Beruf, der ihnen Ansehen und eine sichere Einkommensquelle bietet, meist auch einen überdurchschnittlichen Bildungsgrad auf. Bildung ist auch der Bereich, wo am einfachsten zuverlässige Daten verfügbar sind. Datenverfügbarkeit ist nämlich ein Thema in der Mobilitätsforschung, da Informationen für zwei Generationen (Eltern und ihre Kinder) gebraucht werden. In der Soziologie wird am häufigsten der Beruf als Indikator verwendet, weil er ein gutes Gesamtbild der sozioökonomischen Stellung eines Menschen gibt. Wir haben für die Studie alle drei Dimensionen untersucht.
Wen haben Sie befragt?
Windegger: Insgesamt 1.505 Menschen aus drei Generationen: Babyboomer (Jahrgänge von 1948 bis 1965), Generation X (1966—1979) und Millennials (1980—1997). Um Veränderungen im Vergleich zu den Eltern zu erfassen, wurden die Personen jeweils nach ihrer persönlichen Situation im Hier und Jetzt gefragt und nach der ihrer Eltern, als sie selbst 14 Jahre alt waren. Solche Daten gab es bisher für Südtirol noch kaum. Wir zeichnen nun also zum ersten Mal ein umfassendes Bild.
Und wie sieht dieses Bild in Südtirol aus?
Windegger: Auf den ersten Blick positiv: Die höheren Bildungsabschlüsse haben zugenommen, es gibt insgesamt mehr Wohlstand, mehr Menschen sind in höheren Berufsklassen tätig. Aber das betrifft die absolute Mobilität, die Veränderung des allgemeinen Niveaus. Was die soziale Durchlässigkeit angeht, so besteht nach wie vor eine hohe Vererbbarkeit des beruflichen bzw. sozialen Status der Eltern.
Woran zeigt sich das zum Beispiel?
Windegger: Die Chance, in der Berufsklasse der Eltern zu bleiben, ist immer noch viel höher als die Chance, in einer anderen Berufsklasse zu landen. Kinder von Führungskräften etwa haben im Vergleich zu Kindern anderer sozialer Herkunft eine beinahe sechsmal so hohe Chance, selbst Führungskräfte zu werden. Auch in der Bildung sieht man noch immer einen starken Einfluss des Elternhauses: Obwohl die Chance auf einen Hochschulabschluss für Kinder von Eltern ohne abgeschlossenes Studium mit jeder Generation gestiegen ist, erreichen unter den Millennials in unserer Stichprobe Kinder von Hochschulabsolventen immer noch 2,5-mal häufiger einen Hochschulabschluss als Kinder aus Familien, in denen kein Elternteil einen Hochschulabschluss hat.
„Kinder von Führungskräften haben im Vergleich zu Kindern anderer sozialer Herkunft eine beinahe sechsmal so hohe Chance, selbst Führungskräfte zu werden.“
Felix Windegger
Ist das ein schlechtes Zeugnis für das Südtiroler Bildungssystem?
Windegger: Nein. Man kann sagen, und das haben auch andere Studien gezeigt, dass das Bildungssystem in Südtirol generell relativ durchlässig ist, etwa im Vergleich zu Deutschland. Die Bildungsreformen in Italien in den 1960er Jahren haben bewirkt, dass Jugendliche ihren Bildungsweg leichter wechseln können und auch unabhängig vom jeweiligen Oberschulabschluss an der Universität studieren können. Dass der Einfluss des Elternhauses, gerade wenn es um hohe Schulabschlüsse oder ein Studium geht, noch relativ stark ist, hängt mit vielen Faktoren zusammen. Etwa mit der Zeit, die von den Eltern investiert werden kann, um die Kinder zu unterstützen, mit ihnen Hausaufgaben zu machen oder zu lesen; oder auch damit, ob man sich Nachhilfe leisten kann. Diese Unterschiede im Kindesalter sind später schwer auszugleichen, deshalb wäre es wichtig, hier sehr früh anzusetzen, etwa um Schulabbrüchen entgegenzuwirken. Denn Bildung beeinflusst natürlich wieder sehr die Berufswahl. Das wirkt sich dann auch über Generationen hinweg aus: Etwa drei Viertel der Befragten, die Eltern mit einem Hochschulabschluss haben, sind in der obersten Berufsklasse beschäftigt.
Zeigt sich die starke Bestimmung des beruflichen Werdegangs durch die soziale Herkunft auch am unteren Ende des sozialen Spektrums?
Windegger: Ja: Für Menschen, deren Eltern in niedrigen Berufsklassen beschäftigt waren, ist der soziale Aufstieg besonders schwierig. Dieses Phänomen ist in vielen Ländern zu beobachten: Die Decke und der Boden der sozialen Struktur sind „klebrig“ – im Englischen spricht man von „sticky floor“ und „sticky ceiling“. Für die Menschen in der obersten Schicht ist ein Abstieg relativ unwahrscheinlich, für die unten ein Aufstieg sehr schwierig. In der Mitte gibt es mehr Austausch.
Werden in der Studie Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen sichtbar?
Windegger: Der Anteil der sozial immobilen Menschen, also jener, die in derselben Berufsklasse bleiben wie ihre Eltern, ist am Land geringfügig höher; das ist aber leicht nachvollziehbar, denn Berufe werden auf dem Land häufiger von einer Generation zur nächsten weitergegeben, wenn man etwa an die vielen Familienbetriebe in Südtirol denkt. Aus dieser Perspektive kann soziale Immobilität auch als etwas durchaus Positives gesehen werden.
Welche Tendenzen sind sonst zu erkennen?
Windegger: Zum einen scheint die absolute Aufstiegsmobilität zu stagnieren. Wir haben uns jetzt mit diesem Aufzug stets nach oben bewegt, aber vergleicht man die drei Generationen, so ist die Anzahl der Menschen, die sich sozial verbessern, kleiner geworden. Das ist aber auch ganz natürlich, wenn der erreichte Standard, etwa das Bildungsniveau, generell schon so hoch ist. Ein anderer Trend zeigt, dass der Mittelstand in der Generation der Millennials im Vergleich zu den vorhergehenden Generationen deutlich geschrumpft ist. So zeichnet sich die „sanduhrförmige“ Beschäftigungsstruktur der Millennials durch eine hohe Anzahl von Beschäftigten in den oberen und unteren Berufsklassen aus, während die Anzahl der Beschäftigten in der Mittelschicht vergleichsweise gering ist. Dieses Wegbrechen der Mittelschicht wird auch international beobachtet.
Kann man die Südtiroler Ergebnisse mit anderen italienischen oder europäischen Regionen vergleichen?
Windegger: Im Moment ist das noch schwierig. Zum einen gibt es auf dieser regionalen Ebene noch wenig Daten, und falls es sie gibt, sind sie häufig nur eingeschränkt vergleichbar, weil etwa andere Klassifizierungen, Messmethoden oder Forschungsdesigns verwendet werden. Das Hauptziel der Studie war es deshalb, ein erstes Gesamtbild der Situation für Südtirol zu zeichnen. Dieses kann und soll Ausgangspunkt für zukünftige Vertiefungen und Vergleiche mit anderen Regionen sein. Was es bereits gibt, sind internationale Ländervergleiche in Bezug auf die soziale Durchlässigkeit. Sie zeigen sehr große Unterschiede, wobei die skandinavischen Länder die höchsten Raten sozialer Mobilität aufweisen. In Dänemark zum Beispiel können Nachkommen einer Familie aus dem untersten Zehntel der Einkommensverteilung in nur zwei Generationen das nationale Durchschnittseinkommen erreichen – in Italien wären dafür bei der bestehenden Mobilitätsrate fünf Generationen nötig, in Deutschland sogar sechs.
„In der öffentlichen Debatte wird soziale Mobilität häufig mit Aufstiegsmobilität gleichgesetzt und man vergisst, dass sie auch einen Abstieg bedeuten kann.“
Felix Windegger
In der Studie werden auch zahlreiche Maßnahmen empfohlen, um die soziale Durchlässigkeit zu erhöhen – was sind da einige wichtige Punkte?
Windegger: Ein zentraler Punkt ist sicher, schon bei den Kindern anzusetzen und über das Bildungssystem Ungleichheiten im familiären Hintergrund auszugleichen, damit alle die gleichen Möglichkeiten haben, sich zu entfalten: Das betrifft Unterstützung beim Lernen, Mentoringprogramme, Nachmittagsunterricht etc.
Auch das Steuersystem ist ein wichtiger Aspekt, also Umverteilungsmaßnahmen durch progressive Vermögens- und Erbschaftssteuern mit angemessenen Freibeträgen – das liegt aber vor allem in der Hand des Staates. Generell gilt es jeder Art von Diskriminierung entgegenzuwirken, Barrieren beim Zugang zum Arbeitsmarkt abzubauen, Eltern auch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen, etwa durch den Ausbau der Kinderbetreuungsangebote.
Aber auch ein soziales Sicherheitsnetz ist sehr wichtig. In der öffentlichen Debatte wird soziale Mobilität häufig mit Aufstiegsmobilität gleichgesetzt und man vergisst, dass sie auch einen Abstieg bedeuten kann – etwa durch Schicksalsschläge, Trennungen, Unfälle. Solche Abstiege aufzufangen ist also genauso wichtig, wie den Aufstieg zu erleichtern.
Die Studie
Sind wir unseres eigenen Glückes Schmied oder sind Beruf und soziale Stellung vom familiären Hintergrund bestimmt? Eurac Research und das Arbeitsförderungsinstitut AFI liefern nun erstmals wissenschaftlich belastbare Zahlen für Südtirol. Und die zeigen: Die Lage hat sich für viele der Befragten im Vergleich zu ihren Eltern verbessert – sowohl was Bildung, Beruf oder finanzielles Auskommen betrifft – allerdings sind die individuellen Chancen, bestimmte gesellschaftliche Positionen zu erreichen, immer noch ungleich verteilt und von der sozialen Herkunft geprägt. Eine Gesellschaft ist dann sozial mobil bzw. durchlässig, wenn deren Bürgerinnen und Bürger echte Chancen haben, ihre gesellschaftliche Position zu verbessern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Doch wie schwer ist es in Südtirol, die soziale Leiter hochzuklettern? Sind wir das Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder müssen wir von einem Land der eingeschränkten Entwicklungschancen sprechen? Diesen Fragen sind Eurac Research und AFI | Arbeitsförderungsinstitut nachgegangen und haben im Frühjahr 2021 rund 1.500 Südtirolerinnen und Südtiroler zwischen 25 und 74 Jahren zu Bildungsabschluss, beruflicher und wirtschaftlicher Stellung telefonisch befragt – und zwar nicht nur mit Blick auf die befragte Person selbst, sondern auch auf deren Eltern. Die breite Streuung des Alters der Zielbevölkerung erlaubte dabei, zwischen den drei Generationen der Babyboomer (Jahrgänge von 1948 bis 1965), Generation X (1966—1979) und Millennials (1980—1997) zu unterscheiden, was Schlüsse zulässt, ob bzw. wie sich die Situation mit der Zeit verändert hat. Die detaillierten Ergebnisse der Studie sind im Forschungsbericht „Soziale Mobilität in Südtirol. Wie gut funktioniert der soziale Aufzug?“ zusammengefasst.