magazine_ Interview

„Wollen wir die Almen erhalten, müssen wir das Hirtenwesen unterstützen“

Ein Gespräch über Herdenschutz und die Herausforderungen eines selten gewordenen Berufes

by Laura Defranceschi

Professionelle Hirtinnen und Hirten kann man in Südtirol an einer Hand abzählen. Ihre Arbeit ist hart und anspruchsvoll, sie wissen immer, wie es ihren Tieren geht, und sie tragen zur Erhaltung wertvoller Lebensräume bei. Die beiden Wildtierökologen Julia Stauder und Benjamin Kostner erklären, wie Behirtung zu Naturschutz und Tierwohl beiträgt – und warum ihr von Seiten der Landwirtschaft trotzdem oft Skepsis entgegenschlägt.

Hirten sind manchen gerade noch aus der Bibel bekannt – wie sieht das Berufsbild heute aus?

Julia Stauder: Im Alpenraum ist es vor allem eine saisonale Arbeit im Sommer auf der Alm. Mittlerweile sind es auch öfters Menschen, die aus einem anderen Beruf quer einsteigen, oder sich eine Auszeit nehmen möchten. Gleichzeitig ist es eine sehr anspruchsvolle Arbeit – auch körperlich –, Urlaubstage gibt es keine, man ist immer bei den Tieren. Der Arbeitstag beginnt, sobald die Sonne aufgeht und endet, wenn die Sonne untergeht. Hirten und Hirtinnen – es gibt mittlerweile auch viele Frauen in diesem Beruf – sind nicht nur für den Herdenschutz, sondern generell für die Gesundheit und das Wohlergehen der Tiere zuständig, wissen immer ganz genau, wie es den Tieren geht. Jedes Jahr gehen in Südtirol über tausend Tiere durch Absturz, Blitzschlag oder Krankheit zugrunde. Behirtung kann viele Ausfälle vermeiden.

Wie viele Hirtinnen und Hirten gibt es in Südtirol?

Benjamin Kostner: Das ist schwierig zu sagen. Sprechen wir von ständiger Behirtung, bei der man die Herde ganztags beaufsichtigt und gezielt zu Weideplätzen führt – für den Herdenschutz ist das zentral –, dann üben den Beruf nur sehr wenige aus, man kann sie an einer Hand abzählen. Dann gibt es aber noch jene, die immer wieder einmal nach den Tieren schauen – manchmal einmal am Tag, manchmal alle paar Tage.

Hüten sie nur Schafe oder auch andere Tiere und wie groß sind die Herden?

Stauder: Behirten kann man alles. In Südtirol sind es vor allem Schafe, Ziegen und Rinder; es beginnt bei kleineren Schafherden mit um die 150 Tieren bis hin zu Herden mit 1.000 und mehr Schafen. Kostner: Wenn es um ständige Behirtung geht, reden wir eher über Kleinvieh. Das hat auch mit Gewichtsklasse zu tun, denn Rinder ab 250 Kilogramm gelten in Bezug auf Beutegreifer als weniger gefährdet.

Viele haben uns von Problemen mit dem Tourismus berichtet. Bei einer Befragung in der Schweiz haben viele Hirtinnen und Hirten erklärt, eine Alm mit Wolfspräsenz sei ihnen lieber als eine mit viel Tourismus.

Benjamin Kostner, Eurac Research

Wo sehen Hirtinnen und Hirten in ihrem Berufsalltag die größten Herausforderungen?

Kostner: Ein großes Problem ist das Arbeitsrecht und die Arbeitsverhältnisse: Die Unterkünfte sind nicht immer angemessen; es ist eine große Stundenlast, die oft nicht angemessen bezahlt wird; Unterstützung fehlt, und auch die Kommunikation mit den Viehhaltern ist nicht immer einfach. Denn wenn Hirten Tiere von verschiedenen Viehhaltern zusammenbringen und über den ganzen Sommer zusammen halten, ist es wichtig, dass alle im Vorhinein schon zusammenarbeiten, dass alle gesunde Tiere auftreiben und den Vorgaben der Tierärzte – aber auch der Hirten – folgen. Viele haben uns auch von Problemen mit dem Tourismus berichtet. Bei einer Befragung in der Schweiz haben viele Hirtinnen und Hirten sogar erklärt, eine Alm mit Wolfspräsenz sei ihnen lieber als eine mit viel Tourismus. Offenbar mangelt es oft an Sensibilität: Radfahrer steigen nicht ab, sondern fahren mitten durch Herden, Hunde von Wandernden jagen Tiere und töten sie manchmal auch. Da braucht es also noch viel Sensibilisierungsarbeit.

Stauder: Eine große Herausforderung für viele ist auch der saisonale Aspekt – was macht man im Herbst und Winter? Und was passiert, wenn man Familie hat? Solange die Kinder noch klein sind, geht es vielleicht noch mit ihnen auf der Alm. Aber irgendwann wird es schwieriger. Dazu kommt die Bürokratie: Das sind praktisch veranlagte Leute, die nicht Zeit und Lust haben, sich ständig mit Schreibarbeit auseinanderzusetzen. Teilweise haben sie dort oben gar keinen Empfang, wie sollen sie Dokumente ausfüllen und zurückschicken? Und gemessen an der Arbeitszeit und Leistung, die Hirtinnen und Hirten erbringen, ist die Bezahlung einfach schlecht. In der Schweiz ist sie viel höher, deshalb gehen auch viele dorthin.

Hirtenlehrgang in der Fachschule für Land- und Hauswirtschaft Salern/Vahrn


Angestoßen durch das Projekt LIFEstockProtect hat die Fachschule Salern einen Hirtenlehrgang mit abschließender Zertifizierung ausgearbeitet. Der Lehrgang wird seit 2021/22 angeboten. Er umfasst eine sechsmonatige Ausbildung in den Bereichen Weidemanagement, Herdenschutz, Tiergesundheit, Almwirtschaft, Meterologie sowie rechtliche Rahmenbedingungen und schließt mit der in Südtirol anerkannten beruflichen Zertifizierung „Hirt/in“.

Der Schutz der Herde ist nicht die einzige Dienstleistung, die Hirtinnen und Hirten erbringen…

Kostner: Professionelle Hirten, die ihre Herde gezielt durch die Landschaft lenken, erhalten auch Lebensräume. Das sind oft Kulturlandschaften, die eine sehr hohe Biodiversität aufweisen. Ein Beispiel ist der Vinschger Sonnenberg, wo die charakteristischen Trockenrasengebiete über Jahrhunderte durch Beweidung geprägt worden sind. In den letzten Jahrzehnten sind viele dieser Lebensräume durch Auflassungen verloren gegangen. In Laas, wo noch bis zu 1.000 Schafen und Ziegen weiden, sind sie erhalten geblieben, und man findet noch Arten, die andernorts am Sonnenberg verschwunden sind. Denn ohne Tiere, die dornige, bittere, holzige und stark wachsende Pflanzen fressen, entstehen Schichten, die die Vielfalt ersticken. Aus Sicht des Naturschutzes bringt diese professionelle Beweidung einen Mehrwert; das wird aber zurzeit noch nicht entlohnt. Dieses Thema des Vertragsnaturschutzes möchten wir vorantreiben. Schäfereibetriebe in Österreich und vor allem in Deutschland, mit denen wir im Rahmen des Projekts zu tun haben, leben teilweise zu über 50-60 Prozent vom Vertragsnaturschutz. Sie haben dieselben Probleme wie wir hier, nämlich, dass die Wolle nichts mehr wert ist, dass sie keine guten Preise für das Fleisch und die Milch erzielen. Aber sie schaffen es zu überleben, weil sie für diese Dienstleistung, die sie für den Naturschutz erbringen, bezahlt werden.

Stauder: In Norddeutschland wird zum Beispiel die Deichbeweidung gefördert, die gleichzeitig Hochwasserschutz ist. In Südtirol wurde im vergangenen Jahr zum ersten Mal ein Pilotprojekt auf dem Etschdamm mit den Wanderschäfern Daniel Paratscha und Sandra Hofer mit ihrer Schafherde durchgeführt. Wollte man dasselbe Ergebnis auf dem Etschdamm mit Maschinen erzielen, würde es sehr viel Geld kosten – abgesehen davon, dass es unmöglich wäre, ein gleichwertiges Resultat zu haben. Denn der Verbiss der Schafe schafft eine dichte Grasnarbe und ein starkes Wurzelsystem, und der Tritt verfestigt die Bodenoberfläche und damit den Damm.

Erzählt mir mehr über Herdenschutzhunde – sind sie die wirksamste Strategie im Herdenschutz?

Stauder: Diese Hunde sind über Jahrtausende gezüchtet worden, um Weidetiere vor Beutegreifern zu schützen, also nicht nur vor dem Wolf, sondern auch vor Bären und vor Menschen. Gerade in Italien sind Viehdiebe noch ein großes Problem. Es gibt viele Rassen weltweit: die bei uns bekanntesten sind der Pyrenäenberghund, der Kangal, oder der Maremmano-Abruzzen-Schäferhund. Herdenschutzhunde gehen immer mit der Herde mit und arbeiten vollkommen autonom. Sie sind von klein auf in die Herde integriert, die sie beschützen. Sie fühlen sich dann fast selbst wie ein Schaf, das sie als Teil ihrer Familie ansehen und gegen alles verteidigen, was von außen kommt. Man kann sie auch auf neue Herden konditionieren, es braucht dafür aber eine Eingewöhnungsphase.

Kostner: Man kann sie für alles verwenden, man kann sie auch auf Hühner aufpassen lassen.

Stauder: Die Tradition der Herdenschutzhunde ist bei uns verloren gegangen, weil es so lange keine Beutegreifer mehr gegeben hat. Jetzt kehrt sie langsam zurück, im Alpenraum vor allem in Frankreich und der Schweiz. Man merkt, dass es vielerorts auf lange Sicht nicht ohne Hunde funktioniert. Sie leisten Unglaubliches, besonders die Hütehunde (Anm. d. Red.: Hütehunde arbeiten auf Anleitung der Hirten, während Herdenschutzhunde die Herde autonom vor Angriffen schützen) machen mehrere tausend Höhenmeter am Tag. Man muss aber viel Zeit investieren und auch Geld, da sie nicht günstig sind. Allein die Haltungskosten belaufen sich auf ein paar tausend Euro im Jahr. Doch auch hier ist die Herausforderung, wohin mit den Hunden im Winter? Wenn das Vieh im Stall ist, haben sie keine Aufgabe mehr. Eine Lösung könnte zum Beispiel sein, dass man ein Zentrum errichtet, das die Hunde aufnimmt, für sie auch im Winter sorgt und sie im Sommer gleichermaßen als Arbeitsinstrument verpachtet.

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Credit: Eurac Research | Andrea De Giovanni
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Credit: Eurac Research | Andrea De Giovanni
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Credit: Eurac Research | Andrea De Fi

Wie erklärt ihr euch die Skepsis, die in Südtirol gegenüber der Behirtung herrscht?

Stauder: Die Bauernschaft ist leider generell skeptisch, was das Thema angeht. Dazu kommt, dass dieses Thema politisch wenig unterstützt wird – die Förderungen sind minimal, es gibt wenig Beratung und Informationsquellen. Wenn jetzt auch noch der Schutzstatus des Wolfes gesenkt und der Abschuss erleichtert wird, haben viele den Eindruck, dass damit alle Probleme gelöst sind.

Wie schaut die Zukunft der Beweidung in Südtirol aus?

Stauder: Für das Herdenmanagement machen die vielen kleinen Privatalmen, auf die dann jeder seine fünf Schafe stellt, keinen Sinn. Man müsste diese Herden zusammenlegen und Almen nach einem Weideplan gemeinsam abgrasen, um Herdenschutz zumutbar umsetzen zu können. Aber zu so einer Zusammenarbeit sind viele noch nicht bereit. Sollte es dennoch in diese Richtung gehen, dann wären Hirten und Hirtinnen immer wichtiger, glaube ich. Ich denke auch, es ist eine gesellschaftliche Entscheidung, ob wir die Almwirtschaft wie wir sie kennen und wie sie auf den Postkarten verkauft wird, erhalten wollen oder nicht. Denn monetär gesehen wird es nie mit der Intensivwirtschaft im Tal konkurrieren können. Aber wollen wir diese Landschaft, wollen wir die Tiere auf der Alm haben, wollen wir diese Tradition erhalten, diese Form der Tierhaltung, des Tierwohls? Dann muss die Gesellschaft dieses Kulturgut auch finanziell unterstützen.

Das Projekt LIFEStockProtect


Ziel des Projekts LIFEstock Protect ist es, die Akzeptanz für den Herdenschutz zu steigern und dadurch den Mensch-Wolf Konflikt im deutschsprachigen Teil der Alpen zu verringern. Durch eine enge Zusammenarbeit mit Hirtinnen und Hirten und der Landwirtschaft werden Fortbildungen, Exkursionen und Webinare zu allen Aspekten des Herdenschutzes angeboten – Probleme und Chancen werden diskutiert. Informationsvideos zu Herdenschutzhunden, Freiwilligeneinsätze auf Almen, eine Ausstellung zur Weidekultur und ein Zertifizierungssystem für Herdenschutzhunde werden ebenso im Projekt erarbeitet.

Weitere Informationen unter: https://lifestockprotect.info/

Julia Stauder

Die Wildtierökologin hat einen Abschluss in Wildtiermanagement sowie in Naturschutzbiologie und Biodiversitätsmanagement. Sie arbeitet als Nachwuchswissenschaftlerin und Doktorandin am Institut für Regionalentwicklung von Eurac Research. In ihrer Arbeit konzentriert sich auf das Zusammenleben von Menschen und Wildtieren, insbesondere im Zusammenhang mit der Rückkehr von Großraubtieren in die Alpen und der Entschärfung von Konflikten. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit gilt ihr besonderes Augenmerk der Bedeutung extensiver Weidesysteme und der Aufwertung traditioneller Viehhaltungssysteme für den Schutz der Tiere und die Erhaltung der Landschaft.

Benjamin Kostner

Benjamin Kostner hat einen Abschluss in Wildtierökologie und Wildtiermanagement sowie in Naturwissenschaften. Zurzeit arbeitet er am Institut für Regionalentwicklung von Eurac Research. Seine Arbeit konzentriert sich auf Mensch-Wildtier-Interaktionen, insbesondere in Zusammenhang mit der Rückkehr von großen Beutegreifern in die Alpen und Präventionsmaßnahmen in den daraus resultierenden Konfliktfeldern. Außerdem ist er an Projekten zu ökologischer Vernetzung und zur Wiederherstellung von Lebensräumen beteiligt.

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