Wissen zum traditionellen Samenbau und Saatgutvermehrung
Fast 200 Getreidesorten, über 400 Tomatensorten, nahezu 60 Bohnensorten, …: Es gibt wohl kaum jemanden, auf den die Bezeichnung ‚Hüter der Vielfalt‘ besser passt als auf Edith und Robert Bernhard aus Burgeis.
Seit der Jahrtausendwende widmen sich die beiden dem Anbau, der Zucht und Vermehrung alter, oftmals sehr seltener Kulturpflanzenarten. Auf über 5.000 Quadratmetern in Burgeis und Schluderns kultivieren sie mit großem Engagement Obst, Kräuter, Beeren und Gemüse. Eine besondere Herzensangelegenheit der beiden aber ist das Getreide: Seit 2003 vermehren sie das Saatgut von über 100 Weizensorten, ca. 70 Gerstensorten und einigen Roggen- und Hafersorten. Dabei eignet sich das trockene, windige und sonnige Klima des Vinschgau in besonderem Maße für den Getreideanbau: Nicht umsonst war er einst die Kornkammer Tirols.
Bei so einer Vielfalt gibt es das ganze Jahr über etwas zu tun: Beginn ist im Februar mit der Aussaat der Samen von Melanzane und Paprika, im März sind dann die Tomaten an der Reihe. Im April die Erbsen, im Mai die Bohnen und im Juni folgen schließlich die Salate. Und über Obst, Getreide und Beeren haben wir da noch gar nicht gesprochen. Geerntet wird bis Mitte November – und im Januar der Radicchio.
Dabei führte nicht etwa die berufliche Laufbahn zu ihrem Engagement als ‚Vielfaltsgärtner‘: Edith war als Chemielaborantin tätig, Robert war Beamter der Landesverwaltung. Grundlegende Kenntnisse zu Saatgutanbau und -vermehrung haben sie ab der Mitte der 1990er Jahre in Kursen erworben, und anschließend über lange Jahre ein breites Erfahrungswissen angesammelt.
Ihre Motivation, das alte, traditionelle, meist seltene, teils vom Aussterben bedrohte Saatgut zu kultivieren, ist dabei vielfältig: Von der klassischen Selbstversorgung, die einhergeht mit dem Wunsch nach größtmöglicher Ernährungssouveränität, über den unerschütterlichen Glauben an die vielfältigen Werte der alten Sorten, hinter denen so viel mehr steckt als nur die Menge des Ertrags bis hin zum Anspruch, bei uns allen ein Bewusstsein und eine Wertschätzung für die Kulturartenvielfalt zu erzeugen, und so ein Umdenken in Bevölkerung und Politik anzustoßen.
Denn die Kulturartenvielfalt ist weltweit bedroht: Laut Welternährungsorganisation sind in den vergangenen Jahren 75 Prozent der Kulturarten verlorengegangen – in der EU sogar 90 Prozent.
Besonders dramatisch führt die Geschichte des Burgeiser Dinkels (Triticum spelta) das Drama vom Verlust der Kulturarten vor Augen: bei Umbauarbeiten auf einem Dachboden in Burgeis wurden Anfang der 2000er Jahre wenige Samen dieser Dinkelsorte gefunden. Sie waren in Zeitungspapier des Jahres 1895 eingewickelt. Sieben von diesen über 100 Jahre alten Samen brachten Edith und Robert zum Keimen – und konnten daraus dann neues Saatgut gewinnen – buchstäblich eine Rettung in allerletzter Sekunde!
Hüter der Vielfalt: Edith und Robert Bernhard, Burgeis
Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zur Ausstellung "Hüter der Vielfalt". Diese wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die vom 15. Juli bis 14. Oktober 2022 im Vinschgau und der Val Mustair stattfindet. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.
Die Wanderausstellung wird an folgenden Orten gezeigt:
- 15.–31. Juli 2022: Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
- 06.-07. August 2022: auf dem Festival „Marmor und Marillen" in Laas
- 03.–18. September 2022: auf den Palabiratagen in Glurns
- 02.–14. Oktober 2022: auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava
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