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„Nationaltourismus“: Populismus, Nationalismus oder eine neue Form des Protektionismus?

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Harald PechlanerMirjam Gruber
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„Nationaltourismus“: Populismus, Nationalismus oder eine neue Form des Protektionismus?
„Nationaltourismus“: Populismus, Nationalismus oder eine neue Form des Protektionismus?Credit: Adobe Stock/majonit | All rights reserved

Lange ist es her, dass nationale Grenzen in der EU auch als solche wahrgenommen wurden. Noch bis vor kurzem war für viele von uns der Wechsel des Telefonanbieters einer der wenigen Hinweise, tatsächlich Fuß in einen anderen Staat gesetzt zu haben. Spätestens mit der europäischen Flüchtlingskrise wurden Grenzen als solche wieder sichtbar. Seit Beginn der Coronakrise hat sich die Situation wiederum verschärft. Es sind nicht mehr nur die Randgruppen unserer Gesellschaft, für die nationale Grenzen ein tatsächliches Hindernis darstellen. Alle sind betroffen. Und mit der Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 scheinen sich alte Nationalismen plötzlich wieder zu etablieren. Nun steht der Sommer vor der Tür und damit für viele auch der langersehnte Urlaub. Obwohl viele Menschen aus verschiedenen Gründen gar nicht mehr in den Urlaub fahren können oder wollen, stehen jene, die noch könnten und wollten vor geschlossenen Grenzen und vielen offenen Fragen. Ein neues Phänomen zeichnet sich ab: der „Nationaltourismus“.

Schon Mitte März empfahl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Bundesbürger auf alle Reisen im In- und Ausland verzichten sollten. Wenig später erließ das Auswärtige Amt in Berlin eine weltweite Reisewarnung. Ein einzigartiger Vorgang, auf den harsche Reaktionen von Seiten der Verantwortungsträger der Deutschen Tourismuswirtschaft folgten. Man bräuchte niemanden, der den Sommerurlaub ins Aus katapultiert, monierte etwa Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverbandes (DRV). Doch auch aus Brüssel kam die deutliche Empfehlung – diesmal von Ursula von der Leyen – von einer konkreten Urlaubsplanung im Jahr 2020 grundsätzlich abzusehen. Die Nervosität insbesondere der Reiseveranstalter und Reisebüros ist nachvollziehbar, wenn man weiß, dass die deutschen Urlauber das Angebot eine Reisevermittlung in erster Linie für Auslandsreisen in Anspruch nehmen, nicht so sehr jedoch für den Urlaub in Deutschland selbst. Besonders interessant wurde es, als innerhalb der nationalen Grenzen auch regionale Reiseverbote ausgesprochen wurden. Ähnlich die Situation in Italien. Auch dort lautet die Botschaft der Regierung Conte: „andate in vacanza in Italia“. Aktuell gelten Urlaubszwecke zwar noch nicht als hinreichender Grund, die eigene Region verlassen zu dürfen, in der sogenannten Phase 2 oder Phase 3 werden aber wohl auch diese Restriktionen gelockert.

Von der Freiheit des Reisenden

Tourismus und Mobilität sind aufs Engste miteinander verbunden. Als Ursache für die Verbreitung des Virus wurde daher recht schnell auf die Mobilität des Tourismus verwiesen. Die Reise selbst wurde sozusagen zum Wirt eines hochansteckenden Virus, der Tourismus verantwortlich für das Verschleppen des Erregers von einem Land ins andere.

War das Reisen noch vor wenigen Monaten mit Freiheit gleichzusetzen, so war diese Freiheit plötzlich dahin, als weltweit innerhalb weniger Wochen praktisch sämtliche Grenzen geschlossen wurden und das Reisen sowie die globalisierte Tourismusindustrie zum völligen Erliegen kamen. Diese Reisefreiheit wurde zugunsten des Gemeinwohls, der Sicherheit und Gesundheit eingeschränkt und quasi außer Kraft gesetzt. Jenseits der Frage, ob es denn in einer Welt mit hohem Globalisierungsniveau überhaupt sinnvoll ist, Staatsgrenzen eines Virus wegen zu schließen, wurden Räume plötzlich kleiner – real und in der Wahrnehmung, wie Antje Blinda im „Spiegel“ treffend formuliert: „In Zeiten der Globalisierung ist die Welt geschrumpft, nur wenige Flugstunden trennten die Kontinente und Kulturen. Jetzt sind die Distanzen wieder groß. Unüberwindlich groß. Dabei ist Reisen so wichtig“. Reisen sei mehr als Urlaub. Vielmehr könne man es als Freiheit in einem Sinne verstehen, die oft zu selbstverständlich war: nämlich Grenzen zu überqueren, wann und wo man will. Klein wurde die Welt auch durch das notgedrungene Denken in kleinen Räumen – in der Coronakrise zusätzlich dynamisiert durch kurzfristiges Denken.

Grenzschließungen und Seuchen-Sozialismus

Politikwissenschaftler Herfried Münkler findet klare Worte für die Grenzschließungen, die er als „reine Symbolpolitik“ bezeichnet. Auf Warenströme könne unsere globalisierte Welt schließlich doch nicht verzichten. Zudem hätten Grenzschließungen schon im Jahr 1831 kaum eine Wirkung gezeigt, als die Cholera über Russland nach Polen und Westeuropa kam. Der Philosoph Markus Gabriel geht vom Begriff der „Pan-Demie“ aus: „In der Tat ist das ganze Volk, alle Menschen gleichermaßen, betroffen. Doch genau das haben wir noch nicht verstanden, wenn wir glauben, es sei sinnvoll, die Menschen jetzt in Grenzen einzusperren. Warum sollte das Virus davon beeindruckt sein, dass die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich zu ist?“.

Die Corona-Krise sei nur mit Selbstverantwortung, nicht mit Seuchen-Sozialismus zu besiegen, schreibt auch Eric Gujer in einem Kommentar der „Neuen Züricher Zeitung. „Mit den banalen Details der Prophylaxe, mit Händewaschen und Social Distancing. Aber auch mit weniger Dividenden und Boni für das Geschäftsjahr 2020 oder der Einsicht, dass wir unsere Ferien in diesem Jahr zu Hause verbringen. Wir werden auf manches verzichten, und solange der Verzicht nicht mehr bedeutet als einige Unannehmlichkeiten, haben wir Glück gehabt.“ Einerseits also die reduzierte Reisemobilität als Form der Enthaltsamkeit und des Verzichts, andererseits aber als Möglichkeit, eine Reise im eigenen Land in Betracht zu ziehen.

Ein neues Politikum

Das Thema der freien Mobilität ist schon lange ein Politikum, wenn auch in anderem Kontext. Rechtspopulisten wussten es immer schon für eigene Zwecke zu nutzen. Migration, das allbekannte Lieblingsthema nationalistischer Bewegungen, wurde dabei bis aufs Letzte ausgelutscht, um Ängste zu schüren. Ein anderer Teil der Mobilität blieb aber selbst für Populisten stets unantastbar, und das ist der Tourismus.

Obwohl manch rechtsnationalistischer Akteur sicherlich zum Urlaub im eigenen Land aufrief, blieben diese Stimmen leise. Die eigene Reisefreiheit wurde nie in Frage gestellt. Und plötzlich kamen die Grenzschließungen. Herfried Münkler weiter: „Nicht umsonst haben Länder, in denen Rechtspopulisten viel Einfluss haben, damit angefangen: Österreich und Dänemark. Dabei ist es gar keine richtige Grenzschließung, die Warenströme kommen weiter durch, das müssen sie ja.“ Aber für den Tourismus gab es mit dem Argument der Eingrenzung des Virus kein Durchkommen mehr.

Nun ist in den meisten Ländern Europas und der Welt weder eine Ausreise der Bürger für Urlaubszwecke erlaubt noch eine Einreise in ein anderes Land möglich. In dieser einzigartigen Situation dämmerte es Politik und Tourismusmanagement sehr schnell, dass „Urlaub zu Hause“ für eine bestimmte Zeit möglicherweise die einzige Möglichkeit des Reisens sein würde (siehe Pechlaner, 2020). Markus Söder, bayerischer Ministerpräsident, äußerte sogar die vage Hoffnung, dass sich Gastronomie und Hotellerie nach einer ersten Lockerung der Beschränkungen im Inland gar auf einen „Run“ einstellen könnten. Mancher Verlust könne damit vielleicht aufgeholt werden.

Freunde, in guten wie in schlechten Zeiten

Österreich kann dieser Überlegung zwar viel abgewinnen, erkennt aber, dass es sich damit nicht ausgehen könnte, und startet mit einer Offensive der besonderen Art. Der Hintergrund ist einfach: Zum einen werde es bei 150 Millionen Nächtigungen in Österreich nicht ausreichen, auf heimische Urlauber zu setzen, wie der Tourismusökonom und -Forscher Egon Smeral über die APA OTS Tourismuspresse prognostiziert. Zum anderen macht die deutsche Gästegruppe mehr als die Hälfte der Umsätze im Tourismus aus. Bliebe diese Gruppe fern, so würden das zwei Drittel der Tourismusbetriebe nicht überleben. Deshalb spricht man in Österreich über ein bilaterales Urlaubsabkommen mit Deutschland. Der treue deutsche Gast wurde vom Nachbarn wohl noch nie so sehr begehrt wie jetzt. Auch die allgemeine deutsche Reisefreudigkeit kommt Österreich wohl gerade sehr recht.

Kennt Nationalismus keine Grenzen?

Der Ruf nach einer europäischen Regelung der Grenzöffnungen tönt immer lauter. Südtirol beispielsweise fürchtet, bei auf bilateraler Basis zwischen Deutschland und Österreich ausgehandelten Grenzöffnungen für Tourismuszwecke, leer auszugehen. Manfred Pinzger, Präsident des Südtiroler Hoteliers- und Gastwirteverbandes, wird in der „Zett“ vom 26. April folgendermaßen zitiert: „Es könne nicht sein, dass zum Beispiel Österreich separat mit Deutschland verhandle“. Aber offensichtlich haben auch die politischen Verantwortlichen dort die Problematik im Blick und suchen auf dem Verhandlungswege nach Lösungen, um den Tourismus möglichst schnell wieder ins Laufen zu bringen.

Die derzeit sichtbaren Formen eines „Nationaltourismus“ zeigen die Fragilität der internationalen und globalen Mobilitätsketten auf. Sie zeigen ohne Zweifel, dass die Politik handeln muss und daher als erste Lösung den „Urlaub zu Hause“ ins Spiel bringt. Und obwohl rechtspopulistische Parteien in Österreich oder Italien aktiv für den Urlaub im eigenen Land werben, ist es schwer die genannten Urlaubsrestriktionen grundsätzlich als populistische oder nationalistische Aktionen zu bezeichnen. Für den Politikwissenschaftler Ernesto Laclau gibt es gewissermaßen keine politische Intervention, die nicht zu einem gewissen Grad populistisch ist. Und obwohl auch Nationalismus unterschiedliche Definitionen und Interpretationen zulässt, geht es beim Urlaub im eigenen Land in erster Linie nicht darum die eigene Nation zu glorifizieren und andere herabzusetzen. Zudem meint der Sozialethiker Markus Vogt zur Coronakrisenbewältigung, dass sich dort auch ein überraschend positiver Aspekt zeige. Populistische Politik, die die Probleme zu verdrängen suchte, werde rasch entlarvt.

Anstatt von Populismus kann man vielmehr von einer Art Protektionismus des Tourismus sprechen, denn wenn nur im eigenen Staatsgebiet Urlaub gemacht werden darf, fließen die Gelder auch nicht ins Ausland. Die nationale Wirtschaft wird damit geschützt. Grundsätzlich kann dazu aber angemerkt werden, dass es wohl in erster Linie um den Schutz des Gesundheitssystems geht, da

  1. keine ausländischen Touristen die lokalen Krankenhäuser belasten würden und
  2. keine Einschleppung des Virus durch Touristen riskiert wird.

Das Gegenargument könnte aber lauten, dass das Gesundheitssystem im Grunde auch nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien funktionieren und daher auch einer protektionistischen Politik unterliegen kann.

Unter dem Deckmantel der Solidarität mit den eigenen Leuten, dem eigenen Land, der eigenen Nation kann eine Politik des „Nationaltourismus“ durchaus funktionieren und Vorteile für die Binnenwirtschaft ermöglichen. Darunter leiden könnte im Besonderen Europa, denn solche Urlaubsrestriktionen werden eine europäische Identität und damit eine starke EU eher nicht fördern.

Die EU sucht nach Lösungen

Es scheint nun, als habe Brüssel den Ernst der Lage in Sachen Urlaubsmobilität und die damit zusammenhängende Konkurrenz zwischen den Ländern und Regionen in Europa erkannt und bringe nun entsprechende Kriterien für schrittweise Grenzöffnungen ins Spiel, wie Thomas Gutschker, politischer Korrespondent für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in Brüssel schreibt. Zum ersten Mal habe die Kommission ein klares Kriterium dafür benannt, wann Grenzkontrollen im Schengenraum wieder aufgehoben werden sollen, nämlich sobald sich die epidemiologische Lage in Grenzregionen einander ausreichend annähert und Regeln der sozialen Distanzierung weithin und verantwortlich ausgeübt werden. Zuerst solle dies jedoch dort geschehen, wo das Risiko in Grenzregionen gering sei. Auch die EU-Tourismusminister haben sich kürzlich beraten, um gemeinsame Lösungen im Sinne eines „europäischen Ansatzes“ zu erarbeiten und einen behutsamen Sommertourismus zu ermöglichen.

Ohne Mobilität kein wirtschaftliches Überleben im Tourismus. Eine schnelle Rückkehr zur Normalität oder zumindest ein schneller Beginn einer Normalisierung, die vermutlich Jahre dauern wird, ist notwendig (Pechlaner, 2020). Die entscheidende Frage ist, ob eine europäische Koordination beim Wiedereröffnen der Staatsgrenzen gelingt, um die ohnehin vorhandene Unsicherheit bei der Reiseplanung nicht noch mehr zu verschärfen, was keinem Land entgegenkommen würde. Deutschland hat vorerst die weltweite Reisewarnung (Stand 28.04.2020) bis zum 14. Juni verlängert.


Harald Pechlaner, Center for Advanced Studies, Eurac ResearchHarald Pechlaner ist Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research und Präsident der AIEST (Association Internationale D’Experts Scientifiques Du Tourisme ), der weltweit ältesten tourismuswissenschaftlichen Vereinigung, mit Sitz an der Universität St. Gallen. Als Wirtschaftswissenschaftler leidet er mit den Unternehmen, die innerhalb weniger Tage einen Shutdown hinlegen mussten. Ihn interessiert nun die Frage, wie aus einem Stillstand ein möglichst schnelles “Recovery” entstehen kann und wie Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung in der Wirtschaftswelt stärker verankert werden können.

Mirjam Gruber ist Politikwissenschaftlerin am Center for Advanced Studies von Eurac Research. Durch die Coronakrise wurden einige ihrer lang verloren geglaubten Freundschaften aus dem Standby-Modus geholt. Trotz der oft großen physischen Distanz fühlt sie sich mehr denn je mit vielen Freunden aus aller Welt verbunden.

Weitere Literatur:

  • Pechlaner, H. (05.2020). Tourismus. In Cicero. Magazin für politische Kultur. Mai, 2020. S. 31.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b6601076
Pechlaner, H., & Gruber, M. „Nationaltourismus“: Populismus, Nationalismus oder eine neue Form des Protektionismus? https://doi.org/10.57708/B6601076

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