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Fühlt sich ein Linguist in der Welt der Sprachen daheim?

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Fühlt sich ein Linguist in der Welt der Sprachen daheim?
Die Stadt: ein Ort der Beständigkeit und des Wandels.Credit: unsplash.com | Philippe | All rights reserved

Manche meinen, Linguistinnen können viele Sprachen sprechen oder zumindest verstehen, und haben immer eine Antwort auf jegliche Fragen rund um Sprachen, sprachliche Zweifelsfälle, grammatische Probleme, Rechtschreibung etc. Andere hingegen vermuten genau das Gegenteil: Linguistinnen sind zur Sprachwissenschaft gekommen, weil sie selbst sprachliche Probleme haben, aber eigentlich fühlen sie sich gar nicht so wohl damit. Wie ist denn nun das Verhältnis zwischen Linguistinnen und ihrem Forschungsgegenstand?

Neulich las ich in dem autofiktionalen Roman Friedinger des Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Stefan Kutzenberger folgenden Satz: „Schriftsteller sagen gerne, ihre Heimat sei die Literatur, die Sprache.“ Das klingt gut, dachte ich mir. Das könnte doch auch im Allgemeinen auf Linguisten und Linguistinnen zutreffen.

Im Roman fällt dieser Satz, als der autofiktive Kutzenberger nach langer Zeit einmal wieder seine Heimatstadt Linz besucht und diese etwas enttäuscht zwar als Ort seiner Jugend wiedererkennt, aber auch Veränderungen realisiert, die ihm missfallen und die durch seine lange Abwesenheit (er lebt mittlerweile in Wien) und der dadurch entstandenen Distanz zu den alten Orten besonders sichtbar werden. Da der Heimatort in Kutzenbergers Empfindung durch diese enttäuschende Rückkehr seinen Status als Heimat verloren hat, versucht er eine alternative Heimat zu lokalisieren, und zwar zunächst in der Sprache.

Kutzenberger wird jedoch wieder jäh enttäuscht, als er ein Heimatgefühl in der Sprache vor Ort, also in Linz, sucht. Wie die Stadt selbst, hat sich nämlich auch die Alltagssprache der Menschen auf der Straße verändert:

„Aber das Linzerisch, das ich von den Jugendlichen mit den sie entstellenden Frisuren hörte, hatte nichts mit mir zu tun […]. Habe ich als Schüler auch so gesprochen? In Wien kam es mir manchmal vor, als redete ich noch Oberösterreichisch, doch verglichen mit den stammelnden Lauten um mich herum sprach ich wie ein Burgschauspieler. Das war nicht meine Heimat.“ (Friedinger, S. 193)

Und da er seine Heimat nicht in der Sprache seiner Heimatstadt findet, sucht Kutzenberger sie weiter in der Sprache seiner Familienangehörigen. Doch auch da wird er wieder enttäuscht:

„Meine Muttersprache, Indonesisch, konnte ich nicht. Meine Vatersprache, den Dialekt des Grenzgebiets zwischen Inn- und Hausruckviertel, auch nicht. […] Meine eigenen Kinder redeten erstaunlicherweise ein Deutsch, als wären sie in Kassel aufgewachsen, eine Sprache, die auch all ihre Klassenkolleginnen sprachen, die also wohl dem Wienerischen ihrer Generation entsprach. Auch da keine Möglichkeit, eine Heimat zu finden.“ (Friedinger, S. 193)

Schließlich schwenkt Kutzenbergers Sinnieren von der Alltagssprache der Menschen um ihn herum zur Literatur hinüber, wo sich endlich doch ein Gefühl der Geborgenheit und Vertrautheit einzustellen vermag:

„Als ich vor kurzem wieder einmal die Großmeister Argentiniens las, Bücher, an denen ich als Student gehangen war wie Andersgläubige an der Bibel, war das ein warmes Gefühl des Heimkommens, eine wohlige Vertrautheit, die ich in dieser Intensität selten davor gefühlt habe.“ (Friedinger, S. 193)

Die literarische Sprache gibt Kutzenberger etwas, was die Alltagssprache ihm nicht geben kann – ein Gefühl der Heimat.

In diesen kurzen Roman-Ausschnitten wird vieles angesprochen, was Linguistinnen und Linguisten vertraut und vielleicht auch viel stärker bewusst ist als dem Kutzenberger aus dem Roman. Gegenstand meiner täglichen Arbeit als Sprachforscher sind Veränderungen im Sprachgebrauch der Menschen, also genau das, was Kutzenberger (und viele andere Menschen) so verstört, als er bei seiner Rückkehr in seine alte Heimatstadt Linz so geballt damit konfrontiert wird. Sprache wandelt sich ständig im alltäglichen Gebrauch durch ihre SprecherInnen im Kontakt mit anderen Menschen, in einer Gesellschaft bzw. einer Welt, die sich fortlaufend verändert. Oft bleibt dieser Wandel unbemerkt, bis man ihn aus einiger Distanz betrachtet. Manchmal wird dieser Wandel kritisiert und angeprangert. Für uns LinguistInnen ist Wandel nichts Ungewöhnliches, sondern ein spannender Teil unserer Arbeit. Wo der Romanheld keine Heimat findet, fühlen wir uns wohl.

Selbstverständlich kann ich mich auch sehr gut in die Figur Kutzenberger hineinversetzen (wer kennt die oben beschriebene Enttäuschung nicht?!). Dennoch gilt: Trotz aller Veränderung der Welt finden wir in vielen Orten Beständigkeit und Vertrautheit – zum Beispiel in einem Buch, wie Kutzenberger feststellt. Und wer sich in der Welt erfolgloser WissenschaftlerInnen daheim fühlt, dem kann ich Kutzenbergers Romane wärmstens empfehlen!

Aivars Glaznieks

Aivars Glaznieks

Sprachwissenschaftler, den es über München nach Südtirol verschlagen hat. Sprachlich fühlt er sich zwar noch immer eher in Süddeutschland daheim, aber dafür studiert er eifrig die sprachlichen Besonderheiten Südtirols.

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Citation

https://doi.org/10.57708/bmjm6fexyrrmr2s1c9wbyma
Glaznieks, A. Fühlt sich ein Linguist in der Welt der Sprachen daheim? https://doi.org/10.57708/BMJM6FEXYRRMR2S1C9WBYMA
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