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„Es fällt schwer, die nötige Distanz zu finden“

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„Es fällt schwer, die nötige Distanz zu finden“
Dariusz Wojtaszyn ist Professor am Lehrstuhl für Zeitgeschichte des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław/Breslau (Polen).Credit: University of Wrocław/Breslau | Krzysztof Ruchniewicz | All rights reserved

Der Urkaine-Krieg aus der Sicht eines polnischen Historikers

Breslau ist etwa 450 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Dort am Willy-Brandt-Zentrum der Universität Wrocław forscht Dariusz Wojtaszyn. Der Zeitgeschichteprofessor war vor Kurzem als Visiting Scientist am Center for Advanced Studies zu Gast. Eine Gelegenheit, mit ihm über die jüngste Geschichte und die Beziehungen zwischen Polen und seinem Nachbarland zu sprechen.

Eurac Research: Herr Wojtaszyn, das Willy-Brandt-Zentrum der Universität Wrocław, an dem Sie lehren, beschäftigt sich vor allem mit europäischer Integration und den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Aktuell rückt noch eine Beziehung in den Vordergrund, jene zwischen Polen und der Ukraine. Wie nehmen Sie als Zeitgeschichtler diesen Krieg wahr.

Dariusz Wojtaszyn: Dieser Krieg ist ein Thema, mit dem wir uns alle in Polen beschäftigen. Am Willy-Brandt-Zentrum war die Ukraine immer präsent und ist jetzt natürlich nochmals in den Vordergrund gerückt. Der komplexe historische, soziale und politische Kontext der polnisch-russischen und polnisch-ukrainischen Beziehungen machen es sowohl der Gesellschaft als auch Medien und Wissenschaft in Polen schwer, die nötige Distanz zu den Ereignissen hinter der Ostgrenze zu finden. Der Krieg wird vielfach nicht über eine klare, kühle Analyse, sondern über Emotionen wahrgenommen. Besonders für die junge Generation in Polen ist es das erste Mal, dass sie mit einem bewaffneten Konflikt in unmittelbarer Nähe der Grenze konfrontiert ist. Anders bei der älteren Generation. Ich selbst habe 1981 bis 1983 noch Kriegszustand in Polen erlebt. Für meinen Sohn ist es etwas ganz Neues. Das vorherrschende Gefühl war von Anfang an vor allem Angst, während bei vielen Polinnen und Polen alte Erinnerungen wieder wach wurden.

Der Krieg wird vielfach nicht über eine klare, kühle Analyse, sondern über Emotionen wahrgenommen.

Dariusz Wojtaszyn

Dieser Krieg stellt wohl für viele junge Menschen eine erste Zäsur eines bisher relativ sorglosen Lebens dar.

Wojtaszyn: In Polen sicher. Viele junge Menschen waren der Überzeugung, dass Europa Sicherheit und Wohlstand garantiert. Vor allem die EU-Mitgliedschaft und die NATO-Mitgliedschaft wurden als Garantie für Frieden wahrgenommen. Wir als die ältere Generation waren uns da nie so sicher, weil wir andere Erfahrungen gemacht haben. Besonders jene mit totalitären Systemen, wie sie etwa meine Großeltern erleben mussten, haben uns eine Art von Unsicherheit oder vielmehr Misstrauen gegenüber dieser ruhigen Zeit eingeimpft. Junge Menschen denken nun wieder mehr über Geschichte nach. Sie versuchen, über die Geschichte unsere Gegenwart besser einzuordnen. Weil sie verstehen wollen, wie wir in Europa in eine solche Lage kommen konnten.

Sie sagten, es sei nicht einfach, die Distanz zu wahren. Wie gestalten Sie die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der Ukraine und Russland? Sind Sie in Kontakt mit ukrainischen und russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern?

Wojtaszyn: Mit ukrainischen Forschenden, ja. Als Universität Breslau haben wir eine enge Zusammenarbeit mit der Iwan-Franko-Universität in Lemberg und wir hatten und haben dort viele Kontakte. Eine ganz aktuelle Initiative ist auch die Erweiterung des Erasmusprogrammes für ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wir haben die Erlaubnis der EU erhalten, Studierende und Forschende im Rahmen dieses Programmes nach Polen einzuladen. Eine Form wissenschaftlicher Diplomatie und vor allem der Unterstützung. Dadurch eröffnet sich uns die Möglichkeit, die Situation mit den Augen der Betroffenen zu sehen. Auch für unsere Studierenden ist das besonders wichtig. Mit den russischen Kolleginnen und Kollegen ist es schwieriger. Schon in der Pandemiezeit haben sich die Kontakte verändert und sind nun beinahe gänzlich abgebrochen.

Viele junge Menschen waren der Überzeugung, dass Europa Sicherheit und Wohlstand garantiert. Die ältere Generation war sich da weniger sicher.

Dariusz Wojtaszyn

Wie schwer ist es, hier zwischen Institution und Person zu trennen?

Wojtaszyn: Die persönlichen Kontakte zu pflegen, ist meiner Meinung nach etwas Gutes, aber diese beiden Ebenen auseinanderzuhalten ist besonders im Fall von Russland wichtig. Aus persönlicher Erfahrung im Kontakt mit totalitären Regimen weiß ich, dass es nach außen so wirkt, als ob die Menschen einfach nur funktionieren und ihr Leben weiterleben wollen, trotz allem, was geschieht. Nicht nur, dass sie nicht dürfen, viele können auch keinen Protest, zumindest keinen offensichtlichen Protest leisten.

Auch in der historischen Aufarbeitung dieses Krieges wird nicht zuletzt der Wissenschaft noch große Verantwortung zukommen. Sie sind auch in der Schulbuchforschung tätig. Was macht die Schulbuchforschung?

Wojtaszyn: Am Willy-Brandt-Zentrum arbeiten wir mit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission zusammen. Diese bilaterale Kommission wurde 1972 noch in der Zeit des Kalten Krieges gegründet. Eine von vielen Initiativen im didaktischen Bereich war die Arbeit an einem gemeinsamen Schulbuch für Geschichte. Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, der Didaktik und der Lehre haben an diesem Projekt zusammengearbeitet, aus dem schließlich die deutsch-polnische Schulbuchreihe „Europa – Unsere Geschichte“ entstand. Über 10 Jahre wurde an der Reihe gearbeitet. Inzwischen gab es in Polen allerdings eine Reform, die es Lehrenden erschwert, das Buch tatsächlich im Unterricht anzuwenden. Um es wieder neu anzupassen, bräuchte es wohl viel guten Willen. Das deutsch-polnische Lehrbuch hat den Geschichtsdialog in anderen Ländern angeregt, die durch eine schwierige Vergangenheit in den bilateralen Beziehungen gekennzeichnet sind. Großes Interesse gab es etwa in den Balkanstaaten und in Asien, vor allem in Japan und Korea. Es gab sogar eine Initiative zur Erarbeitung eines deutsch-russischen Lehrbuchs. Dieses Projekt wurde jedoch nicht verwirklicht. Natürlich gab und gibt es in Russland keinen Mangel an guten Historikern, aber, wie die Beteiligten und Gutachter dieses Projekts feststellten, wäre die Umsetzung eines solchen Lehrbuchs unter den Bedingungen des dogmatischen Bildungssystems in Russland nicht möglich gewesen.

Es war unser Ziel, nicht nur auf die einzelnen Ereignisse einzugehen, sondern vor allem auf die verschiedenen Interpretationen.

Dariusz Wojtaszyn

Warum sind Projekte wie dieses Schulbuch so wichtig?

Wojtaszyn: Weil die deutsch-polnische Geschichte eine sehr schwierige ist. Durch diese Initiative konnte man das Misstrauen zwischen Polen und Deutschland mildern, nationalen Ressentiments und der Konstruktion von Feindbildern entgegenwirken und auf ein gemeinsames Verständnis von Geschichte hinarbeiten. Aber natürlich berücksichtigt dieses Buch nicht nur die deutsch-polnischen Themen. Es ist ein reguläres Geschichtsbuch, ein europäisches Geschichtsbuch, aber viele Prozesse in der Entwicklung Europas wurden am Beispiel von polnischen und deutschen Beziehungen gezeigt. Es war unser Ziel, nicht nur auf die einzelnen Ereignisse einzugehen, sondern vor allem auf die verschiedenen Interpretationen. Wie ordnet Deutschland die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg ein, wie Polen? Und wie kommen diese unterschiedlichen Wahrnehmungen überhaupt zustande? Die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten beispielsweise. Das ist ein Thema, das für polnische Schülerinnen und Schüler bislang nicht ausreichend aufbereitet wurde. Die deutschen Schülerinnen und Schüler haben hingegen Defizite in ihrem Wissen über die gemeinsame Geschichte, etwa über die Besatzungszeit und den Krieg im Osten. Wir haben versucht, verschiedene Perspektiven zu zeigen. Ein Beispiel ist etwa die Vertreibung der Deutschen aus Liegnitz in Niederschlesien. Ein 9-jähriges Mädchen, dessen Familie ausgesiedelt werden sollte, vergisst etwas Wichtiges und läuft zurück ins Haus. Es ist ein Foto ihres Vaters. Als der polnische Soldat, der die Aussiedelung überwacht, sieht, was sie mitgenommen hatte, gibt er ihr eine Ohrfeige. Der Vater auf dem Foto ist nämlich ein SS-Soldat. Einerseits ein Vater, andererseits ein Feind. Diese Szenen machen deutlich, welche Rolle die Emotionen spielen. Krieg ist etwas Schlechtes, etwas Schreckliches für jeden, aber Kinder erleben ihn nochmal ganz anders als die Erwachsenen.

In den meisten Geschichtsbüchern reihen sich Kriege, Friedenschlüsse, Verträge und wieder Kriege aneinander. Was können Sie aus der Arbeit an dem Geschichtsbuch für die jetzige Situation mitnehmen? Haben wir zu wenig gelernt aus der Geschichte, aus dem Geschichtsunterricht, wie er gemacht wird?

Wojtaszyn: Historia magistra vitae est. So versuche ich die Geschichte zu sehen. Trotzdem lernen wir nur selten daraus. Das ist vor allem ein menschliches Problem. Jeder Mensch denkt, dass er einzigartig ist, und dass das, was er erlebt, nur er erlebt. Meine Lehre aus der Geschichte ist auch eine Lehre über die polnische Gesellschaft. Die Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft ist dafür typisch. Politikerinnen und Politiker werden in Polen nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen. Sie sind etwas Fremdes. Das hat tiefe historische Wurzeln: zu oft in der Geschichte waren Behörden und Institutionen die fremde Macht. Die Gesellschaft war etwas anderes, davon gänzlich Abgekoppeltes. Ich versuche, das zu ändern, aber die historischen Ereignisse zeigen mir, dass es im polnischen Fall schwer ist, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Ich hoffe, dass es für meinen Sohn anders aussehen wird.

Zur Person

Dariusz Wojtaszyn ist Professor am Lehrstuhl für Zeitgeschichte des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław/Breslau (Polen). Er ist Erasmus-Programm-Verantwortlicher seiner Universität und war Visiting Researcher am Center for Advanced Studies von Eurac Research.

Valeria von Miller

Valeria von Miller

Valeria von Miller ist Communication Manager am Center for Advanced Studies von Eurac Research. Hauptberuflich sucht sie nach Worten, ansonsten verpackt sie sie gerne in Melodien.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b122839097
von Miller, V. „Es fällt schwer, die nötige Distanz zu finden“. https://doi.org/10.57708/B122839097

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