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Die Vermessung des Winters

Wieviel Schnee ist in einer Saison gefallen? Um wieviel sind die Schneehöhen in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen? Die Forschung gibt immer genauere Antworten

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Messungen im Südtiroler Schnalstal.

Credit: Eurac Research | Peter James Zellner/Riccardo Barella

Peter James Zellner/Riccardo Barella
by Barbara Baumgartner

Die vergangenen Monate gehörten in Südtirol zu den schneereichsten seit Beginn der Aufzeichnungen. Langfristige Studien aber zeigen: Der Schnee wird weniger, mit weitreichenden Folgen für Wintertourismus und Wasserhaushalt. Forscher gewinnen ein immer genaueres Bild dieser Entwicklung – und arbeiten an neuen Methoden, die gefallene Menge zu erfassen.

Der Mathematiker Michael Matiu ist im Januar 2017 nach Südtirol gezogen, erlebt also gerade seinen fünften Winter hier. Es ist schon der zweite mit ungewöhnlich starken Schneefällen. Im November 2019 waren Teile des Eggentals, wo er wohnt, eine Woche lang ohne Internet und Telefon. Darin liegt eine gewisse Ironie: Seit Matiu, Spezialist für Klima-Statistiken, am Institut für Erdbeobachtung von Eurac Research forscht, befasst er sich intensiv mit den abnehmenden Schneemengen in den Alpen. Gerade hat er mit Kollegen eine große Studie abgeschlossen, für die die Schneehöhen an 800 Messstationen im Alpenraum seit 1971 ausgewertet wurden. Unterhalb von 2000 Metern hat die Schneehöhe in diesem Zeitraum an den meisten Standorten abgenommen (oberhalb gibt es eine große Bandbreite an Beobachtungen, aber zu wenige Messstationen, um anhand der Daten ein zuverlässiges Bild zu zeichnen). In den südlichen Alpen, ohnehin weniger schneereich, sind die Schneehöhen auch noch stärker zurückgegangen als im Norden. Aus der Perspektive des Forschers passen diese Ergebnisse und der gerade mit viel Schlittenfahren verbrachte Winter durchaus zusammen: „Schnee besitzt, gerade im komplexen hochalpinen Gelände, eine sehr hohe räumliche und zeitliche Variabilität. Das große Bild wird nur sichtbar, wenn man die Daten über einen langen Zeitraum analysiert.“

In den dichtbesiedelten Alpen kann man das: Es gibt es eine lange Tradition der Schneebeobachtung, und so verfügt die Forschung über wichtige Messreihen. Die längsten reichen ununterbrochen fast hundert Jahre zurück. Vom Schneelabor auf dem Schweizer Weissfluhjoch existieren lückenlose Aufzeichnungen seit 1936, in Italien gehört die historische Schneemessreihe am Mont Cenis, begonnen 1939 und fortgesetzt bis 2014, zu den längsten. Über den ganzen Alpenraum zieht sich ein Netz von Beobachtungspunkten, an denen seit Jahrzehnten jemand vom Herbst bis in den Frühling hinein täglich mit dem Zollstock die Schneehöhe misst. In Südtirol begannen umfangreiche manuelle Messungen 1981, von 28 Stationen gibt es mehr oder weniger vollständige Datenreihen, die bis zu diesem Jahr zurückreichen. Sie ergeben ein für die südlichen Alpen charakteristisches Bild: Im Winter sind die Schneehöhen vor allem unterhalb von 1500 Metern zurückgegangen, zwischen 1500 und 2000 Metern halten sich Zu- und Abnahmen in etwa die Waage. Im Frühling ist die Veränderung am deutlichsten: An den meisten Standorten verschwand der Schnee im Mittel im letzten Monat der Schneesaison. Im April liegt jetzt unterhalb von 1500 Metern im Schnitt kein Schnee mehr, während vor 40 Jahren in Ortschaften wie Sexten oder Pens noch 7 – 24 cm üblich waren.

Natürliche Schneekristalle sind filigrane Kunstwerke, die in unendlicher Vielfalt auf der Reise durch die Atmosphäre entstehen. Technischer Schnee besteht aus gefrorenen Wassertropfen.

Dahinter steckt natürlich der Klimawandel: Der Schnee kommt später, ist früher wieder weg, in tieferen Lagen fällt Winterniederschlag vermehrt als Regen. Doch obwohl es künftig im Mittel weniger Schnee geben wird, sind Schneeextreme dennoch zu erwarten. Weil sich durch den Klimawandel sowohl die Luft-, als auch die Wassertemperaturen erhöhen, kann die Luft mehr Feuchtigkeit aufnehmen und Niederschläge, ob als Regen oder Schnee, können damit intensiver werden. Wie wahrscheinlich solche künftigen Extreme sind, und wie stark sie ausfallen werden, lassen sich jedoch mit der heutigen Generation von Klimamodellen nicht prognostizieren, erklärt Matiu. Genauso wenig kann man derzeit genau beantworten, welche Folgen der Klimawandel für die Skigebiete haben wird: Dafür bräuchte man explizite Schneemodellierungsstudien, die lokale klimatische und topografische Effekte berücksichtigen, und solche Studien gibt es für Südtirol bislang nicht. Nach derzeitigem Wissenstand ist es unwahrscheinlich, dass die Saison in der aktuellen Länge aufrechterhalten werden kann. Dazu kommt die Frage nach dem ökonomischen und ökologischen Preis. Denn am Naturschnee hängt der Skitourismus ja schon lange nicht mehr: Nach ein paar ausgesprochen schneearmen, verlustreichen Wintern Ende der 1980er Jahre, fing die Skiindustrie an, technischen Schnee nicht mehr als Notnagel zu begreifen, sondern flächendecken als Notwendigkeit. Heute können in Südtirol 90% der Pistenflächen mit technischem Schnee beschneit werden – die kleinen, gefrorenen Wassertropfen („Schnee würde ich das Zeug nicht nennen“ ist der bekannte Ausspruch eines amerikanische Meteorologen) haben zwar wenig gemein mit den filigranen Kristallkunstwerken, wie sie in unendlicher Vielfalt auf der Reise durch die Luftschichten entstehen, aber als Pistenunterlage tun sie ihren Dienst sogar besser als natürlicher Schnee. Die Wünsche der Wintersportler zu erfüllen ist also möglich, auch wenn die Landschaft ringsum nicht nach Winter aussieht. Aber es wird teurer – selbst wenn man davon ausgehen kann, dass technischer Fortschritt die Schneekanonen effizienter macht. Tiefer gelegene Gebiete könnten so an die Grenzen ihrer Wirtschaftlichkeit kommen, unter anderem wegen des steigenden Strom- und Wasserverbrauchs, wie Studien für Österreich und die Schweiz ihn prognostizieren. Außerdem hängt es von günstigen Wetterbedingungen ab, ob bei ausbleibendem Schnee rechtzeitig zur wichtigen Weihnachtssaison ausreichend technischer Schnee produziert werden kann, und solche Bedingungen werden mit den Klimaveränderungen seltener werden. Forscherkollegen von Matiu arbeiten im EU-Projekt PROSNOW an Tools für maßgeschneiderte Schneemodellierungen mit meteorologischen Vorhersagen, um den optimalen Beschneiungszeitpunkt zu bestimmen und dadurch Ressourcen zu schonen und Geld zu sparen.

Die bange Frage „Was wird aus dem Winter?“ lässt uns oft vergessen, wie wichtig der Schnee im Frühling und Sommer ist, wenn die Vegetation das Wasser aus der Schmelze braucht.

Doch je mehr sich der Wintertourismus von den natürlichen Voraussetzungen loslöst, desto kontroverser wird auch die Diskussion um ihn werden, weiß Matiu. Sie ist schon heute kontrovers genug: Die einen plädieren angesichts der abnehmenden Schneemengen für ein grundsätzliches Umdenken, anstatt den Klimawandel durch den Wintertourismus noch weiter anzuheizen (fast alle Skiurlauber reisen im Auto an); die andere malen das Schreckensbild öder Talschaften, von den Bewohnern verlassen, weil sie kein Auskommen fanden. Matiu ist eher selten auf Piste, hat aber im Alltag in Eggen deutlich vor Augen, was der Wintertourismus unabhängig von Geld bringt: offene Bars und Geschäfte zum Beispiel. Ihm sei das bewusster als den meisten Einheimischen, glaubt er, weil er in Bayern eine Zeitlang in einem Dorf vergleichbarer Größe und Ländlichkeit aber ohne Tourismus lebte: „Da gab es absolut nichts.“

Was mit dem Schnee passiert, ist im allgemeinen Bewusstsein in etwa gleichbedeutend mit der bangen Frage: Was wird aus dem Winter? Wie wichtig der Schnee für den Frühling und Sommer ist, haben wir dagegen viel weniger im Blick, bemerkt Matiu. „Die Bedeutung für den Wasserhaushalt, und damit für die Landschaft, aber auch für die Energiegewinnung, das alles gerät oft in den Hintergrund. Aber hier haben die Veränderungen der Schneeverhältnisse tiefgreifende und weitreichende Folgen.“ Schnee speichert Wasser im Winter und gibt es im Frühling und Sommer frei, wenn Vegetation und Landwirtschaft den größten Bedarf haben. Wenn nun weniger Schnee fällt und er auch noch früher schmilzt, kann es zu Dürren kommen – in Südtirol und flussabwärts. Die Wasserverfügbarkeit für die Energiegewinnung ändert sich ebenso. Für ein nachhaltiges Wassermanagement wird es deshalb immer wichtiger werden, möglichst genau zu wissen, mit wieviel Wasser aus der Schneeschmelze zu rechnen ist. Auch damit befassen sich Forscher von Eurac Research in einem großen europäischen Projekt (Alpsnow): Mit Hilfe von Satellitentechnologie entwickeln sie eine Methode zur Schneehöhenmessung, die die Einschränkungen der manuellen Messung – die nur punktuell Auskunft gibt, aufwendig und mit Risiken verbunden ist – überwindet. Ziel ist es, die Schneemenge, und entsprechend dann das enthaltene Wasser, das sogenannte Schneewasseräquivalent, möglichst genau zu bestimmen. Was letztlich vom Winter übrigbleiben wird, hängt ganz davon ab, wie schnell wir die Erwärmung stoppen. Matiu hat das auf eindrucksvollen Karten des Alpenbogens dargestellt: Einmal zeigen sie aus Satellitendaten den aktuellen Schneebedeckungsgrad, gegenübergestellt sind Szenarien, wie Klimamodelle sie je nach Klimaschutzmaßnahmen für Ende des Jahrhunderts entwerfen. Tun wir nichts, erscheint ein großer Teil der heute weiß leuchtenden Bereiche in einem dunklen Grün – der Farbton steht für Rückgänge von 40 Prozent.

Mehr zu dem Thema im Dossier Schnee, das sich besonders mit den Entwicklungen in Südtirol und im Alpenraum befasst.

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