Anbau und Verarbeitung der Edelkastanie
Es ist ein sonniger Frühlingstag Ende März, als ich mich mit Franz Winkler in seinem bestens gepflegten Kastanienhain (‚Keschtn-Egart‘) in Kortsch treffe. Auch jetzt, ohne Blätter, beeindrucken mich die alten, hochgewachsenen Bäume sehr. Manche sind über einhundert Jahre alt. Wie sehr es allerdings der menschlichen Pflege bedarf, dass die Kastanienhaine als ‚Kulturbiotope‘ weiterhin bestehen – das erfahre ich erst im Gespräch mit Franz.
Als erstes erläutert er mir, dass die Europäische Edelkastanie zur Familie der Buchengewächse gehört – und nicht, wie man vermuten könnte – mit der Rosskastanie verwandt ist. Und wer hätte gedacht, dass auf zehn veredelte Bäume mindestens ein wilder Baum kommt? Und weshalb? „Die Wildform trägt mehr Pollen“, klärt mich Franz auf. „Und ein Kastanienbaum trägt nur Früchte, wenn zwei verschiedene Kastaniensorten nebeneinanderstehen.“
Die menschliche Nutzung der Kastanie reicht schon sehr lange zurück, wohl fast 3.000 Jahre. Es waren die Römer, die die Edelkastanie im gesamten Gebiet ihres riesigen Reiches verbreiteten. In Tirol und im Speziellen in Südtirol wurden die Bäume ab dem 11. Jahrhundert gezielt angepflanzt. Kastanien gehörten zu den Grundnahrungsmitteln, auch hier im Vinschgau. „Schließlich“, so erklärt mir Franz, „kannte man damals noch keine Kartoffeln. Es war die Kastanie, die die periodischen Hungersnöte der damaligen Zeit etwas abmildern konnte.“
Einen „letzten Schub“ bekam die Edelkastanie während der Regierungszeit von Kaiserin Maria Theresia, die den Kastanienanbau in den von ihr regierten Kronländern, wie beispielsweise dem Burgenland, Slowenien, der Steiermark und im südlichen Teil Tirols, förderte. Viele der während ihrer Regentschaft, aber auch schon zuvor gepflanzten Kastanienbäume existieren und prägen heute noch unser Landschaftsbild. Echte Methusalems!
Im Vinschgau wurden die Kastanienbäume bis in die Höhe von Kortsch hauptsächlich der Früchte wegen gepflanzt, während im Überetsch vielfach Niederwaldwirtschaft betrieben wurde. „Hierzu“, erklärt mir Franz, „wurden die Kastanienbäume alle 20 bis 30 Jahre auf Stock gesetzt. Hintergrund ist, dass dort viel Weinwirtschaft betrieben wurde und wird. Und für die Errichtung der sogenannten ‚Pataune‘, der Weingutgerüste, brauchte man viele Pfähle aus Kastanienholz.“ Dies gehört freilich inzwischen weitgehend der Vergangenheit an, und auch die früher übliche Mischnutzung in Form der Beweidung und Mästung von Haustieren mit Kastanien findet sich heute nicht mehr.
Über das gesamte Jahr hält einen so ein Kastanienhain bei hingebungsvoller Pflege auf Trab. Auch wenn man es ihm nicht unbedingt ansieht. Sobald im Dezember die letzten Blätter vom Baum gefallen sind, gilt es, Laubstreu und Keschtn-Igel sorgfältig zu räumen. „Sie können Schädlingen als Überwinterungsstätte dienen“, erklärt mir Franz. Ende März und Anfang April werden die Bäume gedüngt: bestenfalls mit abgelagertem Stallmist. Franz verwendet ersatzweise die anfallende Mulchmasse, also Keschtn-Igel, Laub und Gras, sowie organischen Dünger. „Auf keinen Fall jedoch sollte Kunstdünger verwendet werden“, so Franz, „und insbesondere kein kalkhaltiger Dünger.“ In den folgenden Monaten ist es außerdem wichtig, die Bäume wöchentlich zu wässern. Früher, so erzählt mir Franz, bewässerte er seinen Keschtn-Egart noch mithilfe eines Waals. Und tatsächlich haben sich hiervon noch Spuren in seinem Egart erhalten.
Im ausgehenden September und Oktober dann trägt die Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes Früchte: Die Keschtn-Ernte beginnt! Jeden Tag ist Franz jetzt in seinem Egart unterwegs. „Es ist wichtig, die Früchte täglich zu sammeln, damit sie nicht austrocknen“, verrät er mir. Seine Frau Waltraud, die er liebevoll als ‚Keschtnbäuerin‘ betitelt, kümmert sich um das Sortieren und Abpacken der Früchte, sowie um den Verkauf.
Suppe! Krapfen! Kuchen! Herzen! – Honig? Und sogar Bier?
Über den Frischverzehr – am liebsten beim Törggelen – hinaus existiert eine große Vielzahl unterschiedlicher Rezepte, deren Hauptzutat die Esskastanie ist. Wer kennt sie nicht, die süßen Keschtnherzen, die ab Ende September in vielen Südtiroler Konditoreien und Bäckereien verführerisch in der Auslage auf Genießer warten? In vielen Familien gibt es Rezeptbücher mit Kastaniengerichten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. So auch in Franz‘ Familie. Dass es aber auch solche Besonderheiten wie Kastanienhonig oder sogar Kastanienbier gibt – das sind überraschende Neuigkeiten für mich!
„Viele Kastanienhaine sind im vergangenen Jahrhundert aus ökonomischen Gründen anderen Nutzungsformen gewichen. Zu arbeits- und kostenintensiv ist ihre Pflege. Aufwand und Ertrag stehen in keinem guten Verhältnis. Und so drohen die alten Baumriesen aus dem Vinschgau zu verschwinden.“
Franz Winkler, Kortsch
Gibt es eine Zukunft für die Kastanie im Vinschgau?
Bei unserem abschließenden Rundgang durch die aktiv bewirtschafteten und aufgelassenen Kastanienhaine von Kortsch und Schlanders kommen wir auf die Gefährdung der Kastanienkultur im Vinschgau zu sprechen.
2014 trat die aus Asien stammende Esskastanien-Gallwespe in Schlanders und Kortsch erstmals auf. Sichtbares Zeichen ihrer Präsenz sind verkrüppelte Blätter und ein ausbleibender Fruchtansatz. Der Ertragsausfall kann riesig sein. „Bei uns“, so Franz, „waren es 95 Prozent.“ Zum Glück gibt es eine andere, ebenfalls aus Asien stammende Gallwespenart, die den Schädling parasitiert: der Torymus sinensis. „Durch die Ausbringung des natürlichen Gegenspielers stellt die Kastaniengallwespe hier im Vinschgau und Südtirol vorläufig kein großes Problem mehr dar“, so Franz. Der Nützling wird im Piemont gezüchtet und von der Forstbehörde im Bedarfsfall zum Einsatz gebracht.
Wir kommen an einigen Bäumen vorbei, die Spuren von Rindenkrebs zeigen. „Dieser wird durch eine aus Asien über Nordamerika eingeschleppte, 1957 in Südtirol erstmals erwähnte Pilzkrankheit verursacht“, erklärt mir Franz. „Sie verstopft die Saftleitbahnen der Bäume und bringt Astpartien oder mitunter sogar den ganzen Baum zum Absterben. Allerdings gibt es einen hypovirulenten, gutartigen Krebs, der den bösartigen Krebs bekämpft.“ Ein Eingreifen des Menschen ist also nicht nötig – der Baum heilt sich selbst.
Wirklich bedroht wird die Kastanienkultur im Vinschgau durch eine ganz andere Entwicklung: Viele Kastanienhaine sind im vergangenen Jahrhundert aus ökonomischen Gründen anderen Nutzungsformen gewichen. Zu arbeits- und kostenintensiv ist ihre Pflege. Aufwand und Ertrag stehen in keinem guten Verhältnis. Und so drohen die alten Baumriesen endgültig aus dem Vinschgau zu verschwinden.
Hüter der Vielfalt: Franz Winkler, Kortsch
Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zur Ausstellung "Hüter der Vielfalt". Diese wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die vom 15. Juli bis 14. Oktober 2022 im Vinschgau und der Val Mustair stattfindet. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.
Die Wanderausstellung wird an folgenden Orten gezeigt:
- 15.–31. Juli 2022: Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
- 06.-07. August 2022: auf dem Festival „Marmor und Marillen" in Laas
- 03.–18. September 2022: auf den Palabiratagen in Glurns
- 02.–14. Oktober 2022: auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava
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