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Atheistischer Alltagsaktivismus in Marokko

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Atheistischer Alltagsaktivismus in Marokko
Nicht immer findet Aktivismus im Rahmen großer Demonstrationen statt, sondern nimmt andere Formen an. Nichtreligiöser Aktivismus in Marokko gibt einen Einblick darauf.Credit: Badr Unsplash | All rights reserved

Wenn wir an Aktivismus denken, denken wir häufig an große Proteste und aufmerksamkeitserregende Aktionen. Manchmal ist diese Art von Aktivismus jedoch nahezu unmöglich, etwa wenn ein Thema Tabu ist, oder die politische Lage Aktivismus erschwert oder sogar kriminalisiert. Atheismus in Marokko ist ein Beispiel dafür.

Aktivismus birgt Risiken

In Marokko wollen oder können viele atheistische Menschen ihre Überzeugung nicht öffentlich zeigen, geschweige denn an aktivistischen Aktionen teilnehmen. Viele fürchten die sozialen und rechtlichen Konsequenzen, die nichtreligiöser Aktivismus für sie selbst und ihre Angehörigen mit sich bringt. Beispielsweise besteht das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, familiäre Bindungen zu brechen oder verbal angegriffen zu werden. Darüber hinaus steht das Äussern von Islamkritik unter Strafe. Nur sehr wenige Menschen engagieren sich deshalb in klassischen Formen des Aktivismus. Eine Ausnahme ist die MALI Bewegung. Diese Bewegung setzt sich seit 2009 durch zivilen Ungehorsam für mehr individuelle Freiheiten ein. Zum Beispiel organisieren sie während des Fastenmonats Ramadan mitten am Tag ein öffentliches Picknick, um so für das Recht einzutreten, in dieser Zeit öffentlich essen zu können.

Wunsch nach Veränderung

Obwohl die meisten nichtreligiösen Menschen in Marokko nicht an klassischen Protesten teilnehmen, teilen sie den Wunsch nach Veränderung. Auf rechtlicher Ebene gibt es mehrere Gesetze, die ihre Freiheiten einschränken. Da die Religionszugehörigkeit über den Vater weitergegeben wird, gilt jede Person mit einem muslimischen Vater automatisch als muslimisch, auch wenn sie selbst eine andere Überzeugung hat. De facto ist es dadurch offiziell unmöglich den Islam zu verlassen, da man seine Familienabstammung nicht einfach ändern kann. Hierdurch müssen sich auch nichtreligiöse Marokkaner und Marokkanerinnen an muslimische Gesetze halten, wie zum Beispiel, dass das öffentliche Essen während der Fastenzeit untersagt ist. Darüber hinaus muss die nichtreligiöse Minderheit nach islamischen Regeln heiraten, erben, und sich scheiden lassen. Islamischer Religionsunterricht ist ebenfalls Pflicht. Unter der Oberfläche von restriktiven Gesetzen und Normen gibt es jedoch einen Raum für nichtreligiöse Lebensstile, solange diese diskret bleiben.

Gesetze und Normen betreffen nicht alle gleich

Die Lage nichtreligiöser Menschen hängt sehr von ihrer individuellen Situation ab: In einem Viertel ist es kein Problem Alkohol zu trinken, in einem anderen Viertel wird man bereits schief angesehen, wenn man den Hund ausführt, da Hunde als unrein gelten. In einer Familie ist es in Ordnung, nichtreligiös zu sein, in einer anderen Familie wird jemand deswegen aus dem Haus geworfen. Gender, Sexualität und Klasse spielen ebenfalls eine Rolle in der Möglichkeit, nichtreligiös zu sein. Aufgrund genderspezifischer Stereotypen, wie etwa dem Vorurteil dass atheistische Frauen leicht zu haben seien, zögern viele Marokkanerinnen davor öffentlich atheistisch zu sein. Ähnlich führt die Zugehörigkeit zur LGBTQ+ Gemeinschaft zu einer doppelten Diskriminierung. Auch im Bezug auf Klasse gibt es groβe Unterschiede. Zum Beispiel haben manche die finanziellen Mittel, während des Ramadans in der eigenen Wohnung unbeobachtet zu essen oder sogar ins Ausland zu gehen, während für andere der Monat heimliches Essen auf der Toilette bedeutet. Diese Ungleichheit zeigt sich auch in Bezug auf Aktivismus: Eine finanziell unabhängige Person mit doppelter Staatsangehörigkeit hat zum Beispiel mehr Möglichkeiten, sich öffentlich für das Thema stark zu machen, wer so ein Auffangnetz nicht hat, geht größere Risiken ein. Im Allgemeinen scheint es jedoch eine Faustregel zu geben: Je offener (und aktivistischer) jemand nichtreligiös ist, desto mehr Widerstand und Probleme erfährt die Person.

Grenzen testen und Schlupflöcher finden

Aus diesem Grund testen die meisten atheistischen Personen in Marokko aus, wie weit sie gehen können ohne die gesellschaftlich festgelegten Grenzen zu überschreiten. Weil das Wort Atheismus als konfrontativ empfunden wird, sagen sie, dass sie „nicht so praktizierend sind” oder formulieren ihre Ansichten als Witz, um zu sehen, wie die gegenüberstehende Person reagiert. Viele umgehen das Problem auf sehr kreative Weise. Zum Beispiel ist eine gängige Ausrede für nichtreligiöse Marokkanerinnen, dass sie während des Ramadans sehr lange ihre Periode haben, da dies als legitimer Grund gilt, nicht fasten zu müssen. Ein anderes Beispiel sind Aafrae und Sven (Pseudonyme), die beide atheistisch sind und in Marokko heiraten wollten. Nach marokkanischem Familienrecht gilt Aafrae als muslimisch und kann daher nur einen muslimischen Mann heiraten. Sie kamen also nicht darum herum, dass Sven offiziell zum Islam konvertieren musste. Statt sich darüber zu ärgern, entschieden sie sich kurzerhand, die Konversion am 1. April durchzuführen und so einen Scherz daraus zu machen. Wenn viele Menschen in ihrem Alltag Regeln brechen, werden Handlungen, die sonst als verpönt oder sogar illegal gelten würden, langsam normalisiert. Dies bestätigt auch Mouad (Pseudonym), ein 25-jähriger Atheist aus Rabat:

“Aktivismus ist großartig, aber ich würde mich selbst nicht daran beteiligen. Ich mache meine eigenen Sachen, ich rede mit Leuten und verstecke meine Meinung nicht. Die Leute denken vielleicht schlecht über Atheisten, aber wenn sie jemand Freundlichen wie mich treffen, vergessen sie ihre Vorurteile. Sie stellen fest, dass Atheisten eigentlich normal sind.“

Mouad

Keine Bewegung, aber trotzdem Aktivismus

Obwohl die meisten atheistischen Personen sich aufgrund der Sensibilität des Themas nicht an klassischen Formen des Protests teilnehmen, tragen sie zur Normalisierung des Themas bei. Asef Bayat (2013) hat in seinem Buch Life as Politics dieses Phänomen als „Nicht-Bewegung“ beschrieben. Sein Konzept bezieht sich auf die fragmentierten, aber ähnlichen Aktivitäten einer großen Anzahl von „gewöhnlichen“ Menschen, die Veränderungen bewirken, obwohl diese Praktiken selten von einer offiziellen Ideologie geleitet oder von Führungspersonen gelenkt werden. Der öffentliche Raum spielt dabei eine große Rolle. Alltägliche Orte wie Taxis, Cafés, und Hanuts (Läden) sowie Online-Räume wie Facebook bieten die Möglichkeit, Gefühle und Meinungen zu teilen. In der relativ sicheren und, teils anonymen Online-Welt widersprechen viele der gängigen Idee, dass jede Person in Marokko muslimisch ist. Diese Art des Aktivismus ist sanfter als klassische Formen des Aktivismus. Sie wird daher oft nicht einmal von den Akteuren und Akteurinnen als Aktivismus anerkannt. Es gibt jedoch Ausnahmen, wie Rachid (Pseudonym), ein 21-jähriger Atheist aus Casablanca. Er bricht sehr bewusst Tabus, um zu ihrer Normalisierung beizutragen. Er beschreibt es so:

„Für mich ist Aktivismus, wenn ich während des Ramadans bei einer roten Ampel mit dem Auto stehen bleibe und mich jemand anschaut und ich einfach meine Zigarette rauche.“

Rachid

Alltagsaktivismus

Auch durch Kleidung, Essen und Dating Präferenzen können atheistische Lebensstile im Alltag zum Ausdruck gebracht werden. Viele trinken Bier, kosten Schweinefleisch oder gehen auf Dates. Obwohl es natürlich keinen festen atheistischen Kleidungscode gibt, kann Kleidung ebenfalls eine Möglichkeit sein, mit religiösen Normen zu brechen. Zum Beispiel durch Tätowierungen, Piercings oder zerissene Jeans. Wie die Bewegung der Moroccan Outlaws zeigt, sind Atheisten und Atheistinnen aber nicht die einzigen, die nicht alle Gesetze und Regeln befolgen. Viele Muslime wünschen sich ebenfalls mehr Freiheit.

Der alltägliche Aktivismus der nichtreligiösen Minderheit in Marokko nimmt also sehr unterschiedliche Formen an, die zur Normalisierung des Nichtbefolgens religiöser Normen und Praktiken beitragen. Während einige argumentieren würden, dass diese Art von Alltagsaktivismus nur langsam etwas bewirkt, schafft dieser Aktivismus langfristig neue Räume für politische und rechtliche Veränderungen. Er ist außerdem zugänglicher für jene Atheisten und Atheistinnen, die vor klassischem Aktivismus zurückschrecken würden. Im Gegensatz zu Protesten ist Alltagsaktivismus darüber hinaus schwieriger durch Autoritäten zu kontrollieren, denn in der Regel wird niemand für ein Tattoo oder einen atheistischen Witz verhaftet. Alles in allem streben verschiedene Formen des Aktivismus, online und offline, laut und leise, nach mehr Freiheiten und danach, dass Atheismus in Marokko weniger tabuisiert wird. Hierbei ist Alltagsaktivismus eine häufig übersehene aber wichtige Form des Aktivismus. In diesem Sinn, appelliert Hind (Pseudonym) aus Agadir, für diverse Formen von Aktivismus, auch ausserhalb von sozialen Medien und Großstädten:

„Menschen, die an Demonstrationen teilnehmen, erreichen eine andere Zielgruppe, als Menschen, die den Dialog suchen oder diejenigen, die online etwas posten. Wenn jede Person auf ihre Weise tut, was sie kann, können wir etwas bewirken. Denn es gibt immer noch Menschen, die denken, dass es keine Atheisten in Marokko gibt.“

Hind

Dieser Blogbeitrag basiert teilweise auf einem Interview über mein Forschungsprojekt, welches in der ZemZem Zeitschrift im Juni 2023 erschienen ist. Diese Version wurde geändert und vom Niederländischen ins Deutsche übersetzt.

Lena Richter

Lena Richter

Lena Richter promoviert derzeit an der Radboud Universität in Nijmegen (Niederlande) und ist als Gastforscherin am Institut für Minderheitenrecht von Eurac Research in Bozen (Italien) tätig. Mit einem Hintergrund in Anthropologie und Migrationsstudien und einer regionalen und sprachlichen Spezialisierung auf den Maghreb, hat sie an mehreren EU-Forschungsprojekten teilgenommen, darunter zuletzt am Marie Skłodowska-Curie ITN-Projekt "Mediating Islam in the Digital Age". Ihre Forschungsarbeit über die nichtreligiöse Minderheit in Marokko wurde mit dem Christine-Mohrmann-Preis ausgezeichnet. Neben ihrer Forschungstätigkeit hält sie regelmäßig in den Niederlanden und Marokko Vorlesungen zu Themen wie Migration, Aktivismus und virtueller Ethnografie.

Tags

  • Migration Issues

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