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Warum es so schwierig ist, die Schneehöhe zu messen
Die Satellitenforschung sucht neue Lösungen. Auch Fledermäuse spielen eine Rolle.
In diesen Wochen haben wir es auch in unseren Höfen und Gärten gesehen: An manchen Stellen bildet der Schnee hohe Haufen, an anderen ist er fast verschwunden. Es hängt von der Sonne ab, vom Wind oder vom Einsatz der Schneepflüge. Abzuschätzen, wie viel Schnee gefallen ist, ist also schwierig; es wäre jedoch von großem Nutzen, um zu wissen, wie viel Wasser im Frühling für Bewässerung oder Energieproduktion zur Verfügung stehen wird. Eine eben begonnene Studie versucht einen neuen Ansatz mit Radarwellen.
Der Zollstock: eine hundert Jahre währende Geschichte
Es ist der Herbst 1939. Während der Zweite Weltkrieg ausbricht, ist am See von Mont Cenis, an der Grenze zwischen Italien und Frankreich, der Staudamm-Wächter auf 2000 Meter Höhe allein. In diesem Jahr hat er zum ersten Mal eine neue Aufgabe: den Schnee zu messen, der vom Himmel fällt. Auf dem Plateau neben seiner Hütte steckt ein Zollstock im Boden: Am Morgen des 26. Oktober liegen nur zwei Zentimeter Schnee, am Tag darauf schon 20, und noch einen Tag später 28. Den ganzen Winter über notiert der Wächter täglich die Schneehöhe, und genauso machen es seine Nachfolger über 70 Jahre lang. Die historische Schneemessreihe am Mont Cenis ist eine der am weitesten zurückreichenden der Alpen. Die Datenreihe, verfügbar auf der Webseite der Società metereologica italiana und leider 2014 unterbrochen, ist ein Beispiel für die klassische Methode, Schneehöhen zu messen. Man wählt ein möglichst flaches und windgeschütztes Areal und steckt einen Messstab in den Boden, den sogenannten Schneemessstab. Er hat gelbe und schwarze Streifen, jeder zehn Zentimeter breit, über eine Gesamtlänge von 330 Zentimetern. In Südtirol erfolgen diese Messungen seit 1981 an 15 Stationen. Im Winter werden die Daten zur Schneehöhe und andere Parameter täglich an den Zivilschutz gesendet. Einige Wetterstationen führen auch automatische Messungen durch.
Messungen am Boden sind punktuell, und Satelliten haben Schwierigkeiten, sich auf Schnee einzustellen
Manuelle Messungen mit dem Zollstock sind wichtig, aber aufwendig und teuer und manchmal riskant, weil man immer wieder in große Höhen aufsteigen muss, auch unter schwierigen Bedingungen. Heute verwenden einige Messstationen modernere Systeme, zum Beispiel Ultraschallsensoren: Die Messungen sind automatisiert und genauer. Unabhängig von der Technologie jedoch haben Messungen am Boden den Nachteil, nur die Situation an einem bestimmten Punkt zu beschreiben. Vor allem im Gebirge aber verteilt Schnee sich sehr ungleichmäßig: Wegen der Steigungen, weil der Wind ihn verweht und die Sonneneinstrahlung von Hang zu Hang sehr unterschiedlich ist. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, müsste man die beschneiten Flächen wie einen Schweizer Käse durchlöchern. Helfen sollten hier Satellitenaufnahmen, die Daten über größere Gebiete liefern. Doch die Kombination von Boden- und Satellitendaten, die bei anderen Parametern wie der Ausdehnung der Schneedecke gut funktioniert, ist in diesem Fall schwieriger. Die Satellitentechnologie verwendet heute Radarsensoren. Die Frequenz wird dabei so festgelegt, dass die vom Satelliten ausgesendeten elektromagnetischen Wellen mit den Schneekörnern interagieren – in etwa so, als ob das Radio des Satelliten auf den Schneekanal eingestellt würde. Trifft das Signal auf Wasserpartikel, sendet es ein erkennbares Signal an den Satelliten zurück. Doch Schnee ist nicht gleich Schnee: Er ist manchmal nass, manchmal trocken, die Flocken – in der Fachsprache „Körner“ – können unterschiedlich groß sein. Die elektromagnetischen Wellen interagieren sehr stark mit dem im Schnee vorhandenen Wasser, was die Interaktion mit dem trockenen Anteil verhindert und es unmöglich macht, den gesamten Schnee zu erfassen. Ist der Schnee durchgehend trocken, erscheint er in den meisten Fällen als transparent; ist Wasser in flüssiger Form vorhanden, dann interagieren die elektromagnetischen Wellen im Wesentlichen damit. Mit dem Ergebnis, dass der Sender Schnee, um bei dem Bild zu bleiben, nicht immer gut zu hören ist, weil er knistert und rauscht.
Was haben Fledermäuse damit zu tun?
Seit einigen Jahren wird in der Erdbeobachtung ein anderer Ansatz versucht: Wenn man das Was, also den Schnee, nicht messen kann, dann misst man eben die Zeit, also wie lange die elektromagnetischen Wellen brauchen, um den Boden unter dem Schnee zu erreichen und zum Satelliten zurückzukehren. Das gleiche Prinzip nutzen Fledermäuse für ihre Orientierung: Sie senden eine Welle aus und warten auf das zurückkommende Echo. Je nachdem, wie lange es dauert, erkennen sie, ob ein Hindernis vor ihnen liegt. In ähnlicher Weise wandern von Satelliten ausgesendete elektromagnetische Wellen durch den Schnee, berühren den Boden und kehren zu ihrer Quelle zurück. Je nachdem, wie dick die Schneedecke ist, auf die die Wellen treffen, variiert die Reisezeit. Dieses Zeitintervall, in der Fachsprache „Phase“ genannt, kann ein indirektes Maß für die Schneehöhe sein. Darüber hinaus ermöglicht diese Technologie, die Gesamtmasse des Schnees abzuschätzen und damit auch das Wasseräquivalent, also die Menge Wasser, die zur Verfügung steht, wenn er schmilzt.
Links eine Oberfläche ohne Schnee. Das Satellitensignal (rote Linie) berührt den Boden und kehrt auf direktem Weg zur Quelle zurück. Rechts: der Schnee lenkt das Satellitensignal (blaue Linie) ab und interagiert mit ihm, sodass es auf komplexerem Weg zum Satelliten zurückkehrt (gestrichelte Linie).Video: Eurac Research | Fabio Dalvit
Diese Technik ist noch nicht umfassend erprobt. In Pilotgebieten in Europa und den USA wurden seit 2005 Tests durchgeführt. In Europa hat man mit vertiefenden Studien begonnen. Eine davon ist Alpsnow, an der das Institut für Erdbeobachtung von Eurac Research in Zusammenarbeit mit der Europäischen Weltraumorganisation, der Autonomen Provinz Bozen und mehreren Partnern aus dem Alpenraum beteiligt ist.
Wie weit ist eine Technologie schon entwickelt? Eine Skala zeigt es an.
“Technology Readiness Level”, auf Deutsch “Technologie-Reifegrad”, heißt die Skala, mit der bewertet wird, wie „einsatzbereit” eine neue Technologie ist. Die Skala geht von eins bis neun: eins bedeutet, die wissenschaftliche Idee ist entwickelt, neun beschreibt ein vollautomatisiertes technisches Instrument. Nach der Vorstellung der NASA, die die Skala 1974 entwickelte, müssen Technologien an der Spitze der Skala soweit automatisiert sein, dass sie von einem Astronauten allein im Weltraum benutzt werden können. Das Projekt Alpsnow befindet sich im ersten Teil der Skala: Die Idee wurde in mehreren Fallstudien getestet, aber einigen Aspekte sind noch zu verfeinern. Die Datenverarbeitung muss verbessert werden, und es braucht noch groß angelegte Tests, bevor das System einsatzbereit ist.
Was die Messung der Schneehöhen angeht, so erwartet man sich auch viel von der neuen Generation Sentinel-Satelliten, die voraussichtlich Ende dieses Jahrzehnts die Erde umkreisen werden. Zu wissen, wieviel Wasser jährlich aus dem Schnee verfügbar sein wird, ist nämlich von großer Bedeutung, um natürliche Ressourcen nachhaltig zu nutzen.
Das Projekt Alpsnow
Fünf Testgebiete, eines davon im Südtiroler Schnalstal, neun Partner und zwei Jahre, um neue Algorithmen und Software für eine möglichst genau Beobachtung der Schneedecke in den Alpen zu entwickeln. Das Forschungsteam nutzt sowohl Bodenmessungen als auch Satellitendaten und physikalische Modelle. Konkret geht es um sechs Parameter: 1) Wasseräquivalent des Schnees, 2) Schneehöhe, 3) Albedo (d.h. das Ausmaß, in dem der Schnee die Sonnenstrahlen reflektiert), 4) Größe der Schneekörner, 5) Wassergehalt und 6) Ausdehnung der Schneedecke. „Es gibt globale Muster, doch sie sind nicht so einfach auf Berggebiete übertragbar", erklärt die Physikerin Claudia Notarnicola, die bei dem Projekt für den Beitrag von Eurac Research verantwortlich ist. „Hier muss man die Topografie berücksichtigen, den durch das Relief verursachten Schatten, eine beständige Wolkendecke und vor allem die Wälder, deren Baumkronen die Sensoren nicht durchdringen." http://alpsnow.enveo.at/index.html
Übersetzung: Barbara Baumgartner