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Keine Resignation! Ein Aufruf zu kollektivem Handeln

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Keine Resignation! Ein Aufruf zu kollektivem Handeln
Fridays for Future Demo in Berlin, am 14. Februar 2025, dem Tag der Liebe. „Liebe zur Welt“ würde Hannah Arendt sagenCredit: Jonas Knorr | All rights reserved

Es geht bergab, den Bach runter – jedenfalls abwärts: Das ist das Gefühl, das beim Blick auf die aktuellen Nachrichten allzu oft aufkommt. Kein Wunder. Wir werden tagtäglich von schockierenden Meldungen überhäuft. Was dagegen hilft? Sich zusammentun, rausgehen und Bereitschaft zeigen, für Demokratie einzustehen.

Im Westen wütet ein Faschist an der Spitze der größten Weltwirtschaft. Im Osten wütet noch ein Faschist in einem imperialistischen Krieg. Im Süden erwachen neue, blutige Konflikte. Die Klimaerwärmung – Überraschung – schreitet schneller voran als erwartet – und wir, Europa, mittendrin.

Auch hierzulande sieht es nicht gerade rosig aus: Auf der einen Seite mischen sich rechte Milliardäre, auf der anderen Seite pro-kremlische Kräfte in unsere Demokratien ein. Dass das Angst macht, ist verständlich. Trotzdem scheinen die meisten Menschen Angst vor einem ganz anderen Thema zu haben: Einwanderung. Angst vor jenen Menschen zu haben, die vor Krieg, Ausbeutung und Hunger fliehen, ist in Anbetracht der aktuellen Weltsituation allerdings weder rational noch in irgendeiner Weise menschlich.

Antidemokratische Zwischenfälle sollten uns nicht unsere Kraft und unseren Optimismus rauben, an die Demokratie zu glauben. Denn genau das ist es, was autoritäre Kräfte wollen: eine geschwächte Zivilgesellschaft, ein resigniertes Desinteresse.

Linda Ghirardello

Diese Nachrichten geben vielen das Gefühl, dass es zurzeit bergab, den Bach runter – jedenfalls abwärts – geht. Die Journalistinnen Isolde Ruhdorfer und Theresa Bäuerlein beschreiben in einem Krautreporter-Artikel, wie wir mit solchen deprimierenden Nachrichten umgehen können: am besten wie Bestatter:innen, die zwar Anteil nehmen, sich emotional aber distanzieren. Würden sie nämlich mit jedem Todesfall intensiv mitfühlen, könnten sie ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen.

So können auch wir nicht weiterhin für Menschenrechte, Menschlichkeit und Klimaschutz einstehen, wenn wir uns von dem Schwall autoritärer und egomanischer Tendenzen emotional überfordern, ja sogar lähmen lassen. In Anbetracht der vielen antidemokratischen Zwischenfälle besorgt zu sein, ist zwar wichtig, aber sie sollten uns nicht unsere Kraft und unseren Optimismus rauben, an die Demokratie zu glauben, an ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Frieden. Denn genau das ist es, was autoritäre Kräfte wollen: eine geschwächte Zivilgesellschaft, ein resigniertes Desinteresse.

Für eine funktionierende Zivilgesellschaft ist gemeinsames bzw. kollektives Handeln zentral. Die Philosophin und Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt beschreibt in ihrem Essay „Ideologie und Terror“ von 1953, wie die zivilgesellschaftliche Teilhabe am politischen Leben durch soziale Isolierung und Einsamkeit verhindert wird. Zudem seien soziale Isolierung und Einsamkeit ein nährreicher Boden für autoritäres und totalitäres Gedankengut und gleichzeitig auch immer das Ergebnis davon. “Isolation may be the beginning of terror; it certainly is its most fertile ground; it always is its result”, schreibt die politische Theoretikerin. Damit bezieht sich Arendt auf die wechselseitige Wirkung zwischen einer schwachen Zivilgesellschaft und dem Aufkommen autoritärer Staatsformen, und macht klar, wie kollektives Handeln einerseits demokratische Prinzipien aufrechterhalten kann und andererseits nur in einem liberalen System einflussreich sein kann. Gemeinsames Handeln heißt in diesem Sinne, die Macht des Volkes auszuüben und Demokratie zu leben.

Dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt der Wirtschaftsnobelpreisträger 2024, Daron Acemoglu. In seinem Buch mit James Robinson „The Narrow Corridor“ (der schmale Korridor), untersucht er das Zusammenspiel von Macht und Gesellschaft aus historischer Perspektive und zeigt, wie selten die Geschichte liberale demokratische Systeme hervorbrachte. Demokratische Institutionen zu schaffen, welche die Schwachen vor den Starken schützen und wirtschaftliche sowie politische Partizipation ermöglichen, sei ein langer Prozess gewesen, der mehrere Jahrhunderte dauerte und seinen Ursprung im Mittelalter hatte. Dank des Zusammentreffens zentralistischer Institutionen des römischen Reiches und partizipatorischer Organisationsstrukturen der germanischen Stämme, die durch Europa zogen, wurden Bedingungen geschaffen, die das Fundament für die demokratischen Staaten von heute legten.

Genau das sei für liberale Systeme nötig: starke staatliche Institutionen, die sich durch Gewaltenteilung gegenseitig prüfen und eine aufgeklärte, ermächtigte Zivilgesellschaft, die auf Missstände hinweist und für ihre Rechte einsteht. Erst die harmonische Balance zwischen den beiden Kräften ermöglicht ein demokratisches System. Denn, ist der Staat zu stark, herrscht Autokratie; ist die Zivilbevölkerung zu stark, sprechen wir von „failed states“, in denen Institutionen und Gesetze nicht durchgesetzt werden können. Rechtsstaatlichkeit hingegen bedeutet, dass Institutionen den demokratischen Rahmen und die Spielregeln bestimmen, mit denen das politische Spiel abläuft und unterschiedliche gesellschaftliche Interessen ausgehandelt werden. Meinungsunterschiede, Streit und Auseinandersetzungen stehen in einer Demokratie zwar an der Tagesordnung, sind aber gleichzeitig auch Ausdruck politischen Mitspracherechts.

Weniger Einsamkeit bedeutet weniger Nährboden für totalitäre Ansichten. Kollektives Handeln stärkt die Demokratie, und damit auch die Wahrung der eigenen Rechte und Freiheiten.

Linda Ghirardello

Es ist also zentral und unabdingbar für die Gewährleistung von Menschenrechten und Freiheiten, die Balance zwischen Institutionen und Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten. Allerdings ist die Aufrechterhaltung dieser Balance ein heikles Unterfangen, da sie – wie die aktuellen Tendenzen leider zeigen – durch Medienmonopole, Lobbyismus und die starke Einflussnahme von überproportional reichen Personen ins Wanken gebracht werden kann. Gefahr lauert vor allem dann, wenn sich die Gesellschaft stark polarisiert – in Arm und Reich, in Eliten und die breite Masse oder in der konzentrierten und unverhältnismäßigen Macht der Wenigen. Es ist überflüssig, an dieser Stelle aktuelle Beispiele zu nennen.

Aus diesen Thesen lässt sich zusammenfassend so einiges für den derzeitigen Stand der Dinge ableiten. Erstens sollten wir uns darüber bewusst werden, dass unsere demokratischen Grundpfeiler und europäischen Werte bedroht sind; zweitens sollten wir schätzen, was für ein Privileg wir haben, in eine demokratische Gesellschaft hineingeboren worden zu sein und uns aufraffen, um unsere Demokratie kollektiv gegen alle Bedrohungen von innen und außen zu verteidigen. Drittens sollten wir kollektives Handeln auch als einen Nutzen für uns selbst begreifen.

Zivilgesellschaftlich aktiv zu werden, trägt nämlich nicht nur zum Erstarken der Macht der Vielen bei, sondern hat auch einen psychologischen Effekt. Wir fühlen uns weniger einsam mit unserer Sorge vor dem demokratischen Abwärtssog, der Talfahrt unserer Demokratie. Wir merken, dass wir viele sind, und hören auf, resigniert wegzugucken. Weniger Einsamkeit bedeutet im Umkehrschluss auch weniger Nährboden für totalitäre Ansichten. Und natürlich bestärkt kollektives Handeln im Endeffekt die Demokratie, und damit auch die Wahrung der eigenen Rechte und Freiheiten. Am Ende ist es nämlich wie mit dem Klimaschutz: es gibt Menschen, die sich für Gerechtigkeit und Wohlstand der aktuellen und zukünftigen Generationen intrinsisch motivieren können, und jene, die lieber nur an kurzfristige Ziele und das eigene Wohl denken. An letztere sei dieser Aufruf gerichtet: altruistisches Handeln für vermeintlich andere(s), bedeutet im Umkehrschluss auch Handeln für sich selbst. Schütze ich das Klima, schütze ich auch mich und meine Zukunft vor den Folgen der Erderwärmung; schütze ich die Rechte einer bestimmten Personengruppe, schütze ich mich auch selbst durch die Aufrechterhaltung starker Institutionen, demokratischer Rechtsstaatlichkeit und des Wohlfahrtsstaates.

Statt uns allein in unseren Kämmerchen vor unseren Smartphones zu sorgen, dass alles bergab, den Bach runter – jedenfalls abwärts – geht, sollten wir uns zusammentun, rausgehen und der Welt zeigen, dass wir bereit sind, Demokratie, Menschenrechte und die Aussicht auf ein lebenswertes Leben zu verteidigen.

Linda Ghirardello

Kollektives Handeln gibt uns vor allem eines: Optimismus und Zuversicht, auch in Zukunft frei und selbstbestimmt leben zu dürfen sowie weiterhin unsere politischen Ideale vertreten zu können. Denn obwohl Optimismus nicht gerade en vogue ist, ist er der Antrieb, der uns auf die Straßen, auf Demos und auf Klimakundgebungen bringt. Wie die Geschichte zeigt, gibt es keinen linearen Verlauf der Dinge. Sie werden vielmehr durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Handlungen über die Zeit bedingt. Statt uns allein in unseren Kämmerchen vor unseren Smartphones zu sorgen, dass alles bergab, den Bach runter – jedenfalls abwärts – geht, sollten wir uns zusammentun, rausgehen und der Welt zeigen, dass wir bereit sind, Demokratie, Menschenrechte und die Aussicht auf ein lebenswertes Leben innerhalb der planetaren Grenzen zu verteidigen. Und vielleicht sollten wir manchmal auch ein bisschen stolz sein, Institutionen zu haben, die funktionieren und eine starke Zivilgesellschaft, die laut ist!

In Anbetracht der aktuellen Weltlage, schlage ich deshalb eine gemeinsame europäische Kundgebung für die Demokratie vor, jenseits aller parteipolitischen Streitigkeiten. Wenn sich 400 Millionen in der EU lebende Menschen am selben Tag und zur selben Zeit auf die Straße begäben, wäre dies nicht nur ein inspirierender Weckruf gegen die Autokraten rund um den Globus, sondern auch ein wahrhaftes Zeichen für Einigkeit und Vielfalt. Außerdem sollte es am Europatag, am 9. Mai, der an die Schuman-Erklärung von 1950 erinnert, die schließlich zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl führte und bis heute für Frieden und Einheit in Europa steht, unbedingt einen EU-weiten Feiertag geben, der unsere konkreten Rechte, Freiheiten und Chancen, die uns die Demokratie ermöglicht, umfassend feiert!

Weiterführende Literatur:

  • Acemoglu, D., & Robinson, J.A. (2020). The Narrow Corridor : States , Societies , and the Fate of Liberty.
  • Arendt, H. (1953). Ideology and Terror: A Novel Form of Government. The Review of Politics, 15(3), 303–327. doi:10.1017/S0034670500001510

Zum Vertiefen:

Linda Ghirardello

Linda Ghirardello

Linda Ghirardello studierte Kultur- und Politikwissenschaft (genau genommen: internationale Kooperation für Menschenrechte) in Linz und Bologna und forscht zurzeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und der Universität Wien zum Thema geschlechtergerechte Nachhaltigkeitstransformationen. Sie hat diesen Text geschrieben, um sich selbst und anderen Mut zu machen.

Tags

  • Demokratie

Citation

https://doi.org/10.57708/boa4gfpgzrswnmpycg2u4yw
Ghirardello, L. Keine Resignation! Ein Aufruf zu kollektivem Handeln. https://doi.org/10.57708/BOA4GFPGZRSWNMPYCG2U4YW
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