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Das Rezept des „Lemonpai“
Oder das Rezept, um eine Minderheitensprache wie das Bersntolerische am Leben zu erhalten
Um eine Sprache am Leben zu erhalten, muss man ihren Wert anerkennen und sie in ihrer historischen und kulturellen Besonderheit bewahren, vor allem aber muss man sie – und das ist in gewisser Weise paradox – voller Zuversicht für die Einflüsse von außen öffnen, damit sie wachsen und auf der Höhe der Zeit bleiben kann. Dies gilt insbesondere für Minderheitensprachen – wer Bersntolerisch spricht, weiß das seit Jahrhunderten.
Die Geschichte erzählt, dass Anfang des 20. Jahrhunderts eine Frau nach Palai, ihr Heimatdorf in einem Nebental im Trentino, zurückkehrte, aus dem sie viele Jahre vorher nach Amerika ausgewandert war. Sie hatte als Köchin in Kalifornien gearbeitet. Außer ihrem Ersparten brachte sie noch einen Schatz mit nach Hause: das Rezept eines Mürbteigkuchens, der mit Zitronencreme gefüllt und mit Baiserhäubchen bedeckt war – das Rezept für Lemon Pie. Die Dame backte den Kuchen für ein Dorffest, und alle waren derart begeistert, dass der Lemon Pie mit seinem leicht exotischen Geschmack bald der beliebteste Kuchen für Feste jeder Art war. Doch während er zum dorftypischen Gebäck wurde, erfuhr der Lemon Pie noch eine andere grafische Verwandlung: Aus zwei Wörtern wurde eines und aus „Pie“ wurde „Pai“ mit A, so wie es tatsächlich ausgesprochen wird, um sich an die Schreibweise der in Palai gesprochenen Sprache anzupassen: „Bersntolerisch“ (auch „Fersentalerisch“ oder „Mochenisch“ genannt).
Der Lemonpai war nicht mehr eine importierte Delikatesse, er war tatsächlich Fersentalerisch geworden.
Der Lemonpai war auch eine Strategie zum Erhalt der Sprache.
Zwischen Aufgeben und der Versuchung, sich abzuschotten
Wenn die Sprache, mit der jemand aufwächst, von kaum mehr als tausend Menschen gesprochen wird, ist die Versuchung groß, sie aufzugeben. Dem Bersntolerischen, einer Sprache germanischen Ursprungs, die im oberen Fersental im Trentino gesprochen wird, ist genau dies widerfahren, mehr als das halbe 20. Jahrhundert lang. Zum Teil wegen der faschistischen Unterdrückung in der Öffentlichkeit, zum Teil, weil es im Austausch in der Nachbarschaft mit italienischsprachigen Personen anderer Gemeinden praktischer war, wurde das Bersntolerische aufgegeben, bis es fast verschwand.
„Die Kodifizierung ist notwendig, um sich des eigenen Erbes bewusst zu werden und über die grundlegenden Werkzeuge zu verfügen; aber ich sage immer: Lernt die Regeln und redet dann zu Hause, wie ihr wollt“
Lorenza Groff
Durch die Initiative einzelner Persönlichkeiten wie Jakob „Jakel“ Hofer, Pfarrer von Florutz/Vlarotz, der in den 1970er Jahren von Hand ein erstes Wörterbuch zusammenstellte, und weil die Autonome Provinz Trient aktiv wurde, änderte sich langsam etwas. Im Jahr 1987 wurde ein erstes Kulturinstitut gegründet, und seit 2006 regelt ein Gesetz den Unterricht der lokalen Sprache in den Schulen der deutschsprachigen Gemeinden im Trentino. Rein politische Initiativen?
„Kulturzentren sind hilfreich, weil damit die Würde eines sprachlichen und kulturellen Erbes anerkannt wird; vor allem aber muss die Sprache leben, sie muss jeden Tag verwendet werden“, unterstreicht Lorenza Groff, Mitarbeiterin des Bersntoler Kulturinstituts und Schöpferin des Lemonpai auf dem Foto zu Beginn des Artikels.
Mit Sicherheit; denn wenn die Sprache, mit der jemand aufgewachsen ist, von kaum mehr als tausend Menschen gesprochen wird, kann auch die Versuchung groß sein, sich hinter festgefahrenen Normen und archaischen Bräuchen zu verschanzen. Als Anfang der 2000er Jahre begonnen wurde, die Grammatik der Sprache und insbesondere das Schriftsystem zu vereinheitlichen, wobei den Akzenten und den Regeln für den Satzbau große Aufmerksamkeit galt, gab es heftige Diskussionen in den Gemeinde- und Universitätssälen, in denen sich die Arbeitsgruppen trafen. Das Ergebnis war eine einzige Kodifizierung für alle drei Varietäten des Bersntolerischen; jedes der drei Hauptdörfer, in denen die Sprache im 13. Jahrhundert entstanden ist, hat nämlich seine eigene Varietät: Palai/Palae, Florutz/Vlarotz und Gereut/Garait.
„Die Kodifizierung ist notwendig, um sich des eigenen Erbes bewusst zu werden und über die grundlegenden Werkzeuge zu verfügen; aber ich sage immer: Lernt die Regeln und redet dann zu Hause, wie ihr wollt“, erklärt Groff, die das Bersntolerische erst als Erwachsene lernte, weil ein Kollege sie mit seiner Leidenschaft ansteckte. „Jede Familie kann ihre eigene Art finden – wichtig ist, dass wir sprechen. Selbst den Preis, neue Wörter aus dem Italienischen, Englischen oder einer deutschen Varietät einzuführen, muss man zahlen, um die Sprache am Leben zu erhalten.“
Um sich für eine Nachricht auf Whatsapp zu bedanken, schreibt Groff daher: gèltsgott ver en messaggio. Während das erste Wort eine Abkürzung des alten, im süddeutschen Raum verbreiteten Ausdrucks Vergelte es Gott ist, stellt das letzte Wort offensichtlich eine aktuelle Entlehnung aus dem Italienischen dar.
„Alle Sprachen entwickeln sich, treffen aufeinander, beeinflussen sich gegenseitig“, sagt die Linguistin Sabrina Colombo von Eurac Research, die sich seit Jahren mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik beschäftigt. „Auch wenn eine Minderheitensprache mehr Schutz und Aufmerksamkeit braucht, ist sie eine Sprache wie jede andere und verhält sich auch so.“
Der Wert jeder Sprache
Wie viele Sprachen spricht ein Mensch im Durchschnitt? Sie sind an einer Hand abzählbar. Wie viele Sprachen kann ein Mensch im Durchschnitt aufzählen? Vielleicht fünfzig. Tatsächlich gibt es weltweit etwa 7.000 Sprachen; die meisten werden von Minderheiten gesprochen, wie etwa Bersntolerisch, Aleutisch (in Alaska), Irisch-Gälisch oder Arbëresh.
„Auch eine Sprache, die nur von wenigen Menschen gesprochen wird, hat einen Wert.“
Sabrina Colombo
„Sprachen verkörpern eine Kultur und eine Reihe von Werten, und wenn sie nicht gesprochen werden, zum Beispiel in der Schule, ist es für die Menschen schwierig, den Schatz zu erkennen, den sie in sich tragen“, sagt Colombo. „Die Zahl der Sprecherinnen und Sprecher ist kein ausreichender Grund, um die jeweils bequemste Wahl zu rechtfertigen. Auch eine Sprache, die nur von wenigen Menschen gesprochen wird, hat einen Wert. Und den gegenseitigen Einfluss zwischen mehreren Sprachen anzuerkennen und zu fördern, ist sicherlich bereichernd.“
„Ich glaube fest an den kollektiven Wert einer Sprache", sagt Lorenza Groff: „Mein Mentor Leo Toller (Historiker am Bersntoler Kulturinstitut) redete mit mir auf Bersntolerisch, sagte aber: ‚Du antwortest, wie du willst.‘ So habe ich die Sprache gelernt: durch Zuhören, durch das Mischen von Wörtern, indem ich mich ihr langsam angenähert und mir altes Wissen zu eigen gemacht habe. Jetzt spreche ich mit meiner Tochter auf Bersntolerisch, was man mit mir in meiner Familie nicht getan hat. Und ich hoffe sehr, dass in Zukunft allen Sprachen die gleiche Würde zuerkannt wird.“
Workshops für Schulen in Südtirol
Im Frühjahr 2023 haben das Institut für Angewandte Sprachforschung von Eurac Research und das Bersntoler Kulturinstitut Workshops für Mittel- und Oberschulen konzipiert und organisiert. 90 Minuten lang beschäftigten sich die Klassen mit einem riesigen Brettspiel, bei dem es galt, Fragen über die bersntolerische Sprache und andere Sprachen der Welt zu beantworten, und konnten in verschiedenen Aktivitäten ihr Sprachgefühl auf die Probe stellen. Das Angebot wurde so begeistert angenommen, dass über eine Fortführung nachgedacht wird.
Informationen zu den Workshops und Unterrichtsmaterialien zum Thema Mehrsprachigkeit finden Sie auf der SMS-Projektseite.
Für einen informativen Überblick über die Mehrsprachigkeit in Südtirol: Dossier Mehrsprachigkeit.