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Die Zeit der Hirten
Wie alte Traditionen wiederentdeckt werden, um sich dem Wandel in den Alpen anzupassen
Die Weidewirtschaft in den Alpen hat eine lange Geschichte. Über Jahrtausende hüteten Hirtinnen und Hirten das Vieh und trugen zum Erhalt der Kulturlandschaft bei. Nachdem der Beruf schon fast ausgestorben war, gewinnt er heute wieder an Bedeutung – auch dank eines europäischen Projekts.
Das Einzige, was heute oft noch an die früheren Weidelandschaften erinnert, sind fossile Pollen von Pflanzen, die es längst nicht mehr gibt. Wer diese Überbleibsel zu lesen weiß, entdeckt darin eine spannende Geschichte: In der Vergangenheit wurden Teile des Waldes gerodet, um Weideland zu schaffen Als dann die Herden darüber zogen, förderte das das Wachstum bestimmter Pflanzenarten, während andere zurückgedrängt wurden. So veränderte die Weidewirtschaft allmählich die Verbreitung bestimmter Pflanzenarten und damit auch ihre Pollenprofile. In Südtirol lässt sich eine solche Veränderung, die mit der Einführung der Weidewirtschaft einhergeht, bereits vor 4500 Jahren nachweisen. Alte Pollen werden so zu Zeitzeugen der uralten Tradition des Hirtenwesens in den Alpen – eine Geschichte von Abschied und Rückkehr, die heute ein neues Kapitel aufschlägt.

Bis in die frühen 1900er Jahre spielten die Hirten eine zentrale Rolle in der Wirtschaft der Südtiroler Täler. Wie Johanna Platzgummer, Historikerin am Naturmuseum Südtirol, berichtet, zogen die Hirten und Hirtinnen früh morgens durch die Dörfer und bliesen ins Horn, um die Bewohner auf sich aufmerksam zu machen. Die Bauern ließen daraufhin ihre Ziegen und Schafe mit ihnen auf die Weiden ziehen, von denen die Herden am Nachmittag wieder zurückkehrten. Die Hirten waren für das Wohl der Tiere verantwortlich: Sie schützten sie vor Diebstahl und vor den natürlichen Gefahren des Gebirges – Beutegreifern, Gewittern, Abgründen und giftigen Pflanzen. Sie bewahrten ein altes Wissen um Tiergesundheit und Pflanzenkunde, das für manche fast geheimnisvoll war. Damals waren Tiere und Pflanzen ein hohes Gut, das es zu hüten galt. Der Verlust eines Tieres hätte eine Bauernfamilie schwer getroffen, ebenso wie das Verschwinden der Pflanzen, von denen die Tiere abhingen. Deshalb spielten Hirten und Hirtinnen eine entscheidende Rolle: Sie schützten die Tiere vor Gefahren und bewahrten die Pflanzen vor übermäßigem und wahllosem Abgrasen. Mit den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen des 20. Jahrhunderts und dem Verschwinden der großen Beutegreifer aus den Alpentälern wurde die Figur des Hirten immer mehr an den Rand gedrängt, bis sie beinahe verschwand. Die Einführung der intensiven Viehzucht trug ebenfalls ihren Teil dazu bei. Die letzten professionellen Hirten und Hirtinnen, von denen in historischen Quellen die Rede ist, stammen aus den 1980er Jahren. Was bleibt also von der Hirtentradition in Südtirol? Laut der Historikerin Platzgummer sehr wenig: „Von der Hirtentätigkeit zu leben, ist heute fast unmöglich.“ Wolle und Fleisch haben wenig Wert, und die geringen Einnahmen rechtfertigen nicht den Aufwand, die Tiere zu beaufsichtigen und auf die Weide zu führen. Heute ist die Hirtentätigkeit in Südtirol größtenteils saisonal. Die Hirten und Hirtinnen übernehmen die Tiere zu Beginn der warmen Jahreszeit, führen sie auf die Sommerweiden und bringen sie im Herbst wieder ins Tal zurück. Zudem gibt es sehr wenige, die diese Tätigkei professionell betreiben; man kann sie fast an einer Hand abzählen. Doch allmählich ändert sich etwas. Als die alpinen Weiden aufgegeben wurden, und der Mensch sich aus den Bergen zurückzog – kehrte der Wald zurück. Mit ihm die Pflanzenfresser und schließlich auch ihre natürlichen Feinde. In Gebieten mit großen Beutegreifern wie Bär und Wolf gewinnen Hirten wieder an Bedeutung. Die Geschichte der Hirten und Raubtiere in den Alpen ist wie das zyklische Kommen und Gehen von Ebbe und Flut.

Die Forschungsgruppe unter der Leitung von Julia Stauder, Wildtierökologin bei Eurac Research, setzt sich dafür ein, dass der Beruf des Hirten in Südtirol wieder Fuß fasst. „Es wäre in vielerlei Hinsicht wünschenswert, dass Hirten und Hirtinnen wieder professionell auf den Weiden arbeiten und ständig bei ihren Tieren bleiben“, erklärt sie. Es gäbe einen besseren Schutz vor Angriffen durch Beutegreifer und vor anderen natürlichen Gefahren. Mit einem Hirten vor Ort lassen sich solche Verluste reduzieren. Zudem sehen Touristen gerne Schafund Rinderherden auf den Bergweiden. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum sich Forschende für die professionelle Weidewirtschaft einsetzen. „Durch eine gezielte Weideführung können professionelle Hirten wichtige Lebensräume fördern, die durch historisch gewachsene Formen der Beweidung geprägt wurden“, erklärt Benjamin Kostner, ebenfalls Wildtierökologe bei Eurac Research. „Vielerorts sind diese Lebensräume durch Intensivierung oder auch in Folge von Brachlegung über die letzten Jahrzehnte allmählich verschwunden.“


Indem sie Triebe von Bäumen und Sträuchern fressen, verlangsamen Weidetiere das Vordringen des Waldes; so bleiben Grasland und Lichtungen erhalten, Lebensräume mit großer biologischer Vielfalt.
Julia Stauder arbeitet am Projekt LIFEstockProtect, um alte Weidepraktiken wiederzubeleben. Dabei kooperiert ihre Arbeitsgruppe eng mit den Hirtinnen und Hirten. Das Projekt arbeitet sowohl mit saisonalen Hirten als auch mit jenen, die das ganze Jahr über Tiere betreuen. „Wir unterstützen den Austausch von Wissen und bewährten Methoden zwischen Hirten und Tierbesitzern und auch unter den Hirten selbst. Außerdem organisieren wir Freiwilligenprogramme, bei denen jeder ein paar Tage oder sogar mehrere Monate lang bei den Hirten auf der Alm mithelfen kann.“ Oscar, Anfang zwanzig, ist einer der jüngsten Freiwilligen. Er erzählt, dass ihm das Leben mit den Hirten hilft, dem hektischen Rhythmus der Stadt zu entkommen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber das Schönste hier ist, dass ich keinen Internetzugang habe.“

Das Leben als Hirte ist alles andere als einfach. Das Vieh zur Weide zu führen bedeutet, monatelang an abgelegenen Orten zu leben, fernab von Menschen und jeglicher Zivilisation. Die Hirten Daniel Paratscha und die Hirtin Sandra Hofer, die sowohl privat als auch beruflich ein Paar sind, kennen diese Realität nur zu gut. In den Sommermonaten sind sie oft den ganzen Tag von den majestätischen Dolomiten umgeben, die wie eine natürliche Barriere wirken und sie vom Rest der Welt abschirmen. Ihre ständigen Begleiter sind nicht nur Schafe, Ziegen und Esel, sondern vor allem ihre Hunde, die für die Führung und den Schutz der Herden unverzichtbar sind. „Ich war überrascht, als ich Columella las“, erzählt Johanna Platzgummer, die ebenfalls am Projekt LIFEstockProtect beteiligt ist. Sie bezieht sich dabei auf den römischen Schriftsteller aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. „Columella schrieb, dass ein guter Hirte immer stehen sollte, damit er die Herde nie aus den Augen verliert, und dass er sanft mit den Tieren umgehen sollte, um sie nicht zu erschrecken. Wenn ich Columellas Worte lese, denke ich sofort an Daniel.“

Dann ist da noch Astrid Summerer, eine Wanderhirtin, die im Winter mit ihren Schafen von den Bergen in Sexten nach Friaul-Julisch Venetien zieht. Eine ihrer größten Sorgen ist die Gesundheit der ihr anvertrauten Schafe. Sind die Tiere eines Besitzers krank, besteht das Risiko, dass sich auch die anderen anstecken. Ständig ein Auge darauf zu haben, gehört zu ihren zahlreichen Aufgaben. Matthias Prieth ist ein Hirte aus dem Pustertal. Die Sommermonate verbringt er mit seiner Frau, den beiden Kindern und zwei Hunden auf einer Alm auf über 2000 Metern Höhe. Wenn er nicht gerade Ziegen melkt, den Stall reinigt oder die Kühe hütet, greift er zur Gitarre und singt Lieder im Dialekt. In letzter Zeit, erzählt er, seien die Gewitter besonders heftig, und er erinnert sich an einen Sturm, bei dem der Wind fast die Hütte davongetragen hätte. Matthias hat ein klares Ziel: Er will das Hirtenwesen so aufwerten, dass aus diesem alten Beruf eine innovative Tätigkeit wird. Genau darum geht es auch im Projekt LIFEstockProtect: eine alte Tradition zu erneuern und sie professioneller zu gestalten. In diesem Sinne sind die Projektpartner aktiv an der Ausbildung der Hirten an der Fachschule für Land- und Hauswirtschaft Salern beteiligt.



Seit der Antike werden bei der Behirtung Hunde eingesetzt – für das Führen und den Schutz der Herde sind sie unverzichtbar.
Die Aufgaben der Hirten sind vielfältig und umfassen wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Aspekte. Dennoch begegnen manche der Rückkehr zu einer professionellen Weidewirtschaft mit Skepsis. „Die geringen öffentlichen Zuschüsse entmutigen die Tierhalter, die Kosten für die Anstellung eines Hirten auf sich zu nehmen“, erklärt Julia Stauder. „Mit dieser Ausgangslage besteht die Gefahr, dass manche den Abschuss der Wölfe als alleinige Lösung ansehen. Doch Wölfe kommen mittlerweile in der ganzen Region vor und sind äußerst mobile Tiere. Selbst wenn man zehn Wölfe töten würde, wären bald andere da, um ihren Platz einzunehmen. Der Schutz der Herden durch Hirten bleibt notwendig, unabhängig davon, ob es möglich ist, Beutegreifer zu regulieren.“ Die Hirten bewegen sich in einer Art Grenzgebiet – nicht nur zwischen Wildnis und Zivilisation, sondern auch zwischen unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Sichtweisen und Interessen. Doch, wie die Geschichte der Hirten und Hirtinnen selbst zeigt, liegt gerade in dieser Grenzzone das Potenzial, die enge Verbindung zwischen scheinbar widersprüchlichen Kräften zu entdecken.
