“Wir sprechen schon ein schlechtes Deutsch, oder?”
Ob unser Deutsch ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ ist, lässt sich nur beantworten, wenn man bestimmte Wertmaßstäbe setzt. Die spannendere Frage ist, wer diese Wertmaßstäbe bestimmt und welche Konsequenzen sie haben.
Wenn ich nach meinem Beruf gefragt werde, dann weiß ich meistens schon, dass die Unterhaltung sich in zwei mögliche Richtungen entwickeln wird. Entweder darf ich dann widerwillig aufzählen, welche Sprachen ich spreche (die häufigste Variante), oder mein Gegenüber fühlt sich plötzlich in seiner Sprechweise beobachtet und nimmt schon mal vorneweg: „Wir sprechen schon ein schlechtes Deutsch, oder?“ In solchen Situationen wähle ich meistens die einfachste Antwort: „Darum geht es uns Sprachwissenschaftler:innen gar nicht – wir urteilen nicht über Sprache, wir beschreiben sie nur!“ Das Gegenüber ist dann meistens etwas beruhigt, aber in meinem Kopf tönt eine eindringliche Stimme: „Das war jetzt aber nur die halbe Wahrheit!“
Was wäre denn die ganze Wahrheit? Die eine Hälfte der Wahrheit bezieht sich darauf, dass in der heutigen Sprachwissenschaft deskriptive Ansätze vorherrschen – es soll also möglichst wertfrei beschrieben werden, wie Menschen Sprache verwenden. Damit grenzt sich unsere Disziplin von früheren Ansätzen ab, die noch hauptsächlich versuchten, einen bestimmten Sprachgebrauch vorzuschreiben. Allerdings, und jetzt kommt die andere Hälfte der Wahrheit, gibt es durchaus Teilbereiche der Sprachwissenschaft, in denen Werturteile, wie z.B. über ‚gutes‘ und ‚schlechtes‘ Deutsch oder über ‚richtige‘ oder ‚falsche‘ Fallsetzung, eine Rolle spielen. Wenn zum Beispiel in der Sprachtestforschung Aufgabenformate entwickelt werden, mit denen überprüft werden kann, ob jemand Deutsch auf B2 oder C1-Niveau spricht, dann liegen dieser Arbeit normalerweise Vorstellungen von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ oder zumindest von ‚angemessen‘ und ‚nicht angemessen‘ zugrunde. In dem Eck der Sprachwissenschaft, in dem ich mich zuhause fühle, spielen Werturteile aber auf eine ganz andere Art eine Rolle: Dort werden nämlich genau diese Werturteile zum Gegenstand der Untersuchung.
Wie würde dann diese Art der Sprachwissenschaft auf die Frage meines Gegenübers nach dem schlechten Deutsch reagieren? Wahrscheinlich würde sie erstmal eine Reihe von Rückfragen stellen: Wen meinst du mit ‚wir‘? Dich und deine Begleitung? Dich und deine Arbeitskolleg:innen? Dich und alle anderen aus derselben Gegend? Wo hast du diesen Gedanken her, dass euer Deutsch ‚schlecht‘ wäre? Und warum glaubst du, dass ich dir sagen kann, ob das wirklich so ist? Die Antworten auf diese Rückfragen würden dann zeigen: Werturteile über Sprache sind meistens auch Werturteile über Personen und Personengruppen; im Laufe unseres Lebens werden wir in den verschiedensten Zusammenhängen mit solchen Werturteilen konfrontiert; und schlussendlich spiegeln solche Werturteile Machtbeziehungen in unserer Gesellschaft wider und können auch eingesetzt werden, um Macht auszuüben.
Aber was wäre jetzt eine smalltalktaugliche Reaktion auf die Frage, die nicht die halbe Wahrheit unterschlägt? Unser Deutsch ist weder objektiv ‚schlecht‘ noch objektiv ‚gut‘ – aber ob es gesellschaftlich als das eine oder das andere erkannt wird, kann weitreichende Konsequenzen haben. Und genau dafür interessiere ich mich als Sprachwissenschaftlerin.
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