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Die Zukunft des Waldes
Simulationsmodelle helfen zu verstehen, wie das Ökosystem Wald auf den Klimawandel reagiert
Wälder sind sensible und gleichzeitig für den Menschen wertvolle Ökosysteme, die zunehmend dem Klimawandel und seinen Folgen ausgesetzt sind: Schädlinge, Dürren und häufigere und intensivere Extremereignisse. Künftig simulieren Forscher von Eurac Research diese Szenarien anhand mathematischer Modelle. Auf diese Weise helfen sie zu verstehen, wie sich der Wald angesichts der vorhergesagten Veränderungen verhalten wird, und ermöglichen es der öffentlichen Verwaltung, auf unerwartete Ereignisse besser vorbereitet zu sein.
Ein neues Forschungsprojekt befasst sich mit der Kalibrierung der Simulationsmodelle für Waldlandschaften und der Analyse von Szenarien für ausgewählte Waldgebiete im Vinschgau.
Am 28. und 29. Oktober 2018 trifft ein starker atlantischer Sturm auf die Ostalpen mit Regen und Windböen von bis zu 200 km/h. Das verheerende Sturmtief Vaia hat 20.000 Hektar Wald und 42 Millionen Bäume vernichtet, die Schäden sind heute noch sichtbar. Im Sommer 2021 machen erneut Extremereignisse Schlagzeilen: Großbrände lodern in mehreren Mittelmeerländern. Allein in Italien vernichten die Brände 158.000 Hektar Wald, Tausende Menschen mussten evakuiert werden.
Das Satellitenbild zeigt die katastrophalen Folgen des Sturms Vaia im Juli 2019 in der Nähe des Lavazè-Passes, einem der am stärksten betroffenen Gebiete zwischen den Provinzen Trient und Bozen. Das Bild enthält bearbeitete Daten des Satelliten Sentinel2. Copyright: Sentinel-2 (©ESA/ATG medialab)
Ist der Wald wirklich ein so sensibler Lebensraum? „Der Wald ist ein komplexer Lebensraum, über den wir bereits viel wissen, von dem es aber auch noch viel zu entdecken gibt. Er ist zweifellos ein sensibles Ökosystem, das aber auch Störungen gewohnt ist“, erklärt Marco Mina, Waldökologe am Institut für Alpine Umwelt von Eurac Research. „Problematischer wird es, wenn die Auswirkungen die Menschen betreffen, zum Beispiel wenn eine ganze Gemeinde wegen lodernder Waldbrände evakuiert werden muss oder wenn die sogenannten Ökosystemleistungen - also die Ressourcen, die der Wald bietet, einschließlich verschiedener wirtschaftlicher Ressourcen - verloren gehen.“
Klimawandel, Wirtschaft und Gesellschaft: Was erhöht die Anfälligkeit der Wälder?
Wenn Brände, Stürme, Lawinen und Schädlinge zu den größten Bedrohungen der Wälder zählen, so bildet der Klimawandel die Krönung dieser Bedrohungen. In Nordamerika werden etwa Insekten, die vor mehr als einem Jahrhundert eingeschleppt wurden und bisher inaktiv waren, zu einem Problem, da sie sich mit dem Anstieg der Temperaturen nun in Regionen ausbreiten, in denen dies zuvor nicht möglich war. Generell ist festzustellen, dass der Klimawandel dazu führt, dass Extremereignisse häufiger und heftiger vorkommen.
„Die Wälder sind mitunter anfälliger, weil wir sie anfälliger gemacht haben.“
Die Anfälligkeit des Waldes hängt von vielen Faktoren ab, darunter sein sozioökonomisches Umfeld, der Nutzungsgrad und die Nähe zum Menschen. Eine Studie hat beispielsweise gezeigt, dass in den Vereinigten Staaten die Wälder in der Nähe von großen Häfen, wie etwa in Boston, am stärksten von exotischen pathogenen Insekten befallen sind, da diese mit den Waren transportiert werden. Ebenso treten Brände häufiger in der Nähe von urbanen Gebieten auf, weil dort die Brandgefahr höher ist.
„Die Wälder sind mitunter auch deshalb anfälliger, weil wir sie anfälliger gemacht haben“, sagt Marco Mina. Ein Beispiel sind gerade die Wälder der Hochebene von Asiago, die vom verheerenden Sturmtief Vaia im Oktober 2018 stark beschädigt wurden. „Sie sind ein typisches Beispiel für Sekundärwälder, die nach dem Ersten Weltkrieg angepflanzt wurden. Diese Wälder – meist reine Fichtenwälder – sind anfälliger für starke Windböen.
Fichtenholz wächst schneller, ist leichter zu bearbeiten und zu transportieren als andere Holztypen. Im Vergleich zum Primärwald, der sich durch natürliche Prozesse entwickelt hat - und typischerweise mit Fichte, Tanne, Buche, Lärche gemischt ist - hat der reine Fichtenwald zweifellos größere wirtschaftliche Vorteile, zumindest auf kurze Sicht. Aus diesen Gründen wurden in vielen Tiefebenen Mitteleuropas Fichtenwälder gepflanzt, obwohl dies klimatisch gesehen kein geeigneter Ort für diese Baumart ist. Als Folge der Dürre von 2018 wiesen diese Ökosysteme eine ausgesprochen hohe Sterberate der Bäume auf.
Das Vorhersehbare simulieren, um auf das Unerwartete vorbereitet zu sein
Die Vorteile, die der Wald für den Menschen bringt, und die Gefahren, die sich daraus für die Bevölkerung ergeben, sind Ausdruck einer Vielzahl von Faktoren, zu denen unter anderem ökologische, klimatische und soziale Variablen zählen. Mit Hilfe mathematischer Modelle wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verstehen, wie und in welchem Ausmaß sich der Wald verändert, wenn sich einige dieser Variablen ändern.
„Die Modelle sollten uns nicht nur ein besseres Verständnis dafür vermitteln, wie der Wald funktioniert, wie er wächst und wie er sich als Ökosystem entwickelt. Daraus sollten sich auch Empfehlungen ableiten lassen, wie wir Risiken aktiv vorbeugen können und wo wir in komplexen Waldlandschaften am besten eingreifen, um die Widerstandsfähigkeit im Falle von Extremereignissen zu maximieren“, erklärt Marco Mina. Der Ökologe kam Mitte 2021 dank eines Marie Sklodowska-Curie-Stipendiums ans Forschungszentrum Eurac Research, um mathematische Modelle zu kalibrieren, die die verschiedenen Waldtypen Südtirols, insbesondere im Vinschgau, darstellen. Diese Modelle sollen auch für die Simulation von Zukunftsszenarien verwendet werden.
Ein ökologisches Modell des Ökosystems Wald zu entwickeln, bedeutet eine virtuelle Kopie des Waldes zu erstellen, mit der langfristige Simulationen durchgeführt werden können. So lässt sich etwa feststellen, wie sich die Wachstumsrate bestimmter Baumarten bei steigenden Durchschnittstemperaturen und veränderten Niederschlagsverhältnissen verändern könnte; wie weit sich die Waldgrenze in höhere Lagen verlagert oder wie gut die Fähigkeit des Waldes CO₂ aufzunehmen ist. Dabei können verschiedene Waldbewirtschaftungssysteme und Eingriffe simuliert werden, um mögliche Lösungen für vorhersehbare und unvorhersehbare Ereignisse zu testen: So kann etwa die Bevorzugung von Baumarten mit bestimmten Merkmalen oder resistenter genetischer Sorten, dazu beitragen, dass diese Ökosysteme besser gegen einen bestimmten Schädling gewappnet sind oder die Auswirkungen des Klimawandels abmildern. „Natürlich können wir nicht alles vorhersehen, aber es lassen sich sicherlich viele verschiedene Szenarien untersuchen, auch in Bezug auf die extremsten Ereignisse.“
„Die heutigen Modelle sollten uns nicht nur ein besseres Verständnis dafür vermitteln, wie der Wald funktioniert, es sollten sich daraus auch Empfehlungen ableiten lassen, was wir aktiv tun können, um Risiken vorzubeugen und die Widerstandsfähigkeit im Falle von Extremereignissen zu maximieren.”
Mathematische Modelle dieser Art sind Hilfsmittel, die wertvolle Informationen liefern können: „Ihre Zuverlässigkeit ist ähnlich wie die der Wettervorhersage, natürlich auf ganz anderen Zeitskalen“, erklärt Marco Mina. „Auf 10 bis 20 Jahre bieten sie ziemlich genaue Vorhersagen. Auf größeren Skalen bis zu einem Jahrhundert nimmt die Unsicherheit zu. Dennoch können sie nützliche Informationen auf genereller Ebene liefern: Genau wie langfristige Wettervorhersagen allgemeine Hinweise zu Trends und zur Wetterentwicklung im nächsten Monat liefern.“
Kalibrierung von Waldmodellen in Südtirol
In Südtirol wird die Kalibrierung und Anwendung von Waldmodellen - diese erste Phase wird wie in der Fachsprache der Informatiker als Initialisierung bezeichnet - auf subregionaler Ebene in zwei Gebieten des Vinschgaus durchgeführt: im Matschertal, wo sich seit Jahren das Freiluftlabor für ökologische Langzeitforschung (LTSER) von Eurac Research befindet, und in einem Waldgebiet bei Prad, das teilweise zum Nationalpark Stilfserjoch gehört. „Diese Orte wurden ausgewählt, weil sie verschiedene Waldtypen in unterschiedlichen Höhenlagen umfassen“, sagt Marco Mina. „Die Vielfalt der Zusammensetzung dieser Wälder ermöglicht es uns, hilfreiche Ergebnisse für ähnliche Waldtypen in anderen Gebieten Südtirols abzuleiten. Wir schließen nicht aus, auch andere Gebiete in die Modellierung einzubeziehen, insbesondere südlichere Täler wie etwa das Eggental oder einige Täler im Trentino.
Zurzeit arbeitet Marco Mina zusammen mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Alpine Umwelt von Eurac Research an der anspruchsvollsten und umfangreichsten Phase des Projekts: die Datenerfassung und Initialisierungsphase des Waldmodells. Für die Initialisierungs- und Kalibrierungsphase in einem so großen Maßstab ist eine riesige Menge an aktuellen und historischen Daten erforderlich. Die vom Amt für Forstplanung der Provinz Bozen zur Verfügung gestellten Daten liefern wertvolle Informationen über die Struktur des Waldes - Volumen, Entwicklungsstand, Bodenbeschaffenheit, Anteil der Baumarten - sowie über die Bewirtschaftung und den Holzschlag, sprich über die Entwicklung des Waldes in den letzten Jahrzehnten. Diese Informationen können durch noch detailliertere Daten ergänzt werden, die von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Eurac Research im Wald vor Ort gesammelt werden. Mithilfe dieser Daten kann das Forscherteam auch das Wachstum eines einzelnen Baumes in Zusammenhang mit dem Klima beschreiben.
„Der Kontakt zu den lokalen Behörden ist von unschätzbarem Wert. Nicht nur, weil sie uns die Daten liefern, die für die Modelle unerlässlich sind, sondern auch, weil sie uns sagen, welche die aktuellen Fragestellungen sind, die wir mit unseren Simulationen beantworten wollen“, sagt Marco Mina. „Es ist erfreulich zu sehen, dass die Behörden am Endprodukt interessiert sind und erfahren möchten, wie sie die Simulationen nutzen können. Wenn wir die Bedürfnisse der Behörden besser verstehen, können wir die Modelle gezielter auf praktische Anwendungen anpassen.“
In der dritten Phase des Projekts werden Szenarien erstellt, die über den Klimawandel hinausgehen und die sozio-ökonomische Bewirtschaftung des Waldes beschreiben. Dazu gehört auch die wirtschaftliche Quantifizierung der Ökosystemleistungen, die der Wald für die Gesellschaft erbringt, und der erforderlichen Ressourcen für die Bewirtschaftung dieser Flächen. „Die Simulation solcher Szenarien ermöglicht nicht nur zu verstehen, wie viel der Schutz des Waldes kostet, sondern auch, wie viel es kostet, diesen Schutz zu unterlassen.“
Von den Alpen nach Nordamerika und wieder zurück
Marco Mina, Waldökologe und Experte für Simulationsmodelle von Dynamiken in Wäldern, untersucht, wie die Wälder in einer vom globalen Wandel geprägten Zukunft bestmöglich bewirtschaftet werden können. Nach den ersten Forschungsjahren an der ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, wechselte Marco Mina nach Kanada an die Universität von Quebec in Montreal. Dort begann er, anhand von komplexen mathematischen Modellen, die Widerstandsfähigkeit der nordamerikanischen Wälder gegenüber dem Klimawandel zu untersuchen. Dieselbe Methodik wendet er seit 2021 am Institut für Alpine Umwelt von Eurac Research in seinem Projekt zu den Wäldern in den Alpen an.
Das Projekt „REINFORCE: INtegrated landscape management for REsilient mountain FORests under global changes - Integriertes Landschaftsmanagement für resiliente Bergwälder unter globalen Veränderungen“
Im Projekt REINFORCE entwickeln und analysieren Forscherinnen und Forscher mögliche Strategien, um die Resilienz der europäischen Bergwälder gegenüber globalen Veränderungen zu erhöhen. Durch den Einsatz komplexer Modellierungs- und Simulationssysteme wird die künftige Dynamik der Wälder in verschiedenen Untersuchungsgebieten in den Alpenregionen analysiert. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse werden alternative und Resilienz basierte Waldbewirtschaftungspläne bewertet.
Der innovative Ansatz von REINFORCE besteht in der Kombination von dynamischer Landschaftsmodellierung, funktioneller Vielfalt - einem Konzept der Vielfalt, das auf der ökologischen Rolle der einzelnen Arten und nicht nur auf ihrer Häufigkeit beruht - und der Analyse ökologischer Netzwerke. Mit diesem Ansatz lässt sich bestimmen, wie man in die Waldbestände am effizientesten eingreifen kann, um die Resilienz gegenüber plötzlichen Störungen und dem Klimawandel zu maximieren.
Das Projekt wird durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Union im Rahmen der Marie-Skłodowska-Curie-Förderung (Nr. 891671 für Marco Mina MSCA-IF-2019) finanziert und von Eurac Research koordiniert.
Zur Website zum Projekt REINFORCE: https://www.eurac.edu/de/institutes-centers/institut-fuer-alpine-umwelt/projects/reinforce