Eine epidemiologische Untersuchung zeigt den Zusammenhang zwischen affektiven Temperamenten, d.h. bestimmten angeborenen Persönlichkeitsmerkmalen, und Schmerzempfindlichkeit. Für die Forscher eine interessante Erkenntnis (optimistische Menschen sind weniger empfindlich); noch interessanter aber ist, wie sie sie erlangt haben: durch Analyse einer Stichprobe aus der Allgemeinbevölkerung ohne manifeste Gesundheitsprobleme.
Vor ein paar Jahren meldete ich mich mit einigen Kolleginnen freiwillig, um probeweise die Reihe der Untersuchungen zu durchlaufen, die für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Bevölkerungsstudie CHRIS vorgesehen war. Den Krankenschwestern halfen die Testläufe, den Ablauf zu optimieren, und für uns war es eine gute Gelegenheit, am eigenen Leib zu erfahren, wie die Studie funktioniert. Von den vielen Untersuchungen erinnere ich mich an eine so genau, als wäre es gestern gewesen: den Schmerztest. Mir wurde eine Art Metallstab auf die Handfläche gedrückt, und sobald ich begann Schmerzen zu verspüren, sollte ich „Stopp” sagen. Fünf, sechs Sekunden? Länger habe ich es glaube ich nicht ausgehalten. Mir ging ständig ein Gedanke im Kopf herum: Was bist du doch zimperlich. Deine Oma hat die heißen Töpfe ohne Topflappen angefasst und dir setzt schon ein bisschen Druck zu.... Ja, aber was hat meine Oma so widerstandsfähig gemacht? Ist unsere Spezies verweichlicht? Warum ertragen machen Menschen Schmerzen besser als andere?
Laut einer kürzlich im „Journal of Affective Disorders” veröffentlichten Studie, die sich auf Daten aus der CHRIS-Bevölkerungsstudie stützt, haben subjektive Wahrnehmung und Erfahrungen etwas damit zu tun, aber auch das affektive Temperament, das als „emotionaler Grundton” erklärt werden kann: die genetisch bedingte Basis, die Intensität und Bandbreite unserer Emotionen beeinflusst. „Wer von seinem Temperament her eher zu Angst und Unsicherheit neigt – ein so genanntes ‘zyklothymisches Temperament’ hat – ist schmerzempfindlicher, während Optimisten und energiegeladene Menschen – in der Fachsprache ‘Hyperthymiker’ genannt – eher ‘geschützt’ sind”, erklärt der Psychiater und Psychotherapeut Ettore Favaretto, Leiter des Zentrums für psychische Gesundheit in Brixen und Erstautor der Studie. „Das Ergebnis überrascht uns nicht, aber es ist deutlicher ausgefallen, als wir erwartet haben, und es ist besonders interessant, weil die analysierte Stichprobe – 3.804 Menschen zwischen 18 und 65 – aus der Südtiroler Allgemeinbevölkerung stammt, also nicht im Hinblick auf ein bestimmtes Temperament oder eine bestimmte Erkrankung ausgewählt wurde.”
Tests im Rahmen der CHRIS-Studie
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Studie wurden zwei Tests unterzogen, in denen verschiedene Aspekte der Beziehung zum Schmerz analysiert wurden.
Der erste Test betraf die Schmerzschwelle, die mit dem Druckalgometer gemessen wurde, dem Gerät mit dem Metallstab, der in dieser Phase der CHRIS-Studie auf die Zeigefingerkuppe statt in die Handfläche gedrückt wurde. Im Durchschnitt baten die Teilnehmer „Stopp!”, wenn eine Druckkraft von 3,1 kg/cm2 erreicht war – das wäre in etwa der Druck, wenn einem jemand zwei große Flaschen Orangenlimonade auf den Nagel eines Zeigefingers stellt.
„Aus ethischen Gründen konnten wir die Teilnehmenden natürlich nicht einem Schmerz aussetzen, der jenseits der Schwelle liegt, daher haben wir Fragen zu erlebten Ereignissen oder vorgestellten Situationen verwendet“.
Ettore Favaretto
Der zweite Test war ein Fragebogen zur Schmerzempfindlichkeit (PSQ - Pain Sensitivity Questionnaire), der aus 17 Fragen bestand: Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen wurden gebeten, sich an Situationen zu erinnern oder sie sich vorzustellen, die typischerweise jenseits der Schmerzgrenze liegen, z. B. wenn man mit dem Schienbein gegen eine Kante stößt oder sich die Finger in einer Schublade klemmt. Wie groß war der Schmerz, den man auf einer Skala von null bis zehn empfand oder sich vorstellte? „Aus ethischen Gründen konnten wir die Teilnehmenden natürlich nicht einem Schmerz aussetzen, der jenseits der Schwelle liegt, daher haben wir Fragen zu erlebten Ereignissen oder vorgestellten Situationen verwendet”, so Favaretto.
Die Ergebnisse dieser Tests wurden dann mit jenen zu den affektiven Temperamenten abgeglichen.
Temperamente und wie sie gemessen werden
Die moderne Forschung geht von fünf affektiven Temperamenten aus: ängstlich, reizbar, depressiv und zyklothymisch – gekennzeichnet durch labile Stimmung, sowie ängstliche und depressive Aspekte – , und hyperthymisch – typischerweise sonnig, positiv und voller Energie. Im Allgemeinen ermittelt man sie mittels Fragebögen zur Selbsteinschätzung. Für die im Rahmen von CHRIS durchgeführte Studie wählte das Forschungsteam eine Kurzversion des TEMPS-M-Tests (Temperament Evaluation of Memphis, Pisa, Paris and San Diego-Modified): 35 Aussagen mit Antwortmöglichkeiten von „gar nicht” bis „völlig” zutreffend, die die Natur der Befragten ergründen. Zum Beispiel: Man sagt mir, ich sei unfähig, die positive Seite der Dinge zu sehen; solange ich mich erinnern kann, war ich immer ein Typ, der sich über alles Sorgen macht; ich schwanke ständig zwischen Selbstvertrauen und Selbstunsicherheit; wenn man mir widerspricht, kann ich in ein hitziges Streitgespräch geraten.
Das Forschungsteam ordnete jedoch nicht jedem Teilnehmenden ein bestimmtes Temperament zu. „Um vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, haben wir jedem auf einer einheitlichen Skala eine Punktzahl für jedes der Temperamente gegeben. Diese Daten haben wir dann mit den Ergebnissen zur Schmerzempfindlichkeit abgeglichen”, erklärt Roberto Melotti, Biostatistiker bei Eurac Research.
„Weniger schmerzempfindliche Menschen warten länger, bevor sie ‚Stopp’ sagen, während zyklothymische Temperamente eine niedrigere Schwelle haben und das Experiment früher beenden“.
Roberto Melotti
Die linke Spalte zeigt die Ergebnisse zur Schmerzempfindlichkeit. Bei den Hyperthymikern, also den Optimisten, ist sie niedriger (horizontale Linien weiter links), d. h. sie stellen sich vor, dass sie in den vom Fragebogen vorgeschlagenen Situationen wenig Schmerzen empfinden. „Dies spiegelt sich klar in der experimentell mit dem Algometer gemessenen Schmerzschwelle, dargestellt in der rechten Spalte: Weniger schmerzempfindliche Menschen warten länger, bevor sie ‚Stopp’ sagen (ganz rechte horizontale Linien für die hyperthymische Kategorie), während zyklothymische Temperamente eine niedrigere Schwelle haben und das Experiment früher beenden”, so Melotti.
Und was macht man nun mit diesen Informationen?
Jetzt wird weiter geforscht, zum Beispiel untersucht man, ob der Zusammenhang zwischen affektivem Temperament und Schmerzempfinden auch für andere Lebensbereiche Gültigkeit hat, etwa für die Schlafqualität. „Alle diese Studien gehen in die Richtung personalisierter Medizin. Bislang wurden Temperamente vor allem als Wegbereiter psychiatrischer Erkrankungen betrachtet, insbesondere im Zusammenhang mit bipolaren Störungen und schweren Depressionen. Nun haben wir aber gezeigt, dass sie erheblichen Einfluss auch auf andere körperliche Eigenschaften und Lebensvorgänge in der Allgemeinbevölkerung haben; wir haben gezeigt, was der Schriftsteller Francis Scott Fitzgerald schrieb, nämlich dass Vitalität sich von allen natürlichen Kräften am wenigsten übertragen lässt: ‚Man hat sie oder hat sie nicht, wie Gesundheit oder braune Augen’”, erklärt Favaretto. Er hofft: „Künftig könnten wir zum Beispiel die Therapie gegen chronische Schmerzen entsprechend anpassen, indem wir auch die Temperamentsprofile berücksichtigen.” Bis man soweit ist, gibt es allerdings noch viel zu erforschen, denn die Datenlage ist bislang eher dürftig. Vor allem müssten gezielte Studien klären, ob der Gebrauch oder auch Missbrauch von Schmerzmitteln durch das affektive Temperament beeinflusst wird. Für Alkohol- und Drogenabhängigkeit ist dies bereits erwiesen.
Was mich betrifft, so fühle ich mich frei von jeder Verantwortung für meine schwache Leistung, und das ist ein gutes Gefühl: Würde ich mich jeden Tag darin üben, mit kochend heißen Töpfen zu hantieren, hätte ich sicher bald kräftigere Hände, aber beim Schmerztest gibt es kein „besseres” oder „schlechteres” Abschneiden. So sind wir nun einmal. Verschieden.
Persönlichkeit, Temperament und Charakter
Die Persönlichkeit eines Menschen setzt sich aus zwei Elementen zusammen: dem Temperament, das biogenetisch bedingt ist, und dem Charakter, der durch Erfahrung, Erziehung und Umwelteinflüsse bestimmt ist.
Normalerweise existieren in jedem von uns unterschiedliche Temperamentszüge nebeneinander. Nur bei maximal zehn Prozent der Bevölkerung überwiegt deutlich ein Temperament.
Menschen, bei denen das hyperthymische, d.h. das optimistische Temperament vorherrscht, sind oft charismatische Persönlichkeiten, die Gruppen mitreißen.
Menschen, bei denen das zyklothymische Temperament vorherrscht, sind prädisponiert, mehr oder weniger schwere affektive Störungen wie Angstzustände, Depressionen oder bipolare Störungen zu entwickeln. Wie hoch das Risiko ist, hängt entscheidend vom Umfeld und von den Erfahrungen ab.
Die Studie
Die Studie ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen dem Südtiroler Sanitätsbetrieb und Eurac Research, dazu beigetragen haben die Universitäten Pisa und Wien. Pain sensitivity is modulated by affective temperament: Results from the population-based CHRIS Affective Disorder (CHRIS-AD) study - ScienceDirect