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Was hält die Europäische Union von Sezessionsbewegungen?

Forderungen nach Unabhängigkeit und die EU-Institutionen sind Thema der diesjährigen Vorlesung über Minderheitenrechte

Christian Hartmann
Credit: Reuters/Contrasto | Christian Hartmann | All rights reserved
by Giovanni Blandino

In den vergangenen zehn Jahren gab es innerhalb der Europäischen Union zwei wichtige Sezessionsversuche, in Schottland und in Katalonien. Beide blieben erfolglos. Doch welche Rolle spielt die Europäische Union bei der Entstehung von Unabhängigkeitsbewegungen? Wie reagierten die europäischen Institutionen, als die Lage sich zuspitzte? Welche Sezessionsbewegungen gibt es in Südtirol, und wie stehen sie zu Europa? Wie würde ein Italexit sich auswirken?

Einige Themen der diesjährigen Vorlesung über Minderheitenrechte nehmen Emanuele Massetti von der Universität Trient sowie Andrea Carlà und Günther Pallaver von Eurac Research im Interview vorweg. Die Vorlesung „Sezessionistische Forderungen in der Europäischen Union“ findet am 5. Februar um 17.30 Uhr in italienischer Sprache am Hauptsitz von Eurac Research statt.

Sprechen wir über Katalonien und Schottland: Hat die EU bei der Entstehung der Forderungen nach Unabhängigkeit in diesen Gebieten eine Rolle gespielt? Es gibt die Meinung, im Grunde hätte erst die EU diese Regionen überhaupt in die Lage versetzt, ernsthaft über eine Unabhängigkeit nachzudenken...

Emanuele Massetti: In der wissenschaftlichen Literatur ist relativ unumstritten, dass der Kontext der Europäischen Union einen Anreiz für Sezessionsbestrebungen darstellte. Das bedeutet nicht, dass dahinter eine politische Absicht steht – es ist hauptsächlich ein Nebeneffekt des europäischen Integrationsprozesses.

Das politische System der EU beruht auf Mitgliedsstaaten. Die Staaten sind unterschiedlich groß und wichtig, doch sie alle haben einen Platz am Verhandlungstisch, können mitentscheiden. Die Sichtbarkeit und Einflussmöglichkeiten eines Mitgliedstaates, wie klein er auch sein mag, sind unvergleichlich größer als die einer Region, die Teil eines Staats ist. Einige Forderungen entstanden aus der Frustration bedeutender Regionen wie Katalonien und Schottland, keine eigene Vertretung am europäischen Tisch zu haben.

In der wissenschaftlichen Literatur ist relativ unumstritten, dass der Kontext der Europäischen Union einen Anreiz für Sezessionsbestrebungen darstellte.

Emanuele Massetti

Ein weiterer Anreiz ist der Erfolg der Europäischen Union: Ihre Mitglieder haben Zugang zu einem enorm wichtigen Markt und genießen geopolitischen Schutz. Damit fallen zwei Probleme weg, mit denen kleine Staaten früher konfrontiert waren – ein kleiner Binnenmarkt und eventuelle Schikanen durch mächtigere Staaten.

Sowohl in Schottland als auch in Katalonien gab es ein Unabhängigkeitsreferendum. 2014 wurde in Schottland mit 55 Prozent für den Verbleib in Großbritannien gestimmt. 2017 folgte in Katalonien auf ein für illegal erklärtes Referendum eine Unabhängigkeitserklärung und eine Krise, die in der spanischen Politik bis heute nachwirkt. Welche Position hat die Europäische Union in diesen Fällen eingenommen?

Massetti: Die Europäische Union hat – zumindest formal – eine neutrale Haltung eingenommen. Sie hat sich an die Verträge gehalten, nach denen interne Verfassungsfragen, angefangen bei der territorialen Integrität, Angelegenheit der Mitgliedstaaten sind.

Diese formale Neutralität bedeutet, dass man sich die Interpretation der Ereignisse zu eigen macht, die die zuständigen Stellen des jeweiligen Staates geben. Man sieht also als legitim oder illegitim an, was die staatlichen Organe so bewerten. Im Falle Großbritanniens war es ein mit der Zentralregierung vereinbartes und also als rechtmäßig angesehenes Referendum, und so wurde es von der Europäischen Union behandelt. Während man auf die einseitige Unabhängigkeitserklärung der katalanischen Regierung nach dem Referendum von 2017 mit deutlicher Ablehnung reagierte.

Die formal neutrale Haltung der EU bedeutet also de facto, dass sie die Staaten unterstützt, die sich sezessionistischen Herausforderungen gegenübersehen; auch wenn es im Fall von Katalonien, insbesondere im Europäischen Parlament, Kritik an der spanischen Regierung gab, weil Bürger, die am Referendum teilnehmen wollten, Repressalien ausgesetzt waren.

Credit: Bob Shand | All rights reserved

Wie sieht es im Hinblick auf sezessionistische Bewegungen in Südtirol aus? Was sind die Unterschiede zu Katalonien und Schottland?

Günther Pallaver: Eine eindeutig sezessionistische Partei ist die Südtiroler Freiheit (STF), die bei den letzten Landtagswahlen im Oktober 2023 ihre Sitze von zwei auf vier verdoppelt hat. Die STF will den Anschluss an Österreich: Das ist ihr vorrangiges Ziel, die Autonomie das zweitrangige.

Die Freiheitlichen gelten als Semi-Autonomiepartei: In erster Linie geht es der Partei um die Autonomie, in zweiter Linie um die Selbstbestimmung. 2012 hat die Partei das Projekt Selbstbestimmung gestartet – Ziel ist ein unabhängiger Staat, der gemeinsam mit allen drei in Südtirol ansässigen Sprachgruppen verwirklicht werden soll.

Die neue Partei von Jürgen Wirth Anderlan (JWA), die anlässlich der Wahlen im Oktober 2023 ins Leben gerufen wurde, ist noch recht hybrid und bewegt sich zwischen Sezession und Autonomie. Der Unterschied zu Schottland und Katalonien besteht darin, dass die Sezessionsparteien in Südtirol keine Mehrheitsparteien sind.

Andrea Carlà: Die Unabhängigkeit ist auch in Teilen der Zivilgesellschaft ein Thema – so hat etwa der Verein Noiland Südtirol – Sudtirolo das Buch „Kann Südtirol Staat?“ herausgegeben, das der Frage nachgeht, ob ein Freistaat Südtirol lebensfähig wäre. In Katalonien gab es vor dem Referendum ähnliche Studien.

Die Unterschiede sind jedoch groß: In Südtirol sind die sezessionistischen Kräfte viel schwächer, marginaler. Außerdem kommt hier noch die Rolle Österreichs hinzu, offiziell die Schutzmacht der deutschsprachigen Minderheit. Es handelt sich also um ein Spiel zu viert: Südtirol, Italien, Österreich und die Europäische Union.

Die Unterschiede zwischen den Sezessionsbewegungen in Südtirol und jenen in Schottland oder Katalonien sind groß: Die sezessionistischen Kräfte sind hier schwächer. Und dann ist da noch die Rolle der Schutzmacht Österreich: Es handelt sich also um ein Spiel zu viert...

Andrea Carlà

Und es gibt noch einen entscheidenden Unterschied: Dem Bruch zwischen Zentrum und Peripherie, wie er in Katalonien und Schottland zu beobachten ist, kommt in Südtirol die Trennung zwischen der italienischen und der deutschen Sprachgruppe in die Quere, die durch das Autonomiestatut institutionalisiert ist. Die Unabhängigkeitsbewegungen wenden sich in Südtirol vor allem an die deutsche Sprachgruppe, während sich die Botschaft beispielsweise in Katalonien auch an einen Nicht-Katalanen richtet.

Gibt es eine offizielle Position der Europäischen Union für den Fall, dass eine Region tatsächlich die Unabhängigkeit erlangt? Wie würden sich die Beziehungen zu dem neuen Staat gestalten? Müsste er sich erst wieder um eine Aufnahme in die EU bewerben?

Massetti: Die Europäische Union hat zu dieser Frage eine gefestigte offizielle Position, von der sie auch unter den Kommissaren Barroso und Juncker – in deren Amtszeit die entscheidenden Momente der schottischen und katalanischen Abspaltungsversuche fielen – nicht abgewichen ist. Ein hypothetischer neuer Staat wäre automatisch nicht mehr Teil der Europäischen Union und müsste einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Und zwar mit allen dazugehörigen Verfahren, einschließlich der einstimmigen Annahme durch die Mitgliedstaaten.

Diese Frage wurde in verschiedenen Erklärungen der EU-Präsidenten angesprochen; insbesondere während der Referendumskampagnen in Schottland und Katalonien griff die EU mit diesem Thema den staatlichen Regierungen unter die Arme. Es wurde immer wieder betont, wie schwierig es für mögliche neue unabhängige Staaten sei, der EU beizutreten, weil die direkt von der Abspaltung betroffenen Mitgliedstaaten ein Veto einlegen könnten.

Sowohl in Schottland als auch in Katalonien sind die Sezessionsbewegungen jedoch im Allgemeinen europafreundlich. Wie genau kennen sie die Positionen der europäischen Institutionen in Fragen der Unabhängigkeit?

Massetti: Mit einigen Unterschieden ist es sicherlich richtig, dass diese Bewegungen grundsätzlich eine pro-europäische Haltung vertreten. Ihre Führer und Parteikader kennen die Positionen der EU-Institutionen in Bezug auf ihr politisches Projekt sehr gut.

Die öffentliche Meinung in Katalonien ist heute weit weniger europafreundlich als vor dem Referendum.

Emanuele Massetti

Häufig geben sie dieses Wissen aber nicht klar an ihre Wähler weiter. Indem sie sie glauben machen, die EU stehe auf ihrer Seite, wollen sie die Unabhängigkeitsidee bei den Wählern stärken; außerdem versuchen sie so Druck auf die EU auszuüben, die sich ungern den Projekten politischer Kräfte entgegenstellt, die sich als entschieden pro-europäisch präsentieren. In Katalonien beispielsweise war die Enttäuschung der Wähler groß, denn die Führer der Unabhängigkeitsbewegung hatten die Position der EU nicht so dargestellt, wie sie diese bei ihrem Kontakt mit Brüssel wahrgenommen haben. Die Folge war eine heftige Gegenreaktion. Die öffentliche Meinung in Katalonien ist heute weit weniger europafreundlich als vor dem Referendum.

Auf jeden Fall sind sich die Führer dieser Parteien bewusst, dass ihr eigentlicher Kontrahent der Staat ist, dem sie angehören, und dass sie daher weiterhin gute Beziehungen zur Europäischen Union pflegen müssen, die ihr einziger potenzieller Verbündeter in dieser Auseinandersetzung ist, auch wenn sie nicht die Unterstützung geleistet hat, die sie sich erhofft hatten.

Sind die Sezessionsbewegungen in Südtirol europafreundlich oder -skeptisch?

Pallaver: Die Südtiroler Freiheit ist sehr EU-kritisch, aber man kann sie nicht als antieuropäische Partei bezeichnen. Die Freiheitlichen sind, wie ihr Pendant in Österreich, die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), Europa gegenüber eher negativ eingestellt, haben aber eine weichere Haltung als die FPÖ. Von Jürgen Wirth Anderlan wissen wir noch nichts über seine politische Position gegenüber der EU, aber da er bei den No-Vax-Demonstrationen in den Reihen der FPÖ aktiv war, könnte man auf seine politische Nähe zur FPÖ auch in diesem Bereich schließen.

In den neunziger Jahren gab es die Vorstellung eines Europa der Regionen, das zur Überwindung des Nationalstaats führen würde. Heute ist dagegen ganz klar, dass die Europäische Union eine Union der Mitgliedstaaten ist.

Andrea Carlà

Carlà: Es gibt eine interessante Studie, die zeigt, wie sezessionistische Parteien ihre Haltung zur Europäischen Union geändert haben – sie sind heute weniger pro-europäisch. Das hängt auch damit zusammen, dass in den 1990er Jahren viel von einem Europa der Regionen die Rede war: Es gab die Vorstellung einer Europäischen Union, die zur Überwindung des Nationalstaats führen würde. Heute ist dagegen ganz klar, dass die Europäische Union eine Union der Mitgliedstaaten ist.

Hat sich für Schottland durch den Brexit etwas geändert?

Massetti: Generell hat sich mit dem Brexit in Großbritannien viel verändert. Die Unterstützung für Sezessionsprozesse hat zugenommen. Vor allem in Wales, aber auch in Nordirland, wo irredentistische Bewegungen, die eine Wiedervereinigung mit Irland anstreben, stärker geworden sind. In Schottland hat sich die Zustimmung für das Projekt Unabhängigkeit weiter gefestigt – offenbar eine Reaktion schottischen Stolzes, denn die Schotten hatten geschlossen für den Verbleib in der Union gestimmt.

Ein Italexit würde den sezessionistischen Parteien Auftrieb geben. Sie würden fragen: Wenn Italien aus der EU austreten kann, warum sollen wir nicht auch aus Italien austreten können?

Günther Pallaver

Nun aber, außerhalb der Europäischen Union, wird das schottische Unabhängigkeitsprojekt sehr viel problematischer. Schottland müsste eine drastische Entscheidung treffen: Will man wieder in den europäischen Markt eintreten oder lieber die Verbindung mit dem englischen Markt aufrechterhalten, der für Schottland der wichtigste ist?

Was würde dagegen ein "Italexit" für die Sezessionsbewegungen in Südtirol bedeuten?

Pallaver: Ein Italexit würde den sezessionistischen Parteien Auftrieb geben. Sie würden fragen: Wenn Italien aus der EU austreten kann, warum sollen wir nicht auch aus Italien austreten können?

Carlà: Es wäre eine typische Schocksituation, die die Karten neu mischt. Ein Italexit könnte das Projekt Sezession zum Beispiel auch für italienischsprachige Südtiroler attraktiver machen.

Massetti: Ein Austritt aus der Europäischen Union schafft Anreize für Irredentismus, also für den Anschluss an einen anderen Staat, der in der Union verblieben ist: Wie schon angesprochen gewinnt in Nordirland die Idee, sich Irland anzuschließen, an Zuspruch. Überträgt man diese Situation auf einen hypothetischen Italexit, mit einer plötzlich wieder wichtigen Grenze zwischen Italien und Österreich, würde die Südtirol-Frage sich trotz der weitreichenden Autonomie neu stellen, und der Wunsch, nach Österreich zurückzukehren, würde eventuell stärker.

Emanuele Massetti

Emanuele Massetti ist außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für Internationale Studien der Universität Trient, wo er in verschiedenen Kursen im Rahmen des Masterstudiengangs Europäische und Internationale Studien unterrichtet. 2021 veröffentlichte er „Il Regno Unito alla prova della Brexit " (mit G. Baldini und E. Bressanelli, Il Mulino, 2021). Sein neuestes Buch ist " L’Unione Europea e le sfide secessioniste " (Il Mulino, 2023).

Andrea Carlà

Andrea Carlà ist Forscher am Institut für Minderheitenrecht bei Eurac Research. Zuvor war er Gastwissenschaftler am Centre for Research on International Politics and Conflict Resolution der Stiftung Bruno Kessler (Fbk-CeRPIC) in Trient und lehrte an der University of Dayton, USA. In seiner Forschung untersucht er die Wechselwirkung zwischen ethnischer Politik/Minderheitenschutz, Migrationsstudien und Sicherheitsfragen, wobei er sich insbesondere auf die Konzepte (De-)Securitisation und menschliche Sicherheit und ihre Anwendung auf Minderheitenfragen konzentriert.

Günther Pallaver

Günther Pallaver ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck und Senior Researcher am Institut für Vergleichende Föderalismusforschung von Eurac Research. Er ist Mitglied der italienischen Journalistenkammer und Präsident der Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft | politika. Zu seinen Forschungsgebieten gehören: der Vergleich politischer Systeme, politische Kommunikation, Föderalismus, ethnische Minderheiten und (ethno-)regionale Parteien.

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