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Auf ins Feld

Grasland: ein komplexes und produktives Ökosystem, ebenso artenreich wie bedroht.

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Eine blühende Bergwiese.

Credit: Eurac Research | Annelie Bortolotti

Annelie Bortolotti
by Rachel Wolffe

Graslandschaften machen je nach Definition zwischen 20 und 40 Prozent der weltweiten Landoberfläche aus. Mit 70 Prozent der Agrarfläche sind sie die landwirtschaftlich am meisten genutzten Lebensräume der Erde. Allerdings gefährden moderne Agrarsysteme diese einst üppigen terrestrischen Ozeane der biologischen Vielfalt.

In vielen Graslandgebieten sind heimische Arten wie Wiesenvögel, Schmetterlinge, Wildbienen und Heuschrecken weitgehend durch Bewirtschaftung und Weidevieh verdrängt worden. Denn die Landwirtschaft und die Viehzucht sind die Lebensgrundlage von mehr als 800 Millionen Menschen. Wie können wir unsere Ernährung sichern und gleichzeitig diese wichtigen Ökosysteme schützen?

Grasslands 101

Als Grasland wird ein Gebiet bezeichnet, das von einer einzigen Pflanzenart dominiert wird: dem Gras. Diese äußerst erfolgreiche und hochentwickelte Art mit einem länglichen Blatt für die Photosynthese und einem einzelnen Samenkopf für die Fortpflanzung kann, dank fossiler Gräserpollen, auf das Paläozän vor etwa 60 Millionen Jahren zurückdatiert werden. Gras kann karge Böden besiedeln, Waldbrände überleben und konkurrierende Arten verdrängen. Daher haben sich Graslandschaften in den meisten Teilen der Erde ausgebreitet, umfassen etwa 12.000 Arten und beherbergen eine Vielzahl von Pflanzen, Pilzen und Tieren. Von Savannen über Prärien und Steppen bis hin zur Pampa und Tundra – Graslandschaften sind riesig und weltbekannt. Es gibt zwei Haupttypen: tropisches und gemäßigtes Grasland. Gemäßigte Graslandschaften findet man in Europa und insbesondere in der alpinen Zone. Die Steppenebenen Eurasiens sind das weltweit größte Biom dieser Art. Sie erstrecken sich über eine Fläche von mehr als 8.000 Kilometer von Ungarn im Westen über die Ukraine und Zentralasien bis nach Nordostchina/Mongolei im Osten, und zeichnen sich durch eine besonders hohe pflanzliche Artenvielfalt aus. Wenn sie also so widerstandsfähig sind, warum machen wir uns dann Sorgen um sie?

Grasland ist wichtig

Weizen, Hafer, Hirse, Mais, Reis, Gerste, Zuckerrohr, Weizen und Mais: Sie alle sind Gräser.

Der Pflanzenanbau und die Viehzucht förderten einst den sozialen und kulturellen Fortschritt. Beide brauchten Grasland, um sich zu entwickeln. Seit die Menschen vor etwa 10.000 Jahren vom Jagen und Sammeln zur Landwirtschaft umstiegen, entwickelten sich die Kulturen zusammen mit dem Getreide, das sie produzierten. Kornpuppen, die Petroglyphen von Tamgaly in Kasachstan und die Darstellungen von Demeter oder der aztekischen Maisgöttin Chicomecóatl sind nur einige der vielen Zeugnisse der Viehzucht, der sozialen Organisation und der Rituale der Hirtenvölker. In Eurasien sind es Weizen, Gerste, Hafer und Roggen, in Asien und dem Nahen Osten ist es Reis, in Afrika Sorghumhirse und in Lateinamerika Mais. Über 50 Prozent der Kalorien, die wir konsumieren, stammen aus Gräsern, vor allem in Form von Getreide. Auch das Vieh wird mit Futtermitteln aufgezogen, die teilweise oder ganz auf Gräsern basieren. Hunderte Millionen Menschen sind von einem Einkommen aus der Landwirtschaft abhängig.

altCredit: Eurac Research | Annelie Bortolotti
Auf den Weiden spielt die Beweidung eine ähnliche Rolle wie die Mahd. Allerdings hat sich die Art des Düngens und des Mähens völlig verändert, was sich in der Zusammensetzung und dem Reichtum der Blumen widerspiegelt.

Abgesehen von der Ernährung und der Wirtschaft bieten Grünlandflächen den Menschen auch Erholung und machen einen großen Teil der städtischen und vorstädtischen Landschaft aus. Wenn sich die Wiesen im Frühjahr in bunte Teppiche verwandeln, werden Bestäuber wie Wildbienen, Wespen, Käfer, Heuschrecken und Schmetterlinge angezogen. Wiesen sind Lebensräume und bieten eine große Artenvielfalt. Blattläuse, Thripse, Heuschrecken, Käfer und andere Arten, die sich von Pflanzen ernähren, sind die Kraftwerke der Bodenregeneration und der Samenverbreitung. Ameisen, Termiten, Würmer und Maulwürfe durchlüften den Boden und bieten unter anderem Wiesenvögeln, Eidechsen, Spitzmäusen, Blindschleichen und verschiedenen Schlangenarten Nahrung.

Auf beweideten Wiesen kann sich das Vieh frei von einer Vielzahl von Wiesenpflanzen und Gräsern ernähren und so mehr pflanzliche Proteine und sogar bestimmte „natürliche Arzneimittel“ wie z. B. den Gewöhnlichen Hornklee – eine antiparasitäre Art – aufnehmen. Durch den weitgehenden Umstieg von der Weidehaltung auf die Fütterung mit Getreide ist die Motivation zur Bewirtschaftung dieser Lebensräume allerdings teilweise verloren gegangen.

Grasland ist auch ein Kohlenstoffspeicher. Es bindet CO2: Etwa ein Drittel des terrestrischen Kohlenstoffs der Erde ist derzeit in Grasland gespeichert, was bedeutet, dass es eine mächtige Rolle im Kampf gegen den Klimawandel spielen könnte. Mehr Grasland, und insbesondere mehr artenreiches Grasland, bedeutet automatisch auch mehr natürliche Kohlenstoffspeicherung.

Die Bemühungen zur Wiederherstellung

Die Muster der Artenvielfalt werden stark durch den zunehmenden Einfluss des Menschen geprägt. Der Flächenverlust und die Fragmentierung der Biodiversität von Grasland sind alarmierend. Um die biologische Vielfalt dieser Ökosysteme zu erhalten und wiederherzustellen, ist eine differenzierte und spezifische Bewirtschaftung notwendig. Ein Sprichwort besagt: „Wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen“. Können wir sicherstellen, dass wir das, was wir geliehen haben, zurückgeben können? Eurac Research forscht an einer Reihe von Lösungsansätzen zur Schadensbegrenzung und zur Überwachung. Hier stellen wir einige Menschen vor, die an den Herausforderungen arbeiten, mit denen das Grasland konfrontiert ist.

Unsere Forscherinnen und Forscher

altCredit: Eurac Research | Annelie Bortolotti
Von oben links nach unten rechts: Matteo Anderle, Silvia Lembo, Harald Crepaz, Michael Steinwandter, Emilio Dorrigati, Erich Tasser, Lisa Obwegs, Roberto Dellavedova

„Artenreiches Grasland gehört heute zu den am stärksten gefährdeten Lebensräumen in Südtirols Tälern. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die Situation in Zukunft zu verbessern.“

Erich Tasser, Senior-Forscher am Institut für Alpine Umwelt

Erich Tasser: Mit dem „Green Deal“ will die Europäische Union die Artenvielfalt und intakte Ökosysteme fördern. Weitläufige Graslandflächen spielen dabei eine zentrale Rolle. Je nach Bewirtschaftung und Standort können sie Hotspots der Biodiversität oder aber auch sehr artenarm sein. Welche Nutzungsform auf welchen Flächen möglichst biodiversitätsfreundlich und gleichzeitig wirtschaftlich tragfähig ist, ist jedoch noch nicht ausreichend erforscht. Das Forschungsprojekt G4B (Grasslands for biodiversity: supporting the protection of the biodiversity-rich grasslands and related management practices in the Alps and Carpathians) soll dazu beitragen, die biologische Vielfalt von Grasland in den beiden größten Gebirgszügen Europas, den Alpen und den Karpaten, zu schützen. 13 Partner aus acht europäischen Ländern erforschen gemeinsam mit uns, wie eine nachhaltige Bewirtschaftung in den Alpen und in den Karpaten in Zukunft gewährleistet werden kann. In erster Linie wollen wir verstehen, welche Graslandbewirtschaftung dafür notwendig ist. Darüber hinaus wurde ein Netzwerk von Graslandflächen entwickelt, um wertvolle Graslandflächen durch Bewirtschaftung langfristig zu erhalten.

 

altCredit: Eurac Research | Marina Baldo
Silvia Lembo beim Sammeln von Proben im LT(S)ER-Gebiet im Matschertal.

„Graslandschaften gehören zu den Ökosystemen, die am empfindlichsten auf den Klimawandel reagieren, und sie sind einer der wichtigsten Hotspots der Biodiversität auf unserem Planeten: Wir müssen beobachten und lernen, wie sie auf unterschiedliche Bedingungen reagieren, damit wir sie schützen können.“

Silvia Lembo, Doktorandin am Institut für Alpine Umwelt

Silvia Lembo: Der Klimawandel wirkt sich auf die Zusammensetzung und das Funktionieren von Ökosystemen auf der ganzen Welt aus. Pflanzen, Tiere und Mikrobenspezies versuchen darauf zu reagieren, indem sie entweder ihren Lebenszyklus an die neuen Umweltbedingungen anpassen oder sich ökologische Nischen suchen. Wenn sich Pflanzen weiter in die Höhe bewegen, werden sie durch den niedrigeren Luftdruck mit neuen atmosphärischen Bedingungen konfrontiert. Mit Hilfe von Ecotron-Kammern im terraXcube analysiere ich im Projekt UPSHIFT, in Zusammenarbeit mit der Universität Innsbruck, wie drei alpine Pflanzenarten auf niedrigeren Luftdruck reagieren. 

„Anhand von Hyperspektraldaten möchte ich die Genauigkeit unserer Fernerkundungsanalysen verbessern und zur Entwicklung effektiverer Fernerkundungstechniken für die Graslandforschung beitragen.“

Emilio Dorrigati, Junior-Forscher am Institut für Erdbeobachtung

Emilio Dorigatti: Grasland ist ein charakteristischer Bestandteil der Landschaft im Alpenraum, wobei natürliches und naturnahes Grasland zu den artenreichsten Lebensräumen hier zählt. Ich arbeite in einer Forschungsgruppe, die sich auf die Kartierung und Überwachung von Grasland-Lebensraumtypen mit Hilfe von Erdbeobachtungsdaten konzentriert. Unser Ziel ist es, das Potenzial der Hyperspektraldaten des PRISMA-Satelliten für die Kartierung von Grasland-Habitaten zu erforschen, sowohl allein als auch in Kombination mit anderen Erdbeobachtungsdaten. Die Ergebnisse werden wertvolle Einblicke in die Stärken und Schwächen dieser neuen Datenquelle bieten, wenn sie zur Analyse von Graslandlebensräumen eingesetzt wird.

altCredit: www.inaturalist.org | Aurelie Laurent | All rights reserved
Apis Mellifera, ein wertvoller Bestäuber

Lisa Obwegs: Ich konzentriere mich darauf, die ökologische Bedeutung und die wichtige Rolle von Grasland für die Wildbienenpopulationen zu verstehen. Um tiefere Einblicke zu gewinnen, untersuche ich den Einfluss der Höhe. So kann ich die Auswirkungen der Landnutzungsintensität beobachten und verstehen, wie diese Faktoren die Wildbienengemeinschaften beeinflussen, einschließlich ihrer funktionalen und taxonomischen Vielfalt. Dieses Wissen ist entscheidend für die Entwicklung wirksamer Schutzstrategien für diese wichtigen Bestäuber.

 

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Insekten spielen im Grasland eine wichtige Rolle. Sie durchlüften den Boden, bestäuben Pflanzen und liefern Nahrung für andere Tiere.

„Wiesenvögel sind stark bedroht. Ich beobachte sie, um das Wissen über ihre Verbreitung zu erweitern, ihren Schutz zu verbessern und Managementstrategien vorzuschlagen.“

Matteo Anderle, Post-Doc-Forscher am Institut für Alpine Umwelt

Matteo Anderle: Ich überwache die Populationen der Wiesenvögel an verschiedenen Standorten in Südtirol. Dafür habe ich ein standardisiertes Protokoll erstellt, das die Arten am Tag und in der Nacht zählt und mit einer bestehenden Erhebung aus Gebieten vergleicht, in denen diese Arten noch „gut“ vertreten sind.

 

altCredit: Eurac Research | Martina Jaider
Matteo Anderle überwacht die Populationen von Graslandvögeln, deren Zahl durch den Verlust von Lebensräumen, die Verschlechterung der Bodenqualität und den Klimawandel, der das einst riesige Ökosystem bedroht, immer weiter zurückgeht

Roberto Dellavedova: Seit über 20 Jahren untersuche ich gemähte Wiesen in den Westalpen. Jede einzelne Wiese ist das Ergebnis aus vielen ökologischen Faktoren wie Substrat, Höhenlage, Exposition, Niederschlagsmenge und Feuchtigkeit sowie ihrer Bewirtschaftung. In den letzten 70 Jahren haben sich die Art des Düngens und Mähens völlig verändert, was sich in der Zusammensetzung und dem Reichtum der Blumen widerspiegelt.

„Gut bewirtschaftete, gemähte Wiesen haben einen hohen biologischen Wert und beherbergen eine beträchtliche Anzahl von wirbellosen Tieren und Pflanzenarten. Ihr Überleben hängt ausschließlich von uns ab.“

Roberto Dellavedova, Forscher am Institut für Alpine Umwelt

Traditionelle landwirtschaftliche Mäharbeiten, die jahrhundertelang durchgeführt wurden, begünstigten die Arten, die das Grasland bevölkern. Ich habe begonnen, eine 3.000 m2 große Wiesenfläche ohne Maschinen zu bewirtschaften. Im November dünge ich mit reifem Rindermist; im Februar verteile ich das, was davon übrig ist, manuell mit einem Holzrechen, und im Sommer mähe ich zweimal von Hand mit einer österreichischen Sense. Nach einigen Jahren zähle ich jetzt auf dieser Wiese mehr als sechzig verschiedene Arten und kann eine Zunahme der Blumen beobachten. Interessant ist auch, dass der Boden ohne die Maschinen nicht verdichtet wird und daher, dank der ständigen Aktivität der Regenwürmer, besser durchlüftet ist.

altCredit: Eurac Research | Marina Baldo
Die Biologin Silvia Lembo und der Ökologe Harald Crepaz im Einsatz

Harald Crepaz: Im Rahmen eines sozio-ökologischen Langzeitforschungsprojekts untersuche ich, wie sich Veränderungen der Schneeschmelze und der Temperatur auf das Wachstum und den Zeitpunkt von Lebenszyklusereignissen (Phänologie) alpiner Pflanzen auswirken, wie z.B. das Austreiben der Blätter oder die Blüte. Ich hoffe, mehr über die Mechanismen herauszufinden, die hinter den Reaktionen alpiner Pflanzen auf wärmere Temperaturen und frühere Schneeschmelze stecken, um zu verstehen, wie sich alpine Vegetationsgemeinschaften in Zukunft unter dem Klimawandel verändern werden

 

Credit: Eurac Research | Martina Jaider

„Ich hoffe, mehr Bewusstsein über die Tiere schaffen zu können, die in diesen Böden leben und wie sie zum Funktionieren der Ökosysteme beitragen. Graslandschaften sind Hotspots für die Vielfalt der Bodenfauna und können einzigartige und spezialisierte Arten beherbergen.“

Michael Steinwandter, Bodenökologe und -zoologe, Entomologe am Institut für Alpine Umwelt

Michael Steinwandter: Als Bodenökologe untersuche ich vor allem die Bodenfauna, die auf und in Bergwiesenböden lebt, wie viele einer bestimmten Art dort leben, und den Artenreichtum: Wie viele Arten oder Taxa gefunden werden können. Dazu entnehme ich Bodenkernproben oder stelle für eine gewisse Zeit Bodenfallen auf. Die Bodentiere werden dann in unseren Labors gezählt und identifiziert, was uns Aufschluss über die Zusammensetzung der Artengemeinschaften und deren potenzielle Funktion gibt. Wir vergleichen häufig verschiedene Graslandtypen wie Wiesen, Weiden und unterschiedliche Bewirtschaftungsintensitäten: Extensiv bewirtschaftete Wiesen und Weiden beherbergen vielfältigere und spezialisierte Bodenfauna-Gemeinschaften, während die Intensivierung der Bewirtschaftung zu homogeneren Gemeinschaften führt. Darüber hinaus ist Trockenrasen – wie der, den wir in unserem Freilandlabor, dem LT(S)ER-Gebiet, im Matscher-Tal untersuchen – wirklich interessant. Er birgt einige Schätze der Bodenfauna, wie den winzigen, drei Millimeter großen, gescheckten Käfer Ocetiopalpus sabulosus, der noch nie zuvor in den europäischen Alpen gesichtet wurde, und mehrere in Italien und Südtirol neue Spinnen, wie die schmucke Samtspinne Eresus sandaliatus.

altCredit: Eurac Research | Michael Steinwandter
Die Spinne Eresus sandaliatus, ein Neuankömmling in Italien.

Eurasian Grassland Conference 2024 - Eurac Research


Die 19. Ausgabe der European Grassland Conference (egc2024.it) wird vom 26. August bis zum 1. September 2024 in Bozen, Italien, stattfinden. Das Thema der diesjährigen EGC lautet „Grasland als Hotspot der Biodiversität“.

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