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Was passiert mit dem menschlichen Körper, wenn er unter einer Lawine begraben wird?

Die Verschüttungsbedingungen und das Triple-H-Syndrom

Die physiologischen und pathologischen Reaktionen eines Körpers, der unter einer Lawine begraben wurde, sind in der Fachzeitschrift für Allgemeine Physiologie „The Journal of Physiology“ umfassend beschrieben worden. Für die Autorinnen und Autoren ein Meilenstein, denn ihre Studien dazu waren bisher hauptsächlich im Bereich der Notfallmedizin verbreitet. Die neue Publikation eröffnet nun den wertvollen Austausch mit der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft.

Von der einen Erinnerung berichten die meisten Überlebenden: Nachdem sie vergeblich versucht hatten, nicht unter den Schneemassen begraben zu werden, taten sie alles, um den Schnee vor und aus ihrem Mund zu entfernen. Einige erzählen, dass sie den Kopf vor und zurück bewegten, um eine kleine Mulde auszuhöhlen, andere, dass sie mit der Zunge ihre Lippen einen Spalt weit öffneten. Oder es jedenfalls versuchten, bis sie mit Schrecken feststellten, dass sie sich keinen Millimeter bewegen konnten ...

Bevor ein fortschreitendes Taubheitsgefühl die Verschütteten langsam zum Einschlafen bringt, ist das Ringen nach Luft die vorherrschende Empfindung. Das Atmen wird schwerer, das Herz schlägt schneller und der Bedarf an Luft steigt in einem Teufelskreis, der für etwa zwei Drittel der Lawinenopfer tödlich endet. Von so vielen wird angenommen, dass sie innerhalb der ersten 35 Minuten nach der Verschüttung an Erstickung sterben.

Weshalb manche Verunglückte länger überleben als andere – in manchen Fällen um mehr als zehn Minuten – ist immer noch nicht ganz geklärt. Dabei wäre es wichtig, die Gründe dafür zu kennen, denn das würde dabei helfen, all jene zu schützen, die der Lawinengefahr ausgesetzt sind: bei Skitouren, aber auch bei der Arbeit, zum Beispiel bei der Instandhaltung von Infrastrukturen oder Forschungsarbeiten im Gebirge.

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Übung an einer echten Lawine am Kronplatz, die von der Bergrettung, der Finanzpolizei und dem Institut für Alpine Notfallmedizin von Eurac Research organisiert wurdeCredit: Eurac Research | Ivo Corrà

Was mit dem menschlichen Körper passiert, wenn er von einer Lawine verschüttet wird, hängt von mehreren, gleichzeitig wirkenden Faktoren ab. Abgesehen von den Umweltbedingungen sind dabei drei Reaktionen des Körpers ausschlaggebend. Diese sind zwar einzeln betrachtet klinisch gut erforscht, wenn sie allerdings zusammenwirken, verkompliziert sich das Bild. Und natürlich sind Studien, die diese klinischen Wechselwirkungen und Umweltinteraktionen analysieren, selten: Es ist sehr schwierig, sie unter standardisierten, wiederholbaren Bedingungen durchzuführen und es gibt ethische Grenzen, um die Teilnehmenden nicht zu gefährden.

Was ist das Triple-H-Syndrom?

Lawinenopfer sind Sauerstoffmangel (Hypoxie), einem erhöhten CO₂-Gehalt im Blut (Hyperkapnie) und Unterkühlung (Hypothermie) ausgesetzt. Hypoxie liegt vor, wenn der Sauerstoffgehalt im Körper zu niedrig ist – während der Covid-19-Pandemie haben wir gelernt, dass eine Sauerstoffsättigung unter 90-92 Prozent ein Alarmsignal ist. Hyperkapnie hingegen bedeutet zu viel Kohlenstoffdioxid im Körper, was dadurch entsteht, dass das Lawinenopfer seine ausgeatmeten Gase wieder einatmet. Und Hypothermie ist eine Körperkerntemperatur unter 35 °C. Bei einem im Schnee verschütteten Körper treten diese klinischen Zustände gemeinsam auf: Ihr Zusammenspiel wird als „Triple-H-Syndrom“ bezeichnet, welches 2001 durch Hermann Brugger erstmals beschrieben wurde.

Jeder dieser klinischen Zustände ist einzeln sehr genau erforscht. Die Hypoxie wurde beispielsweise durch das Apnoetauchen intensiv untersucht, jener Sportart, bei der auf künstliche Luftversorgung verzichtet wird und jeder Tauchgang einem einzigen Atemzug entspricht. Aber es liegen auch zahlreiche Studien an Personen vor, die sich in große Höhenlagen begeben. Auch die akzidentelle Hypothermie ist in der Notfallmedizin aus verschiedenen Zusammenhängen bekannt: etwa von Obdachlosen, die auch im kältesten Winter im Freien leben, oder von Unfällen in den Bergen oder auf hoher See.

Bei einem Körper unter einer Lawine, der erst unter Sauerstoffmangel leidet und dann abkühlt, hat die Hypothermie keine oder nur eine geringe neuroprotektive Wirkung.

Das Entscheidende bei Lawinenopfern ist, dass Hypoxie, Hyperkapnie und Hypothermie gleichzeitig im Körper auftreten, sich gegenseitig beeinflussen und daher Erkenntnisse zu den einzelnen Zuständen nicht mehr gültig sein könnten. Beispielsweise schützt die Unterkühlung den Körper in der Regel, weil sie alle Vitalfunktionen und den Stoffwechsel (und so den Energiebedarf) herunterfährt, damit der Körper weniger verbraucht. So als ob er auf Standby wäre und darauf warten würde, wieder aufgewärmt zu werden. Mehrere Studien haben gezeigt, dass sich etwa der Gehirnstoffwechsel mit jedem Grad Celsius, um das die Hirntemperatur sinkt, um fünf Prozent verlangsamt. Bei Lawinenopfern ist diese Schutzfunktion jedoch gefährdet: Obwohl der Stoffwechsel infolge der Unterkühlung reduziert wird, scheint die Hyperkapnie eine kardiovaskuläre Instabilität auszulösen, die wiederum der Hauptgrund für die reduzierte Sauerstoffversorgung des Gehirns ist. Das heißt, Hyperkapnie und Hypoxie verstärken die Schäden der Hypothermie, während sie gleichzeitig ihre schützende Wirkung zunichtemachen.

Ein weiteres Beispiel: Unterkühlungsopfer von Lawinenunglücken sind in der Regel jünger und gesünder als Opfer akzidenteller Hypothermie in städtischen Gebieten, bei denen es sich meistens um Obdachlose handelt. Die Daten zeigen jedoch, dass letztere bessere Überlebenschancen haben: 57 Prozent gegenüber zwölf Prozent bei Lawinenopfern, wenn sie nach einem Herzstillstand aufgrund einer Unterkühlung mit extrakorporaler Wiedererwärmung außerhalb des Krankenhauses behandelt werden. Der Prozentsatz ist niedriger – 19 Prozent –, wenn der Körper vollständig, samt Kopf, in kaltem Wasser untergetaucht war, aber immer noch höher als die zwölf Prozent der Verschütteten im Schnee. Warum ist das so? Es wird vermutet, dass Hypoxie und Hyperkapnie etwas damit zu tun haben. Das Überleben scheint davon abzuhängen, ob die Unterkühlung vor dem Sauerstoffmangel eintritt, der Körper also zuerst auskühlt, bevor er ertrinkt. Wenn hingegen die Hypoxie der Hypothermie vorausgeht, wie es bei einem Körper unter einer Lawine der Fall ist, der erst unter Sauerstoffmangel leidet und dann abkühlt, hat die Hypothermie keine oder nur eine geringe neuroprotektive Wirkung.

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Das Triple-H-Syndrom bezeichnet das Zusammenspiel von Hypoxie, Hyperkapnie und Hypothermie, das bei Lawinenopfern auftritt, es betrifft das Atmungs-, und Herz-Kreislauf-System und das Gehirn.Credit: Eurac Research | Silke De Vivo

 

Das andere Triple-H-Syndrom


Das Triple-H-Syndrom, das die Wechselwirkung zwischen Hypoxie, Hyperkapnie und Hypothermie betrifft, ist nicht zu verwechseln mit einer ganz anderen gleichnamigen Pathologie. Tatsächlich wird auch eine seltene genetische Erkrankung, die den Harnstoffzyklus betrifft, als HHH-Syndrom, oder eben Triple-H-Syndrom, bezeichnet. Dabei geht es um eine Störung im Stoffwechselprozess, bei dem unser Körper giftige Substanzen in Harnstoff umwandelt und dann mit dem Urin ausscheidet. In diesem Fall sind die drei H drei Aminosäuren, die am Harnstoffzyklus beteiligt sind: Hyperornithinämie, Hyperammonämie und Homocitrullinurie. Fälle dieser Krankheit sind vor allem in der kanadischen Provinz Northern Saskatchewan zu verzeichnen.

Die Verschüttungsbedingungen sind entscheidend

Was mit einem unter einer Lawine begrabenen Körper geschieht, hängt vor allem von den Bedingungen ab: etwa wie das Opfer verschüttet wird, von der Art des Schnees, und wie viel Zeit bis zur Bergung vergeht. Diese letzte Variable ist entscheidend: Eine kürzlich von Eurac Research durchgeführte Studie, die sich auf Daten des Schweizer WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung stützt, hat einmal mehr gezeigt, der wichtigste Überlebensfaktor ist eine Rettung innerhalb der ersten 10 Minuten.

Auch der Verschüttungsgrad ist wichtig, denn je freier die Atemwege sind, desto geringer wird der Sauerstoffmangel ausfallen. Das bestätigte eine vergleichende Analyse von Daten aus Österreich und der Schweiz, welche zwischen 2005 und 2013 an 633 sogenannten „kritisch verschütteten“ Lawinenopfern, die mit Oberkörper und Kopf unter dem Schnee lagen, erhoben wurden. Befindet sich vor dem Mund eine Höhle mit Luft, wird die Hypoxie um eine Zeitspanne verschoben, die proportional zur Größe dieser Lufttasche ist: je größer der Raum, desto länger wird der Körper mit Sauerstoff versorgt. In unterkühltem Zustand, mit verlangsamtem Stoffwechsel, aber mit der Möglichkeit zu atmen, kann ein Körper sogar Stunden bewusstlos überleben. Das hat der Fall eines Skitourengehers gezeigt, der 2023 nach 23 Stunden aus einer Lawine in den Südtiroler Alpen geborgen wurde (siehe dazu den Magazine-Artikel und das wissenschaftliche Paper).

Auch die Dichte des Schnees spielt eine Rolle: Feuchte Schneemassen verdichten sich wie Beton und behindern den Luftaustausch, während trockener Pulverschnee einen Teil des Sauerstoffs durchlässt und ausgeatmete Gase entweichen können. Eine Studie, in der schweizerische und kanadische Daten verglichen wurden, ergab, dass in Westkanada, in Gebieten mit dichterem Schnee, das Risiko eines hypoxischen Herzstillstands größer ist. Eben weil die Sauerstoffversorgung in der Lawine unzureichend ist und sich zu viel CO₂ ansammelt.

Im Jahr 2023 organisierte Eurac Research die weltweit erste Studie, bei der Versuchspersonen vollständig unter Schnee begraben wurden.Video: Eurac Research

Zum selben Schluss kam ein Team von Eurac Research im März 2023 mit der weltweit ersten Studie, bei der etwa 30 Versuchspersonen vollständig im Schnee eingegraben wurden. Während der Tests überwachten die Forscherinnen und Forscher durchgehend die Sauerstoffsättigung, verschiedene Herz-Kreislaufparameter sowie die Atemfrequenz und Atemtiefe der Freiwilligen. In Zusammenarbeit mit dem Schweizer WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung wurden auch die Schneedichte gemessen und beobachtet, wie sich Sauerstoff und Kohlendioxid beim Atmen im Schnee verteilen.

 

Ein Kapitel für sich sind Verletzungen. Denn obwohl sie oft schwerwiegend und für bis zu 18 Prozent der Lawinentoten verantwortlich sind, sind ihre Merkmale weniger spezifisch und entsprechen eher jenen ähnlicher Traumata, die in anderen Zusammenhängen entstehen.

 

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