magazine_ Reportage
Wie weit kann unsere Wahrnehmung gehen?
Im terraXcube wird das menschliche Empfindungsvermögen auf die Probe gestellt
Andrea Eccher, Techniker des terraXcube, in einer der Klimakammern, in denen Experimente zur menschlichen Wahrnehmung durchgeführt werden.
Credit: Eurac Research | Andrea De Giovanni
Wie genau nehmen wir unsere Umwelt wahr? Vor allem: Wie empfindlich reagieren wir auf Temperaturschwankungen? Die Doktorandin Laura Battistel findet es durch Experimente im Extremklimasimulator terraXcube heraus. Bei einem war ich Versuchsperson.
Wissen wir wirklich, wozu unser Körper fähig ist? Dem Gesichtsausdruck der Kollegen von Laura Battistel nach zu urteilen, wenn die Doktorandin in Neurowissenschaften ihnen die Ergebnisse ihres Experiments mitteilt, würde man sagen: Nein. 0,92 Grad Celsius, das ist der Unterschied in der Umgebungstemperatur, den wir Menschen im Durchschnitt wahrnehmen können. Das heißt, wenn wir von einem 23 Grad warmen Raum in einen mit 23,9 Grad wechseln, können wir sagen, dass der zweite Raum wärmer ist als der erste. Und seien Sie versichert: Niemand von uns würde sich irren. Dies geht aus der Studie hervor, die Battistel für ihren PHD bei Eurac Research und CIMeC (Centro Interdipartimentale Mente/Cervello) der Universität Trient in den Labors des Extremklimasimulators terraXcube durchführt, und die vor kurzem in der Zeitschrift „Scientific Reports“ veröffentlicht wurde. Und heute bin ich hier, im Keller des terraXcube, um an meiner eigenen Haut zu erfahren – im wahrsten Sinne des Wortes – , was es bedeutet, zu Lauras Forschung beizutragen und meine eigene Sinneswahrnehmung auf die Probe zu stellen.
Der Small Cube ist eine der drei Klimasimulationsbereiche des TerraXcube. Die von unzähligen Röhren durchzogene Decke, die Metallwände, die blendend weißen Lichter, all die Lufteinlässe, Knöpfe und Leuchten an den Wänden: Hier drinnen fühlt man sich wie in der Nostromo, dem Raumschiff, mit dem die unglücklichen Protagonisten des Films „Alien“ reisten. In vier unabhängigen kleineren Kammern können hier die unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen simuliert werden: Temperaturen von -20 bis +50 Grad Celsius, Regen, dünne Luft wie in 4000 Metern Höhe. Wir befinden uns nicht am Set eines Science-Fiction-Films, und im Small Cube tummeln sich keine gefährlichen außerirdischen Kreaturen; doch auch hier nehmen Fantasie und menschlicher Erfindungsreichtum Gestalt an. Ich befinde mich im Kontrollraum, von wo aus die Umweltparameter gesteuert werden können und man über Bildschirme alles sieht, was in den Klimakammern passiert. Laura befestigt Sensoren an meinem Körper: Vier messen die Temperatur und Feuchtigkeit meiner Haut, einer meinen Herzschlag und meine Atemfrequenz. Sie erklärt mir meine dem Anschein nach einfache Aufgabe: Den Anweisungen folgend, die sie mir über ein Walkie-Talkie geben wird, soll ich von einer Klimakammer in eine andere wechseln. In jeder Kammer muss ich mich auf die Umgebungstemperatur konzentrieren. „Mach deinen Kopf frei“, rät Laura. „Versuch, auf deinen Körper zu hören, ein bisschen so, als würdest du meditieren.“ Nachdem ich von einem Raum in den anderen gegangen bin, muss ich herauskommen und ihr sagen, ob der zweite Raum wärmer oder kälter als der erste war. Es scheint ein Kinderspiel, aber ich bin doch ein wenig unruhig. „Ich bin nicht gut darin, mich zu konzentrieren, meine Gedanken sind immer woanders“, denke ich. Ich habe Angst, die Erwartungen zu enttäuschen, Lauras Studie zu beeinträchtigen – am Ende dieses Tages werde ich feststellen, wie sehr ich nicht so sehr meinen Geist, sondern meinen Körper unterschätzt habe. Noch schnell eine Kontrolle meiner Körpertemperatur und los geht's. Laura lässt mich in dem kurzen Korridor, der die vier Klimakammern verbindet, allein und schließt die schwere Metalltür hinter sich. Nach kurzer Zeit krächzt das Walkie-Talkie in meiner Hand, dann höre ich Lauras Stimme: „Andrea, bist du bereit?“ – „Bereit“, antworte ich. „Gut, dann geh in Zimmer Nummer drei.“ Ich schiebe die Plastikfolie am Eingang zurück, und der Temperaturwechsel ist schlagartig. Ich spüre die Kälte der Luft auf meinem Gesicht, an meinen Handgelenken und in meinem Nacken. Auf Lauras Anweisung hin stelle ich mich in die Mitte des Raums, neben eine Metallstange voller Sensoren. Ich habe fünf Sekunden Zeit, um alle Teile meines Körpers durchzugehen und im Geist die Informationen zu notieren, die mir jeder einzelne über die Temperatur der Umgebung gibt. Wie zu erwarten, lenkt die Einzigartigkeit des Raums mich ab. Ich stehe in einem Stahlwürfel mit hell leuchtender Decke. Kein alltäglicher Ort. Lauras Stimme unterbricht meine Gedanken abrupt: „Okay Andrea, jetzt geh in Kammer Nummer eins.“ Ich wende mich zum Gehen, hoffend, dass mein Körper die Informationen, die er in den wenigen Sekunden im Raum aufnehmen konnte, irgendwo gespeichert hat. Falls ja, habe ich jedenfalls nicht die leiseste Ahnung, wo diese Informationen sich jetzt befinden. Während ich durch den Korridor in Richtung Zimmer Nummer eins gehe, versuche ich, eine Information festzuhalten, die ich, so mein Gefühl, gar nicht habe, weil damit keine Zahl, kein Bild, kein Geräusch verbunden ist, vielleicht nur das Wort „kalt“. Ja, aber wie kalt? Mehr oder weniger kalt als der Raum, den ich gleich betreten werde? Ich schiebe den Vorhang zur Seite, der mich von Kammer Nummer eins trennt, und versuche, es herauszufinden. Wieder Kälte. Ich bleibe in der Mitte des Raumes stehen und schließe die Augen, um jede Ablenkung zu vermeiden. Die kalte Luft dringt in meine Nasenlöcher, läuft über die freiliegenden Teile meiner Haut. Die Zeit ist um: Laura fordert mich auf, den Raum zu verlassen. Jetzt soll ich ihr sagen, ob der zweite Raum wärmer oder kälter als der erste war. In meine Abwägungen vertieft, schiebe ich die Plastikfolie beiseite und kehre auf den Flur zurück. Ich drücke den Sprechknopf am Walkie-Talkie, aber bleibe stumm. Der Temperaturunterschied, den ich wahrgenommen habe, ist nicht groß genug, um mit Sicherheit sagen zu können, welcher der Räume wärmer oder kälter war. Innerhalb weniger Augenblicke versuche ich, noch einmal meine Empfindungen zu durchlaufen und sie auszudrücken. Und plötzlich klingt in meinem Kopf ein Wort nach, das von wer weiß woher kommt. Das Wort ist „warm“. Der zweite Raum war wärmer als der erste. Ich verkünde Laura das Urteil, obwohl ich den Eindruck habe, dass nicht ich es war, der es gefällt hat. Die Prozedur wiederholt sich für zwei weitere Kammern, dann noch für zwei, und wieder für zwei … So geht es zwei Stunden lang, mit kurzen Pausen. Manchmal kann ich einen deutlichen Unterschied zwischen den Temperaturen in den Kammern wahrnehmen, andere Male muss ich mich ganz auf meinen Instinkt verlassen. In einigen Fällen scheint es mir, dass ich meine Antwort gebe, als würde ich eine Münze werfen; aber wie ich feststellen werde, ist das wahrscheinlich nur mein Eindruck.
NWir sind uns dieser Sensibilität unseres Körpers nicht bewusst, bis wir sie auf die Probe stellen.
Laura Battistel, Doktorandin bei Eurac Research und CIMeC
Das Experiment ist beendet, es geht zurück in den Kontrollraum. Während ich mich von den Sensoren befreie, stellt Laura mir eine Reihe von Fragen zum Experiment, dann wendet sie sich dem Computer vor ihr zu. Es ist Zeit für einen schnellen Blick auf die Testergebnisse. Ich versuche, in Lauras Gesicht Anzeichen von Enttäuschung zu erkennen, aber sie wirkt gelassen. „Ich hoffe, ich habe deine Studie nicht durcheinandergebracht“, sage ich. „Mach dir keine Sorgen“, antwortet sie knapp, während sie die Zahlen auf dem Bildschirm betrachtet. Plötzlich wendet sie sich mir zu. Ein Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. „Du warst gut“, sagt sie. Ich starre sie an, ohne etwas zu sagen, und warte auf nähere Erklärung. „Deine Wahrnehmungsschwelle für Temperaturunterschiede liegt bei 0,7 Grad Celsius. Das bedeutet, wenn zwischen zwei Räumen ein Temperaturunterschied von 0,7 Grad besteht, dann kannst du sagen, welcher der beiden wärmer oder kälter ist, und du würdest dich kaum irren.“ Ich bin verblüfft und Laura merkt es. „Es ist normal, dass du überrascht bist. Wir sind uns dieser Sensibilität unseres Körpers nicht bewusst, bis wir sie auf die Probe stellen.“ Laura erzählt, dass viele ihrer Versuchspersonen glaubten, der Temperaturunterschied zwischen den Räumen habe manchmal fünf Grad Celsius oder mehr betragen. In Wirklichkeit war der Unterschied nie größer als zwei Grad Celsius, aber die Probanden konnten ihn immer spüren. „Kann ich behaupten, ein X-Men zu sein?“, scherze ich. „Tatsächlich sind wir offenbar alle mit dieser Empfindlichkeit gegenüber Temperaturveränderungen ausgestattet. Zwischen den Versuchspersonen meiner Studie gibt es nur sehr geringe Schwankungen. Deine Empfindlichkeit liegt etwas über dem Durchschnitt, aber manche haben auch noch bessere Ergebnisse erzielt“, antwortet Laura. Schade, denke ich; aber gleichzeitig wundere ich mich, dass eine so weit verbreitete Eigenschaft so lange unbemerkt bleiben konnte.
Die Schwelle zu kennen, ab der Temperaturunterschiede für Menschen wahrnehmbar sind, könnte uns helfen, sehr viel weniger Energie für die Klimatisierung von Gebäuden zu verbrauchen.
Laura Battistel, Doktorandin bei Eurac Research und CIMeC
Ich frage Laura, welche Bedeutung eine solche Entdeckung für unser Alltagsleben haben könnte. „In unseren Experimenten berücksichtigen wir nicht das thermische Wohlbefinden der Versuchspersonen. Die Schwelle zu kennen, ab der Temperaturunterschiede für Menschen wahrnehmbar sind, könnte uns in Zukunft aber helfen, sehr viel weniger Energie für die Klimatisierung von Gebäuden zu verbrauchen.“ „Inwiefern?“, frage ich. „Nun, stell dir vor, du lebst oder arbeitest in einem Gebäude, in dem eine bestimmte Komforttemperatur herrscht. Weiß man, wie empfindlich du auf Temperaturschwankungen reagierst, könnte man die Temperatur senken, ohne dass du es merkst und ohne deine Komfortschwelle zu unterschreiten, und so weniger Energie verbrauchen.“ Lauras Untersuchungen gehören zum Forschungsfeld der „verankerten Kognition (Grounded Cognition)“. Nach dieser wissenschaftlichen Theorie ist die Erkenntnis, die wir über unserer Umwelt haben, untrennbar mit unserer Sinneswahrnehmung der Welt an sich verbunden. Mit anderen Worten: Wenn wir über etwas nachdenken, uns an ein Erlebnis zu erinnern versuchen, mit unserer Umgebung in Kontakt treten, werden unsere Sinne aktiviert und beeinflussen unser Denken. Was uns umgibt, beeinflusst, wie wir denken und uns verhalten; doch um zu verstehen, in welcher Weise, müssen wir zunächst herausfinden, was wir wahrnehmen können. Und genau das will Laura mit ihren Experimenten. Eines davon sieht auch die Verwendung von blauem oder rotem Licht vor, um festzustellen, ob die Farbe unserer Umgebung unsere Temperaturwahrnehmung beeinflussen kann. Das Labor, in dem die Studie stattfindet, soll unserer normalen Umgebung möglichst ähnlich sein, so das Ziel. Im Alltag sind wir zahlreichen Reizen ausgesetzt, die sich gegenseitig beeinflussen und zu einer kohärenten Wahrnehmung der Realität beitragen. Indem man multisensorische Reize in das Experiment einbezieht werden die Ergebnisse also auf unser tägliches Leben anwendbar. „Wir möchten künftig zunehmend immersive Umgebungen schaffen, etwa durch den Einsatz von virtueller Realität. Auf diese Weise können wir herausfinden, wie die verschiedenen Sinne unsere Temperaturwahrnehmung beeinflussen“, erklärt Laura. Ich verlasse den terraXcube, lasse die Wärme des Gebäudes hinter mir. Auf der Straße fährt eine kühle Brise hinter den Kragen meiner Jacke und lässt mich frösteln. Der Temperaturwechsel war diesmal unverkennbar und mein Körper hat ihn deutlich signalisiert. Als ich zum Auto zurückkehre, beobachte ich die Passanten, von denen wahrscheinlich keiner weiß, was ich dank Lauras Studie gerade entdeckt habe. Und die Fragen, die mir spontan in den Sinn kommen, sind: Was kann unser Körper noch wahrnehmen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind? In welcher Weise, auf wie viele Arten beeinflusst unsere Umgebung unser Wesen? Könnten sogar diese meine Überlegungen von dem beeinflusst werden, was ich gerade wahrnehme? Wir erkunden gerne Orte und Phänomene, die Lichtjahre von uns entfernt sind, aber das größte Geheimnis wandelt auf unseren Beinen.
In diesem kurzen Video erklärt Laura Battistel ihr Forschungsprojekt zur Wahrnehmung der Umgebungstemperatur.
Das Forschungsprojekt
Die Idee, die menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten mit Hilfe des terraXcube zu untersuchen, stammt von Massimiliano Zampini, Professor am CIMeC (Centro Interdipartimentale Mente/Cervello) der Universität Trient. Laura Battistel, Doktorandin in Neurowissenschaften bei Eurac Research und CIMeC, wird in ihrer Forschung von ihm und Riccardo Parin, einem Forscher des terraXcube, betreut. Mit ihrem Dissertationsprojekt will Battistel herausfinden, was wir von unserer Umgebung wahrzunehmen in der Lage sind; nur so können wir nämlich genauer verstehen, wie die Umwelt unser Denken und Handeln beeinflusst.