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Ist Verstehenwollen rassistisch?

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Ist Verstehenwollen rassistisch?
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Ist Verstehenwollen rassistisch? Die Unterbrechung eines Gesprächs mit der Aufforderung, die Sprache zu wechseln, weil man das Gespräch auch verstehen wolle, maskiert einen gewaltvollen Platzverweis. Verstehen Wollen ist in diesem Zusammenhang eine Grenzüberschreitung, die von einer selbstverständlichen Vorstellung darüber getragen wird, welche Sprachen unterbrochen werden sollen und dürfen, sie degradiert Sprecher:innen und macht sie (un-)heimlich.

„Da red‘ ich mit meinem Kollegen im Lehrerzimmer auf Türkisch und eine Kollegin, die weiter weg steht, unterbricht mich laut mit der Bitte, ich soll Deutsch reden, weil sie sonst nicht verstehen kann, was wir reden. (…)“

Diese Erzählung eines Kollegen aus dem Lehrerzimmer einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, in Deutschland, ist ein Paradebeispiel für einen sprachlich-symbolischen Gewaltakt. Hier werden die Persönlichkeitsrechte sowie das Recht auf freie Rede von bestimmten Sprecher:innen mit Verweis auf die deutsche Sprache ausgehöhlt:

Aus einem Dialog mit einem Gesprächspartner von unbeteiligten Dritten ungefragt gebeten zu werden, die Sprache zu wechseln, ist eine Form von Gewalt. Sie beraubt die aktiven Sprecher ihrer lebendigen Erzählsprache, weil eine umstehende Unbeteiligte angeblich etwas verstehen will. Diese Gewalt zielt auf die Unterbindung eines Beziehungs- und Emotionsaufbaus zwischen diesen zwei Sprechern, auf die Herstellung einer Hierarchie zwischen diesen beiden und der dritten Person und zuletzt auf die „Deutschungshoheit“ (Malonda 2023) darüber, wer das Rederecht erteilen darf.

Die Definitionsmacht wird mit zweierlei Rahmen zum Vorteil der sie nutzenden Kollegin hergestellt: Erstens rahmt sie das kollegiale Gespräch, dem beizuwohnen sie als ihr Recht voraussetzen will, als nichtdeutsches Sprechen, oder, mit El-Tayeb (2016): als undeutsches Sprechen. Zweitens kennzeichnet sie das besagte Gespräch als (un)heimlich, da sie die beiden nicht verstehen kann. Um die (Un-)Heimlichkeit des kollegialen Gesprächs aufzulösen, will sie dieses unbedingt verstehen. So bezeichnet sie sich mit diesen zwei Rahmen als nichtverstehende Ausgeschlossene und bezichtigt dabei beide der Unhöflichkeit, obgleich beide sich woanders im Raum in ein Gespräch vertieft hatten. Doch das ist nur die Oberfläche, die diese Rahmen etablieren. Die subtilere Nachricht, die beide Nicht-Deutsch-Sprecher erhalten, ist ihre Deplatzierung aus dem deutschsprachigen Lehrer:innenzimmer und ihre Ermahnung zur Integration – geht es doch nicht an, den Klang des einsprachigen Schulraums mit Migrationsfetzen zu verunreinigen.

Das Verstehen-Wollen maskiert also diesen Platzverweis und dessen inhärente Integrationsforderung an diejenigen, die nicht die erwünschte Nationalsprache sprechen. Das eigene Nichtverstehen und Verstehen-Wollen ungefragt und daher machtvoll über die Sprachwahl anderer Sprecher:innen zu stellen, die sich nicht einmal im Gespräch mit der verstehen-wollenden Person befinden, ist eine Grenzüberschreitung. Sie wird von der Vorstellung darüber getragen, welche Sprachen unterbrochen werden sollen und dürfen. Hierin, also in der symbolischen Überschreibung der Privatsphäre und der Persönlichkeitsrechte der Sprechenden mit dem Migrationsdiskurs und der implizit aufgerufenen Frage danach, wieviel von den amtlich deutschsprachigen Ländern und Regionen noch deutsch bleibt, wenn Integration sich nicht höflich und lautlos genug vollzieht, eröffnet sich die Gewaltanwendung der Kollegin auf ihre Kollegen. Sie werden mit dem Verstehen-Wollen einer Kollegin zu Nichtdeutschen gemacht, zur migrantischen (Un-)Heimlichkeit degradiert und schlechthin zu ‚Diskurskörpern‘: Dies sind jene Körper im rassifizierenden Diskurs, auf die sich der Diskurs bezieht und sie als ‚(Noch-)Nicht-Deutsche‘ markierend in die ausstehende Aushandlung darüber, wieviel von diesen amtlich deutschsprachigen Ländern und Regionen noch übrigbleibt, einschließt. Diese Körper und ihre Sprecher:innen werden zu Objekten, über die man sprechen und entscheiden darf und muss, um die Ordnung zu erhalten.

Wenn Sprecher:innen mit dem Hinweis auf ihre Herkunft oder ihre Sprache Sanktionen und/oder Ausschlüsse, bzw. Marginalisierung erleben, sprechen İnci Dirim und Doris Pokitsch von Linguizismus (Dirim/Pokitsch 2018). Linguizismus ist eine Form des Rassismus, der auf Sprechhandlungen und Sprachen von bestimmten Sprecher:innen abzielt. Dabei werden diese Sprecher:innen durch die Differenzherstellung zur Normsprache kategorisierbar gemacht und von echter gesellschaftlicher Teilhabe mit Verweis auf die Normsprache ausgeschlossen. Linguizismus ist ein offen gewaltvoller Akt der faktischen Unterscheidung der Sprecher:innen zu ihrem eigenen Nachteil. Der subtile, aber nicht weniger gewaltvolle, sprachliche Rassismus „täuscht über Ausgrenzung und Unterdrückung hinweg und ist dadurch (…) gewissermaßen ‚hinterhältig‘ und schwer aufzudecken.“ (Dirim 2010: 96). Diesen versteckten sprachlichen Rassismus bezeichnet Dirim als Neo-Linguizismus. Er versteckt sich u.a. hinter Geboten, dass alle Deutsch sprechen wollen sollen, dass alle alle verstehen sollen oder dass Deutsch die gemeinsame Sprache aller ist. In diesen Geboten ist aber immer gemeint, dass andere Sprachen und Sprechweisen deplatziert und mit Blick auf die Gemeinschaft verboten sind.

Der Kollege, der wütend über das kollegiale Verbot seiner Sprache im Lehrerzimmer berichtete, war sich der Gewalt in der Ansprache der Kollegin bewusst. Dies macht er in seiner Antwort an die Kollegin sehr deutlich:

„(…) Da habe ich ihr gesagt: ‚Will ich denn, dass du mich verstehst?!‘, und ich habe mich umgedreht und mein Gespräch fortgeführt.“

Der von Neo-Linguizismus betroffene Kollege hat die Grenzverletzung und den Versuch des symbolischen Platzverweises durch seine Kollegin auf einer Beziehungsebene gelöst. Seine Antwort spricht von Selbstermächtigung und fordert eine Augenhöhe ein, die sie nicht wollte. Damit stellt er die (Un-)Heimlichkeit wieder her. Der Versuch der Kollegin, die undeutsch sprechenden Kollegen zu rassifizierten Diskurskörpern zu degradieren, wird mit dem sozioemotionalen Platzverweis auf Beziehungsebene quittiert. Ein Verstummen der unerwünschten Sprache findet nicht statt.

Die Antwort ist deswegen stark, weil sie die Deutungshoheit des Sprechenden über seinen Gesprächsraum wiederherstellt:

  1. Sie dekonstruiert die ungefragten Fremdzuschreibungen,
  2. bricht die Gewaltakte der Rassialisierung auf Beziehungsrelationen herunter und
  3. adressiert die Täterin als ein Subjekt, das in dem Versuch, Macht auszuüben, als Person grundsätzlich vor dem sprechenden Ich scheitern wird, weil es dessen Du nicht als Verstehenspartner:in anerkennt.

Literatur

Dirim, İ.; Pokitsch, D. (2018). (Neo-)Linguizistische Praxen in der Migrationsgesellschaft und ihre Bedeutung für das Handlunsgsfeld ‚Deutsch als Zweitsprache‘. In: OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie)-Themenheft: Phänomen ‚Mehrsprachigkeit‘: Einstellungen, Ideologien, Positionierungspraktiken, 93. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr, S. 13-32.

El-Tayeb, Fatima (2016): Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

Malonda (2023): Deutschungshoheit feat. Melane & Roger Rekless. In: Dies.: Mein Herz ist ein dunkler Kontinent (online).

Aslı Can Ayten

Aslı Can Ayten, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Mehrsprachigkeit in der Schule, Institut für Bildungsforschung, Bergische Universität Wuppertal, Deutschland. Forschungsschwerpunkte sind der Herkunftssprachliche Unterricht aus der Perspektive seiner Lehrkräfte, Translanguaging als Linguizismuskritik und Kommunikativer Konstruktivismus.

M Knappik

M Knappik arbeitet am Arbeitsbereich Mehrsprachigkeit in der Schule, Institut für Bildungsforschung, Bergische Universität Wuppertal, Deutschland. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Sprache und Sprachaneignung als ungleiche soziale Praxis, Mehrsprachigkeit in der Migrationsgesellschaft, Linguizismus- und Rassismuskritik in der Lehrer:innenbildung und (linguistische) Ethnographie.

Tags

  • Ask a Linguist

Citation

https://doi.org/10.57708/b148641089
Can Ayten, A., & Knappik, M. Ist Verstehenwollen rassistisch? . https://doi.org/10.57708/B148641089

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