magazine_ Interview
Die Vorbereitung ist das eigentliche Abenteuer
Die Extremsportlerin Anja Blacha und der Experte für Klimarisiko Stefan Schneiderbauer im Gespräch
In Nordkanada,bei ihrer Polarexpedition von Cambridge Bay nach Gjoa Haven
Credit: Anja Blacha | All rights reserved
Bei ihren Expeditionen bricht Anja Blacha Rekorde. Bei der Analyse von Klimarisiken in Berggebieten weltweit bricht Stefan Schneiderbauer die Lanze für mehr Prävention. Wir haben die beiden an einen Tisch gebeten, um über Resilienz, Verantwortung und den Reiz des unbezwingbaren Bergs zu sprechen.
Frau Blacha, Sie waren 2017 als jüngste deutsche Frau auf dem Mount Everest, haben in den Folgejahren alle Seven Summits bezwungen und sind 2020 als erste Frau auf Langlaufskiern, einen Schlitten hinter sich herziehend, in 60 Tagen von der Küste der Antarktis zum Südpol gegangen. Was reizt sie an solchen Extremabenteuern?
Anja Blacha: Der Spaß an der Freude. Es geht mir gut da draußen. Es ist ein guter Ausgleich zum Büro. Ich bin kein Mensch, der gern im Kreis läuft. Ich habe lieber ein Ziel vor Augen, auf das ich hinarbeiten kann. Und es reizt mich, mir in meinem Handeln selbst ausgesetzt zu sein.
Das Bewusstseins, sich selbst in seinem Handeln ausgesetzt zu sein, scheint in der Gesellschaft noch unzureichend verankert, wenn es um Klimarisiko und Naturgefahrenmanagement geht. Kann ich hier Parallelen ziehen, Herr Schneiderbauer?
Stefan Schneiderbauer: Im Vergleich zum individuellen Bergsteigen ist man beim Klimarisiko nicht sich selbst ausgesetzt, sondern einer komplexen Verkettung von Ereignissen und Entscheidungen. Der Klimaschutz hat eine globale Dimension und die Klimaanpassung eine regionale. Dennoch finde ich Anjas Aussage auf individueller Ebene treffend: Handeln hat eine Auswirkung. Nur spüre ich sie im Klimakontext nicht so direkt wie am Berg oder in der Antarktis.
Blacha: Ich muss den Bezug nur herstellen. Wenn ich weiß, dass der CO2-Ausstoß eines Flugs von Deutschland nach Spanien zwei Quadratmeter arktisches Eis schmelzen lässt, überlege ich mir zweimal, zu fliegen, wenn ich auch in Zukunft über Eis gehen möchte.
Wenn ich weiß, dass der CO2-Ausstoß eines Flugs von Deutschland nach Spanien zwei Quadratmeter arktisches Eis schmelzen lässt, überlege ich mir zweimal, zu fliegen.
Anja Blacha
Das mag für Sie gelten, aber nicht für einen Couch-Potato.
Blacha: Dann ein anderes Beispiel – es geht zwar wieder von meiner Erfahrung aus, lässt sich aber auch auf Couch-Potatoes übertragen. Bei meiner Antarktis-Expedition musste ich für 66 Tage Essen und Brennstoff dabeihaben. Wenn ich jetzt all dieses Essen – äquivalent zu 576 Tafeln Schokolade – in einen Beutel auf den Schlitten gepackt hätte und losgegangen wäre, dann hätte ich zu keinem Zeitpunkt gewusst, wie viel ich genau essen darf, damit ich bis ans Ziel komme. Dafür musste ich die 576 Tafeln in 66 Portionen aufteilen. Nehmen wir jetzt einmal an, der gesamte Proviant, in einen Sack verpackt, ist mein CO2-Ausstoß pro Jahr, dann fehlt mir hier die Rationierung. Wie oft und wie weit darf ich als Einzelperson fliegen, wie viele Kilometer im Auto fahren, wie viel Fleisch essen, wie lange warm duschen, wie heizen, wie kühlen… Bin ich in der Lage, meinen CO2-Ausstoß runterzubrechen, aufzuteilen und bewusst zu rationieren, dann kann ich besser agieren.
Schneiderbauer: Das lässt mich an den Erdüberlastungstag denken. Für Deutschland wurde er 2023 schon Anfang Mai ausgerufen. Das heißt also, dass Deutschland schon nach vier Monaten alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht hat, mit denen es eigentlich bis zum Jahresende haushalten hätte sollen. Das schockiert erst mal, aber ist viel zu weit weg vom Individuum. Wenn ich als Einzelner da eine Rechenhilfe hätte, wäre das eine feine Sache.
Wenn ich in widrigem Lebensraum unterwegs bin, Antarktis oder Mount Everest, müssen alle Routineentscheidungen vorab geklärt sein.
Anja Blacha
Frau Blacha, auf Ihren Expeditionen bereiten Sie sich monatelang vor. Was ist belastender: die Vorbereitung auf ein Abenteuer oder das Abenteuer selbst?
Blacha: Bei Polarexpeditionen, wo ich von Tag eins auf mich allein gestellt bin, macht die Vorbereitung 80 Prozent aus. Wenn ich an der Startlinie stehe, habe ich noch 20 Prozent vor mir. Es geht also nur noch ums Durchziehen. Vorbereitung ist essenziell. Je besser ich vorbereitet bin, desto einfacher wird die Umsetzung. Weil ich all die repetitiven Entscheidungen nicht mehr vor Ort treffen muss: Ich muss mir nicht überlegen, darf ich jetzt noch mehr essen, muss ich jetzt noch mehr laufen, muss ich jetzt aufstehen, muss ich jetzt eine Pause machen? Wir alle treffen am Tag an die 20-25.000 Entscheidungen. Wenn ich in widrigem Lebensraum unterwegs bin, Antarktis oder Mount Everest, müssen die meisten vorab geklärt sein. Was nicht heißt, dass ich meinen Plan dann eins zu eins so durchziehen muss, aber eine gute Vorbereitung gibt mir Spielraum, auf Unvorhergesehenes richtig zu reagieren und nachzubessern.
Wie sehen Sie das in Bezug auf die Klimakrise, Herr Schneiderbauer? Sind wir vorbereitet?
Schneiderbauer: Wenn ein konkretes Ereignis eintritt, etwa ein Murenabgang, dann hat der Zivilschutz natürlich seine Ablaufprotokolle. Da ist dann, ähnlich wie in einer Expedition, vieles schon im Vorfeld abgecheckt. Wenn alle Abläufe und Handgriffe passen, dann kann man auch stressfrei auf Unvorhergesehenes reagieren, ganz so wie Anja das beschrieben hat. In der Risikoforschung ist es etwas anders. Da wollen wir uns künftig mehr auf Prävention konzentrieren. Was um einiges schwieriger ist, weil Menschen grundsätzlich nicht verstehen, warum sie in etwas investieren sollen, von dem man nicht weiß, wann und wie es kommt. Vielleicht überzeugt sie das Argument, dass Prävention ökonomisch sinnvoller ist als die Reaktion auf eine Katastrophe. Die Kosten für die Folgen der Klimakrise betrugen seit 2000 mindestens 145 Milliarden Euro laut Studie des deutschen Klimaschutzministeriums. Hätten wir vor 20 Jahren mehr in Prävention investiert, hätten wir viele Kosten vermeiden können.
Prävention in der Risikoforschung ist grundsätzlich schwierig, weil Menschen nicht verstehen, warum sie in etwas investieren sollen, von dem man nicht weiß, wann und wie es eintritt.
Stefan Schneiderbauer
Blacha: Prävention ist in ähnlicher Weise bei Bergtouren wichtig, wo ich im Team unterwegs bin. Wenn wir erst einmal auf 8000 Meter sind, kann ich nicht zum ersten Mal ein Gespräch führen über Umkehrzeit, über Verhalten im Falle eines Unfalls – ob wir da alle gemeinsam absteigen oder weitergehen, oder was passiert, wenn das Wetter umschwingt. Wenn wir diese wichtigen Entscheidungen nicht schon im Vorfeld getroffen haben, dann geht das auf 8000 Meter im Summit Fever nicht mehr. Und natürlich ist Verantwortung ein großes Thema. Im Team trägt jeder Verantwortung, Risiken zu benennen und Handlungen anzustoßen.
Herr Schneiderbauer, Sie beschäftigt die Frage: „Wie können wir Resilienz aufbauen, um bestmöglich auf Klimakatastrophen zu reagieren?“. Was macht eine Gesellschaft resilient?
Schneiderbauer: Neben moderner Technologie – etwa ein Frühwarnalgorithmus bei Erdrutschen – zählen auch die soziale Komponente – inwieweit kann ich mich im Ereignisfall auf meine sozialen Netzwerke verlassen? – und die institutionelle Komponente – wie verlässlich ist mein Zivilschutz oder mein Katastrophenschutz darin, mich vor Ereignissen zu warnen? Es ist aber auch eine Frage des Vertrauens – wie sehr vertraue ich meinen Behörden und der Politik, dass sie richtige Entscheidungen treffen?
Haben reiche, technologisch hochentwickelte Länder mehr Chancen, sich anzupassen?
Schneiderbauer: Anpassung an Klimaschutz und Klimawandel ist immer mit Kosten verbunden. Das bedeutet aber nicht, dass reiche Länder auch resilienter sind. Vom ökonomischen her sind sie oft sogar weniger resilient, weil der Schaden, den eine Katastrophe in reichen Ländern verursacht, ungleich größer ist. Es kann viel mehr zerstört werden. Und weil reiche Länder oft auch verlernt haben, naturbasierte Methoden einzusetzen. In Berggebieten sind Menschen viel näher dran an natürlichen Ressourcen und wissen damit umzugehen. Sie haben aber auch ständig mit Naturgefahren zu tun, haben mehr Bewusstsein für Umwelt und Wetter. Sind vielleicht auch innovativer.
Wie viel Innovation steckt in Ihren Expeditionen, Frau Blacha?
Blacha: Für Expeditionen ist Innovation wichtig. Vor 100 Jahren sind Abenteurer mit sibirischen Ponys und gigantisch schweren Holzschlitten durch die Antarktis gezogen. Hat es funktioniert? Ja. War es gut? Nein. Ich schau ständig, was ich verbessern kann. Welche Stellschrauben ich noch drehen kann. Für mich bedeutet Innovation auch, meine persönlichen Superkräfte auszuloten. Menschen, die vor mir solche Expeditionen gemacht haben, waren physisch ganz anders aufgestellt als ich. Würde ich mich mit ihnen vergleichen, könnte ich gleich aufgeben. Dann suche ich nach meinen besonderen Qualitäten, die es mir erlauben, mich denselben Herausforderungen zu stellen. Ich minimiere beispielsweise das Gewicht bei Rucksack und Schlitten, weil es mir an Muskelkraft fehlt. Ich greife auf mein großes Netzwerk zurück, um die Erfahrung anderer zu nutzen.
Wie viel Innovation braucht es im Management einer Klimakatastrophe, Herr Schneiderbauer?
Schneiderbauer: Vor allem in den Bergen reicht es angesichts der Geschwindigkeit des Klimawandels nicht mehr aus, die Standardwege zu gehen. Die Risiken häufen sich, Ereignisse treten in immer kürzeren Abständen ein. Kleine Schritte wie Planen auf den Gletscher legen, damit er nicht abschmilzt, bringen nur kurzfristig und punktuell etwas. Langfristig nachhaltige Veränderung braucht tiefe transformative Prozesse, Ingenieurtechnologien und naturbasierte Technologien. Innovation ist ein absolutes Muss.
Vor allem in den Bergen braucht es angesichts der Geschwindigkeit des Klimawandels tiefe transformative Prozesse, Ingenieurtechnologien und naturbasierte Technologien.
Stefan Schneiderbauer
Wie stärken Sie Ihre Resilienz, Frau Blacha? Wie motivieren Sie sich weiterzumachen, wenn eine Situation ausweglos erscheint?
Blacha: Der amerikanische Schriftsteller Joseph Campell hat den Ausspruch geprägt „follow your bliss“, folge deiner Glückseligkeit, den schönen Momenten im Leben, und alles wird gut. Später hat er ihn korrigiert in „follow your blisters“, denn alles, was sich lohnt, erfordert Arbeit. Die Blasen sind ein Sinnbild für Resilienz, sie sind mein Polster, meine Schutzschicht, die mich vor größeren Verletzungen bewahrt, wenn ich hartnäckig trotz Reibung oder Widerständen weiterhin mein Ziel verfolge. Wenn ich dranbleiben will, dann bin ich auch willens, den Sturm zu meistern, dem Steinschlag auszuweichen, die langen Tage durchzuziehen, die Bürden des Alltags auf mich zu nehmen. Und dann stärke ich meine Resilienz natürlich durch Vorbereitung, Vorbereitung, Vorbereitung und Fokus – auf eine Sache, auf eine oberste Priorität. Wenn ich mich fokussiere, dann mache ich unglaublich viel Kapazität frei.
Wie motivieren Sie sich, Herr Schneiderbauer, wenn Ihnen der Berg an komplexen Aufgaben, die anstehen, unüberwindbar erscheint?
Schneiderbauer: Wenn mir meine Arbeit zu komplex und kompliziert erscheint – ich arbeite ja immer im Spannungsfeld vieler Interessenskonflikte – gehe ich in die Berge. Dann habe ich nur einen Fokus, den Gipfel. Von dort aus habe ich einen schönen Überblick, der mir im Büro ja auch manchmal fehlt. Wenn ich dann mit dieser Energie und Klarheit zurückkomme, lässt sich auch der Büroberg leichter erklimmen.
Anja Blacha
Die Ausdauer- und Extremsportlerin Anja Karen Blacha war als Managerin für große internationale Unternehmen tätig, bevor sie sich ganz auf ihre Expeditionen fokussierte. Sie hält eine Reihe von Rekorden: 2017 bestieg sie als jüngste deutsche Frau den Mount Everest und bezwang als jüngste Deutsche alle Seven Summits. Im Jahr 2019 war sie als erste deutsche Frau auf dem K2. 2020 schaffte sie als erste Frau weltweit eine allein und ohne Fremdhilfe durchgeführte Polar-Expedition von der Küste der Antarktis bis zum Südpol.
Stefan Schneiderbauer
Der Geograf Stefan Schneiderbauer befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit (Klima-) Risikomanagement in Berggebieten. Bei Eurac Research leitet er für die Universität der UNO das Programm GLOMOS, das die Erhaltung und nachhaltige Entwicklung von Berggebieten weltweit unterstützt.
Mountain Innovation Fair 2023
Aufgrund ihrer Abgeschiedenheit, der rauen Umgebung, der Gefährdung durch Naturgefahren, und das wandelnde Klima ist es für die Menschen in Bergebieten seit jeher wichtig, ihre Lebensgrundlagen zu erhalten und sich ständig an ihre Umwelt anzupassen. Laufend werden neue Lösungen entwickelt und umgesetzt. So werden anspruchsvolle Lebensbedingungen zu Innovationsmotoren. Am 24.-25.Oktober 2023 veranstaltete Eurac Research im NOI Techpark die Mountain Innovation Fair 2023. Das Ziel war es, einen interaktiven Arbeitsraum zu schaffen, in dem sich Personen aus der ganzen Welt über Herausforderungen und Erfolge innovativer Ansätze in Berggebieten austauschen können. Die Innovationsmesse wurde vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der United Nation University im Rahmen des UNU-EHS Global Mountain Safeguard Research (GLOMOS) Programms mit finanzieller Unterstützung der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ADC) organisiert.
Mountain Innovation Fair 2023