Essen auf Rädern – der Beitrag von Südtirols Lebensmittelgroßhändler zu einem nachhaltigen Ernährungssystem
Ernährungssicherheit und nachhaltige Ernährungssysteme gehen weit über die (landwirtschaftliche) Produktion von Nahrungsmitteln hinaus. Nicht nur PrimärproduzentInnen und VerbraucherInnen gestalten das Ernährungssystem. Die Wirtschaftsakteure in der „Mitte“ der Wertschöpfung – Verarbeitung, Handel und Gastronomie – beeinflussen die gesamte lokale Lebensmittelversorgungskette mit. Diese agieren nicht isoliert, sondern sind in ein komplexes Netzwerk von sozialen Interaktionen und Interdependenzen eingebettet.
Im Rahmen des Forschungsprojektes NEST (Nachhaltiges Ernährungssystem Südtirol) des Instituts für Regionalentwicklung von Eurac Research spielt der Großhandel im Ernährungssystem eine zentrale Rolle. Er fungiert als Bindeglied, ist auf Logistik und Vermarktung spezialisiert und ermöglicht eine flexible Beschaffung, sowie die Gewährleistung von Qualität und Quantität für die Gastronomie. Rückkopplungsschleifen des Großhandels ermöglichen eine spezifische Ausrichtung der Produktion, während Skaleneffekte nachhaltige Logistikpraktiken fördern können, wie etwa standardisierte Mehrwegverpackungen. NEST untersucht, wie das Ernährungssystem in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol ökologischer, fairer und regionaler gestaltet werden kann. In diesem Zusammenhang wurden 78 Interviews innerhalb des Südtiroler Nahversorgungssystems geführt, darunter fünf Großhandelsbetriebe und fünf Genossenschaften. Für diesen Blogbeitrag fand zudem ein Gespräch mit Werner Gramm, Präsident der Großhändler im Verband für Handel und Dienstleister (hds), statt.
Der Südtiroler Großhandel ist weit mehr als nur logistischer Knotenpunkt. Er besteht aus zentralen Akteuren beim Aufbau eines nachhaltigen und resilienten Lebensmittelsystems. Ihre logistische Kompetenz ermöglicht es der lokalen Produktion, sich auf ihre Kernaufgaben zu spezialisieren. Der Großhandel bündelt Produkte und Lieferungen, wodurch Lebensmitteltransporte und Emissionen, sowie andere Externalitäten wie Verschleiß, Verkehrsaufkommen und persönliche Risiken deutlich reduziert werden. Gleichzeitig verbessert die Zentralisierung die Übersicht über die Verfügbarkeit von Produkten für den Einzelhandel, die Gastronomie und den privaten Verbrauch.
Der Südtiroler Großhandel beginnt, umweltfreundliche Praktiken wie Mehrwegverpackungen einzuführen und regionale und biologische Produkte zu fördern. Der Erfolg solcher Praktiken vor Ort hängt jedoch stark von der Anzahl der teilnehmenden Betriebe ab. Diese Zahl verspricht in der Provinz Bozen noch ein großes Wachstumspotenzial.
Die Nachhaltigkeit der verkauften Produkte lässt sich jedoch nicht nur daran messen, wo sie produziert wurden. Wichtiger als das „Wo“ ist den Großhändlern in unseren Interviews einhellig das „Wie“ der Lebensmittelproduktion. D.h. welches Produkt angeboten wird und woher es kommt, ist in der Diskussion weniger ausschlaggebend als ökologische Themen oder organisatorische Punkte wie Menü- und Anbauplanung oder Lieferfrequenz. Diese können sich positiv auf die Ökobilanz eines Produktes auswirken. Dazu haben Restaurants oft Schwierigkeiten, sich ausschließlich auf lokale Produkte zu verlassen, da das Angebot zu gering und die Kosten (noch) zu hoch sind. Eine intelligentere Logistik kann hier einen Unterschied machen, erfordert allerdings eine gute Planung und möglicherweise Anreize für nachhaltig agierende Unternehmen.
Viele Gastronomiebetriebe haben kaum noch Lagerflächen, da ehemalige Kellerräume heute zu Wellnessbereichen umgebaut werden, was höhere Lieferfrequenzen und kleinere Liefervolumina bedeutet.
Werner Gramm
Doch wie Werner Gramm vom Handels- und Dienstleistungsverband Südtirol im Interview betont, sieht die Realität anders aus. Viele Gastronomiebetriebe haben kaum noch Lagerflächen, da ehemalige Kellerräume heute zu Wellnessbereichen umgebaut werden, was höhere Lieferfrequenzen und kleinere Liefervolumina bedeutet. Bestrebungen, die Lieferungen zu reduzieren - etwa durch die erwähnten Anreizsysteme wie Bonusprogramme - stellen den Großhandel vor wettbewerbliche Herausforderungen. KundInnen können einfach zu flexibleren Großhändlern wechseln. Zusätzlich erschweren Regulierungen, wie z.B. Beschränkungen für LKWs in städtischen Gebieten zum Wohle der Anwohner, die Rationalisierungsbemühungen in der Logistik. Die Umweltvorteile größerer, aber weniger Lieferungen wären jedoch gegeben.
Gramm weist auf die zunehmende Notwendigkeit hin, Verpackungsabfälle, insbesondere Kunststoffabfälle, zu reduzieren. Obwohl die EU nachhaltige Alternativen fördert, sind diese oft teurer und komplizierter in der Umsetzung. Die verarbeitende Industrie ist mit einer gewissen Pfadabhängigkeit konfrontiert, die den Umstieg auf wiederverwertbare oder Mehrwegverpackungen finanziell erschwert. Dies gilt insbesondere für Produkte, die zwingend in einer eigenen Verpackung geliefert werden müssen. Als Beispiel wurde Joghurt genannt, das in Südtirol ein dominierendes Produkt ist. Drei Millionen Becher werden täglich produziert . Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zwischen nachweislich nachhaltigem Handeln und praktischen Anforderungen zu finden. Ein verstärktes Angebot regionaler und nachhaltiger Produkte in der Südtiroler Gastronomie wird zusätzlich durch das Ungleichgewicht zwischen der begrenzten Produktionskapazität und -vielfalt der Südtiroler Landwirtschaft und der schwankenden Nachfrage aus der Gastronomie erschwert. Zertifikate wie Bio oder Fair Trade sind in der Theorie für die KundInnen attraktiv, werden jedoch nicht immer priorisiert. Denn trotz einer zunehmend positiven Einstellung zu nachhaltigen Lebensmitteln handeln die KonsumentInnen nicht entsprechend. Dieses Phänomen wird als "Attitude-Intention-Behavior Gap" bezeichnet . Die Kluft zwischen den gewünschten Nachhaltigkeitszielen und den logistischen Realitäten ist noch groß, aber nicht unüberwindbar. Eine enge Zusammenarbeit entlang der gesamten Supply Chain sei notwendig, um die Transformation gemeinsam zu meistern, so Gramm.
Er betont, dass die Großhändler sich anpassen werden, sobald die KundInnen kreative Nachhaltigkeitskonzepte dem bequemen Business as usual vorziehen. Die Logistik balanciert also weiterhin im Spannungsfeld zwischen Nachhaltigkeit und Kundenwünschen. Unsere Befragungen zeigen jedoch, dass einzelne Großhändler und Genossenschaften bereits intern - und freiwillig - Nachhaltigkeitsmaßnahmen abseits des Produkts ergreifen. Diese Maßnahmen können auf alle anderen Akteure im Ernährungssystem übertragen werden. Der Großhandel ist unbestreitbar der größte Akteur in diesem Netzwerk, was nicht bedeutet, dass die kleineren keine Selbstwirksamkeit besitzen. Letztlich entscheiden auch wir mit unserem heutigen Einkaufsverhalten zu einem (wenn auch kleinen) Teil darüber, welche Produkte morgen auf den Tellern, in den Regalen und auf den Feldern Südtirols zu finden sein werden.
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