Wenn Bäuerinnen zu Tagesmüttern werden
2006 schufen einige mutige und innovative Bäuerinnen für sich die Möglichkeit, am Hof ein eigenes Aktionsfeld zu gestalten, ihre Fähigkeiten zu erweitern und gleichzeitig ihr Einkommen zu verbessern: Sie gründeten die Sozialgenossenschaft „Mit Bäuerinnen lernen – wachsen – leben“ und organisierten Ausbildungslehrgänge zur Tagesmutter. Heute beschäftigt die Sozialgenossenschaft über 100 Tagesmütter, die ca. 800 Kinder zwischen 0 und 3 Jahren in ganz Südtirol betreuen. Etwa die Hälfte der Tagesmütter sind Bäuerinnen. Wir wollten wissen: Wie wirkt sich die Tätigkeit dieser Bäuerinnen als Kinderbetreuerinnen auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen aus? Um das herauszufinden, haben wir vertiefende Gespräche mit sieben Südtiroler Bäuerinnen geführt, die nebenbei auch Tagesmütter sind. Wir haben zusätzlich auch mit drei Expertinnen aus der Interessenvertretung der Südtiroler Bäuerinnen und einer Sozialwissenschaftlerin der Uni Bozen gesprochen. Das sind die vier Kernaussagen aus den Interviews:
1. Neues Wissen, neue Fähigkeiten
Bevor Bäuerinnen sich als Tagesmütter bezeichnen können, müssen sie eine Ausbildung absolvieren. Diese umfasst 450 Unterrichtsstunden, davon sind 100 Stunden Praktikum. Naturpädagogik ist das Fundament der Ausbildung und gleichzeitig ein einzigartiges Merkmal der Kinderbetreuung auf dem Bauernhof. Die Bäuerinnen lernen im Lehrgang etwas über Entwicklungspsychologie und Erziehung der Kinder, Gesundheitslehre, Spiel und Fördern, Ernährungslehre, usw. Die Ausbildung ist verpflichtend und vermittelt die Werkzeuge für die Ausübung der Tätigkeit als Tagesmutter.
2. Mehr Geld, weniger Freizeit
Der Beruf als Tagesmutter ist für diese Bäuerinnen eine Möglichkeit, neben ihrer Arbeit in der Landwirtschaft und im Haushalt einer „bezahlten“ Arbeit nachzugehen, ohne den Hof verlassen zu müssen. Sie konnten so auf ihren Höfen ein persönliches Extra-Einkommen verdienen. Aber dieser Gewinn an Autonomie hat ihren Preis: diese zusätzliche Tätigkeit kostet Zeit. Frauen, die vorher als Vollzeit-Bäuerinnen gearbeitet hatten, verloren durch die Tätigkeit als Tagesmutter einen Teil ihrer Freizeit. Für diejenigen Bäuerinnen hingegen, die vorher außerhalb der Landwirtschaft arbeiteten, bedeutete die Tätigkeit hingegen einen Zeitgewinn für die Landwirtschaft und mehr Freizeit. Das tägliche Pendeln zur Arbeit entfiel komplett.
3. Eine Umstellung für den gesamten Familienbetrieb
Kinderbetreuung auf dem Bauernhof anzubieten, bedeutet einen Einschnitt in das Leben der ganzen Bauernfamilie. Deshalb trafen sie in allen Fällen die Entscheidung gemeinsam. Mit diesem Beruf geht einher, dass sich familienfremde Personen auf dem Hof befinden. Einerseits stellte dies für einige Familienmitglieder ein Eindringen in die Privatsphäre dar. Andererseits belebte die Präsenz von Kindern die Bauernhöfe und machte sie zu einem sozialen Treffpunkt für mehrere Generationen. Um einen Bauernhof zu managen, muss die Familie Betrieb, Haushalt und Privatleben in Einklang bringen. Kommt jetzt noch die Extra-Tätigkeit als Tagesmutter dazu, muss der Alltag auf dem Hof klar eingeteilt und straff strukturiert sein. Das haben die Bäuerinnen geschafft.
4. Verantwortung für ein eigenes Projekt mit gesellschaftlicher Relevanz
Die berufliche Veränderung erzeugte trotz einer erhöhten Arbeitsbelastung Wohlbefinden bei den Bäuerinnen und steigerte ihr Selbstbewusstsein: der Beruf macht ihnen Spaß, er ist schwer ersetzbar für die Eltern der betreuten Kinder aber auch für den Hof, er ist ihr eigenes „Projekt“, er gibt ihnen Verantwortung, er wird von der Gesellschaft gesehen und wertgeschätzt.
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