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Vielfalt würdigen

Migrantischen Stimmen Gehör verschaffen

Credit: Eurac Research | Annelie Bortolotti

Migration ist mehr als eine Frage der Zahlen; in ihr spiegeln sich die sozioökonomischen Veränderungen, die unsere Welt prägen. Weltweit stieg die Zahl der Migranten und Migrantinnen zwischen 2000 und 2020 von 175 auf 281 Millionen, wobei ein Zehntel davon 15 oder jünger war. Migration beginnt oft mit dem Wunsch nach Würde, Sicherheit und Frieden. Anlässlich des Internationalen Tags der Migrantinnen und Migranten geben Verena Wisthaler, Leiterin des Center for Migration and Diversity, und Leiza Brumat, Expertin für internationale Beziehungen, Einblicke in die Migrationsforschung und wie Beiträge von Migranten und Migrantinnen gewürdigt werden.

Wie erkennen Sie als Center die Beiträge von Migrantinnen und Migranten in den Bereichen Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft an?

Verena Wisthaler: In unserem Center verstärken wir die Stimmen von Migranten und Migrantinnen, indem wir ihre Perspektiven in unsere Forschung einbeziehen. Wir untersuchen sowohl die Herkunfts- als auch die Zielländer, um die Auswirkungen der Migration auf die Institutionen und Gesellschaften vor Ort zu verstehen. Auch die öffentliche Debatte ist von entscheidender Bedeutung; wir nutzen die Forschung, um Stereotypen entgegenzuwirken und zu zeigen, wie Migrantinnen und Migranten zu unseren Volkswirtschaften, zum gesellschaftlichen Wandel und zur Entwicklung ganzer Gesellschaften beitragen.

Leiza Brumat: Um Migrantinnen und Migranten als aktive Akteure zu betrachten, müssen wir uns an globalen Debatten beteiligen und einen ganzheitlichen Ansatz für Migration verfolgen. Das bedeutet, sie nicht nur aus anthropologischer oder sozialer Perspektive zu betrachten, sondern auch aus einem kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Blickwinkel. Durch interdisziplinäre Methoden und globale akademische und politische Diskussionen, wie sie im Rahmen der Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung stattfinden, können wir die Rolle von Migranten und Migrantinnen bei der Verringerung von Ungleichheiten und der Förderung der Entwicklung besser erforschen. In Argentinien, zum Beispiel, haben Einwandererverbände dazu beigetragen, eines der fortschrittlichsten und liberalsten Migrationsgesetze der Welt zu entwerfen. In unserem Center betonen wir, dass Migrantinnen und Migranten Katalysatoren für politischen und sozialen Wandel sind.

Die eine kommt aus Südtirol, die andere aus Argentinien: Wie ergänzen sich die Perspektiven?

LB: Ich beschäftige mich mit der globalen makroregionalen Ebene und untersuche dabei Gebiete wie Europa, Afrika und Südamerika als zusammenhängende Einheiten. Da ich aus Südamerika komme, bringe ich eine südamerikanische Perspektive ein, die den geografischen Fokus nicht nur hinsichtlich empirischer Erkenntnisse, sondern auch bezüglich der wissenschaftlichen Literatur erweitert. In dieser Literatur werden Migranten und Migrantinnen zunehmend als Akteure der Entwicklung betrachtet – ein wichtiges Thema in Südamerika, wo ein Schwerpunkt auf Menschenrechte gelegt wird. Viele südamerikanische Länder haben in den Bereichen Migration, Flüchtlings- und Asylrecht Pionierarbeit geleistet und wichtige Präzedenzfälle geschaffen. Während es bei der praktischen Umsetzung der Rechte noch Widersprüche gibt, bieten Institutionen wie die UNO Plattformen für Migrantinnen und Migranten, die für progressive und einzigartige Positionen eintreten. Historisch gesehen ist Lateinamerika eine Region der Auswanderung in die USA. In den letzten Jahren hat Südamerika jedoch eine Wiederbelebung der inneren Mobilität erlebt, die auch in der Vergangenheit immer eine bedeutende Rolle gespielt hat. Heute steht die Süd-Süd-Migration im Mittelpunkt, wobei die Dynamik der Bewegungen zwischen den Ländern des Südens, die in der Migrationsforschung immer relevanter wird, in den Vordergrund gerückt wird. In Südamerika übertrifft die Migration zwischen benachbarten südlichen Ländern inzwischen die Migrationsströme vom Süden in den Norden.

VW: Ich konzentriere mich hingegen auf kleinere Einheiten, auf Regionen, Städte und kleine Gemeinden in Europa und auch hier in Südtirol. Unterschiedliche Perspektiven bereichern unser Center.Sowohl in Lateinamerika als auch in Europa spielen Städte eine zentrale Rolle bei der Integration von Migranten und Migrantinnen. Sie bieten Räume, in denen die täglichen Interaktionen die Gesellschaft prägen. Ein Vergleich der intraregionalen Mobilität in Lateinamerika mit der innereuropäischen Mobilität zeigt gemeinsame Herausforderungen und Chancen auf.


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Wie begehen Sie den Internationalen Tag der Migrantinnen und Migranten und welche Bedeutung haben solche Tage für Sie?

LB: Ich denke, diese Tage sind nützlich, um auf die Vielfalt hinzuweisen, die jede Gesellschaft ausmacht, und die Migration als eine Tatsache des menschlichen Lebens hervorzuheben. Menschen bewegten sich auf der Welt, bevor es Grenzen gab. Die internationale Migration selbst ist also eine Folge der Existenz von Grenzen.

VW: Wir müssen den „besonderen“ Status, der mit Migration verbunden ist, aufheben. Sie ist ein normaler, dauerhafter Aspekt des menschlichen Lebens. Der Schwerpunkt sollte darauf liegen, Migranten und Migrantinnen das ganze Jahr über als integralen Bestandteil unserer Gesellschaft zu sehen und nicht nur für einen Tag.

Wie hat sich die Migrationsforschung verändert, seit Sie beide in diesem Bereich tätig sind?

VW: Die Migrationsforschung hat sich in Bezug auf Disziplinen und Methodik enorm diversifiziert. Sie ist innovativer geworden und umfasst jetzt auch Bereiche, die vor einem Jahrzehnt noch nichts miteinander zu tun zu haben schienen, etwa Gesundheit, Design und Kunst. Auch methodisch hat sich viel verändert, heutzutage werden zunehmend visuelle Methoden eingesetzt, oder auch künstlerische. Dieser Ansatz wird nicht nur verwendet, um Ergebnisse zu präsentieren und zugänglicher zu machen, sondern auch für die eigentliche Forschung, also  um Themen wie Migration und Diskriminierung zu untersuchen. Vor dreißig Jahren beschränkte sich die Migrationsforschung weitgehend auf bestimmte Makroregionen. Heute gibt es eine viel stärkere globale Zusammenarbeit zwischen Forschenden. Ein weiterer bemerkenswerter Wandel ist die wachsende Bedeutung von Migrantengemeinschaften und Forschenden mit Migrationshintergrund, deren Perspektiven jetzt eine zentrale Rolle bei der Gestaltung des Fachgebiets spielen.

LB: Migration ist viel sichtbarer als früher, was die Dynamik in der Wissenschaft und der globalen Politikgestaltung verändert hat. Für Institutionen wie das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR und die Internationale Organisation für Migration IOM bedeutet diese Sichtbarkeit der Migration einen größeren Einfluss durch erhöhte Finanzmitteln. Wir sehen auch, dass sich der Wortschatz verändert hat. Am Anfang wurden sehr einfache Begriffe verwendet: Einwanderung, Asyl, Flüchtlinge. Jetzt werden in globalen Foren differenziertere Konzepte diskutiert, und Politiker sprechen von gesamtgesellschaftlichen und gesamtstaatlichen Ansätzen zur Steuerung der Migration und zur Verbesserung des Zugangs zu Rechten unabhängig vom Aufenthaltsstatus.

Wir müssen den „besonderen“ Status, der mit Migration verbunden ist, aufheben. Sie ist ein normaler, dauerhafter Aspekt des menschlichen Lebens.

Verena Wisthaler

Migranten, Einwanderinnen, Flüchtlinge, Asylsuchende, Vertriebene – können wir über die Sprache und die damit verbundenen Wahrnehmungen sprechen?

LB: Die Unterscheidung zwischen Begriffen wie Einwanderer oder Einwanderin, Migrant oder Migrantin und Flüchtling, insbesondere zwischen Migrant oder Migrantin und Flüchtling, ist nicht nur technisch, sondern auch politisch von großer Bedeutung. Da die Migration sehr viel komplexer geworden ist, spiegeln diese Klassifizierungen die Nuancen der Migration wider und werden sowohl durch akademische Rahmenbedingungen als auch durch politische Agenden geprägt. Menschen in Machtpositionen setzen diese Begriffe oft strategisch ein und klassifizieren Personen auf eine Weise, die ihren Interessen in bestimmten Momenten, an bestimmten Grenzen oder in bestimmten Kontexten dient. Nehmen wir die Unterscheidung zwischen Migration und Mobilität. Technisch gesehen definieren internationale Konventionen einen Migranten als jemanden, der eine Grenze für mehr als ein Jahr überschreitet. Aber bedeutet dies, dass beispielsweise Deutsche, die in Italien leben, Migranten oder Migrantinnen sind? Nein, sie werden als EU-Mover eingestuft, als Unionsbürger und -bürgerinnen, die die innereuropäische Freizügigkeit in Anspruch nehmen. Der Begriff „Migrant oder Migrantin“ hat oft einen abwertenden Beigeschmack, insbesondere in den Medien, wo er häufig mit Armut und Menschen aus ärmeren Ländern in Verbindung gebracht wird. Aus technischer, politischer oder akademischer Sicht stimmt das jedoch nicht. Diese Begriffe sind stark politisiert und spiegeln den aufgeladenen Charakter der Sprache rund ums Thema Migration wider.

VW: Terminologische Präzision ist in manchen Momenten aber auch wichtig – es ist die Wahrnehmung, die wir hinterfragen müssen, und nicht nur die Sprache. Aber grundsätzlich ist zu sagen, dass die Art und Weise, wie wir Menschen bezeichnen, die gesellschaftliche Einstellung beeinflusst.

LB: Wir dürfen die Migration nicht als „ein Problem“ ansehen, wie sie oft bezeichnet wird.  Ich fordere meine Studierenden auf, dies zu überdenken, indem ich sie frage: „Wenn du aus einem anderen Land kommst, bist du dann ein Problem?“ Migration verkörpert das Wesen der Menschheit, sie ist kein Problem, das gelöst werden muss.

VW: Und die Gesellschaft muss sie als Normalität akzeptieren.

Migration verkörpert das Wesen der Menschheit, sie ist kein Problem, das gelöst werden muss.

Leiza Brumat

About the Interviewed


Verena Wisthaler ist Leiterin des Center for Migration and Diversity von Eurac Research und Dozentin an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Migrations- und Integrationspolitik auf regionaler und lokaler Ebene. Sie hat 2016 an der Universität Leicester in Politikwissenschaft promoviert und wurde 2017 mit dem Jean-Blondel-PhD-Prize des ECPR, dem Europäisches Konsortium für Politikwissenschaften, ausgezeichnet. Sie war Gastforscherin am European University Institute in Florenz, an der Universität Corte (FR) und an der Universität Edinburgh (UK) sowie Post-Doc-Forscherin an der Universität Neuchâtel (CH) und am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in JEMS, Regional Studies, Journal of Comparative Policy Analysis, Studies in Ethnicity and Nationalism und Politika veröffentlicht.

About the Interviewed


Leiza Brumat ist Senior Forscherin am Center for Migration and Diversity von Eurac Research und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute on Comparative Regional Integration Studies der United Nations University (UNU-CRIS). Sie ist Expertin für internationale Beziehungen und hat an der Lateinamerikanische Fakultät für Sozialwissenschaften in Argentinien promoviert. Sie war bereits als Forschungsstipendiatin am Migration Policy Centre (MPC) des European University Institute, als Dozentin für internationale Beziehungen und regionale Integration in ihrer Heimatstadt Buenos Aires sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Nationalen Forschungsrat von Argentinien CONICET tätig. Sie ist Koautorin des Bandes Migration and Mobility in the EU (2. Auflage, Palgrave, 2020, zusammen mit Andrew Geddes und Leila Hadj Abdou). Außerdem war sie als leitende Beraterin an der Entwicklung und Aktualisierung einer Migrationsstrategie für ganz Südamerika (2024-2034) beteiligt. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die regionale und globale Migrationspolitik.

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